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Die hohe Kunst des Weglassens

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Endlich erreichten wir den Ausgangspunkt unserer Flugreise mit Pegasos. Auf dem Boden verstreut lagen die Bücher, die mir als Aufsteighilfe gedient hatten. Ich hob sie vorsichtig auf, murmelte eine leise Entschuldigung und schob sie dann zurück an ihre Plätze in den Regalen.

Beatrice half mir dabei. Sie wirkte immer noch etwas entrückt. Ich konnte es ihr nicht verübeln.

„Was meinte Kalliope damit“, fragte sie unvermittelt, „dass ich verfremden solle?“

„In Ihnen, liebe Beatrice, steckt eine Geschichte, die geschrieben werden muss. Das wissen Sie, das weiß ich. Alle Bücher um uns herum wissen dies. Und auch Kalliope hat es gespürt.

Ich weiß nicht, wovon die Geschichte handeln wird. Aber ein großer Teil von dem, was Ihre Persönlichkeit ausmacht, wird in diese Geschichte einfließen. Sie können sich noch so sehr davor sträuben; Sie werden über sich selbst schreiben … Das ist nicht leicht.“

Auf dem Boden lag der Faden, der uns von hier aus sicher zurückgeleiten würde. Ich nahm ihn wieder auf.

„Verfremden macht es für den Schriftsteller leichter über sich selbst zu erzählen. Ihre Geschichte muss nicht von Beatrice Liber erzählen. Sie muss nicht von einer Buchhändlerin erzählen, die keine Zeit hatte ihre Trauer hinter sich zu lassen, weil sie sich um ihren ständig betrunkenen Mann kümmern musste …“

„Das reicht“, unterbrach mich Beatrice. Zorn brandete mir entgegen. „Das geht Sie nichts an.“

„Nein“, bestätigte ich. „Mich geht das wirklich nichts an. Das geht die Buchhändlerin Frau Liber etwas an. Und wenn eine Schriftstellerin über Frau Liber schreiben möchte, muss sie nicht mal den Namen von Frau Liber erwähnen. Sie muss nichts von Alkohol oder einem toten Kind berichten. Nur ihre Gefühle und Erfahrungen muss sie einbringen.“

Noch bevor ich meinen letzten Satz gesprochen hatte, klatschte es. Meine Wange brannte. Ich hatte es vermutlich verdient. Doch wenigstens war es ausgesprochen worden. Wenngleich ich mich dabei nicht besonders geschickt angestellt hatte.

„Ich wollte Ihnen erklären, was Kalliope gesagt hat“, rechtfertigte ich mich. Doch meine Bea hatte mir bereits den Rücken zugekehrt und den Weg fortgesetzt. Weinte sie?

Also weiter. Dem Ausgang entgegen. Wo hatte ich nur meinen Stock gelassen? Und wieso kam der Schmerz so plötzlich wieder? Meine Schritte wurden mehr und mehr zu einem Hinken. Aber ich versuchte erst gar nicht, Beatrice zu einer kleinen Lesepause zu bewegen.

Als uns das Buchland endlich wieder ausspuckte und wir mein Antiquariat wieder betraten, schien der Mond kühl durch das Fenster. Keuchend und mit verzerrtem Gesicht, ließ ich mich in meinen Sessel fallen. Mit geschlossenen Augen erwartete ich, dass sich gleich mit einem wütenden Scheppern die Ladentür hinter Beatrice schließen würde.

Ich befand mich im Irrtum. Sie hatte wieder einen ihrer sagenhaften Stimmungswechsel hinbekommen. „Herr Plana?“, sagte sie in einem bemüht neutralen Tonfall, „Haben Sie eine Schreibmaschine für mich?“

„Eine Schreibmaschine?“

„Ich habe doch gesagt, dass ich Ideen habe. Wenn ich noch lange mit dem Schreiben warten muss, wird mir wohl der Schädel platzen.“

Um mich herum setzte das Wispern ein. Leise und dennoch tosend brandeten Abertausende von Worten auf mich ein. Aufgeregt. Erwartungsvoll. Drängend.

„Was ist das?“ Beatrice legte den Kopf schief. Sie lauschte. Also hörte sie es inzwischen auch! Vielleicht nicht so deutlich wie ich. Aber sie hörte es. Ist es möglich, dass in ihr auch das Stückchen eines Auktorals lag?

Für den Moment war es egal. Es galt den Zauber des Augenblicks einzufangen. Ich rappelte mich auf, eilte so schnell es mir möglich war, zu dem Maschinentelegraphen. Noch bevor ich den Schalter überhaupt berühren konnte, stellte er sich wie von Geisterhand selbst in die Position „iNet“. Schon öffnete sich der Boden und meine Internetmaschine entfaltete sich. Da war kaum ein Klappern, kein Rattern oder Ächzen. Die Apparatur hob sich aus ihrer Versenkung, als hätte sie es besonders eilig.

Bildschirm und Tastatur, mehr brauchte es jetzt gar nicht. Doch die Maschine wollte heute mehr sein. Neben all den mir bereits bekannten Utensilien, Peripherien und Antrieben, fuhren immer mehr Bauteile empor. Ich erkannte allein vier verschiedene Druckwalzen, zahlreiche Matrix- und Typendruckräder, eine Thermotransfer-Presse, einen Roboterarm mit eingespanntem Pinsel und einen Bleistifthalter inklusive automatischem Spitzer.

Neben der Schreibmaschinentastatur entdeckte ich eine Käseglocke, die ich auch als neu einstufte. Als ich den Deckel hob, entdeckte ich eine kleine weiße Maus, die zufrieden an einem Stück Gouda nagte. Ihr rosafarbenes Schwänzchen war auf unbestimmbare Weise mit der Maschine verbunden, was das Tier jedoch nicht im Geringsten zu stören schien.

Beatrice nahm das alles nicht wahr. Sie blendete wieder alles aus, was für sie nicht wichtig war. Dort waren eine Tastatur und ein Monitor, hier waren ihr übervoller Kopf und ihre Hände. Sie zog meinen Stuhl heran, setzte sich und begann endlich zu schreiben.

Eine Weile schaute ich Beatrice zu. Ihre Finger tanzten geradezu über die Tasten. Ohne, dass ich den Sinn des Geschriebenen mit meinem Geist erfasste, genoss ich die Tatsache, dass hier Gedanken aus dem Nichts eine Gestalt bekamen. Es wirkte geradezu hypnotisch auf mich.

Doch schließlich riss ich mich von dem Anblick los. Meine Taschenuhr verriet mir, dass der Morgen begonnen hatte. Wir hatten tatsächlich die Nacht durchgemacht. Flüchtig dachte ich aufgrund dieser Tatsache an Ingo. Ob er das Ausbleiben seiner Frau bemerkt hatte? Oder stand er seit getaner Arbeit abwartend neben dem Herd?

Ich legte diese Fragen beiseite. In zwei Stunden musste ich den Laden wieder aufmachen. Vielleicht sollte ich mich vorher etwas frisch machen. Ein Kaffee würde gewiss auch nicht schaden.

„Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Sie kurz allein lasse?“

Als Antwort erhielt ich von Beatrice ein unartikuliertes Grunzen.

„Vermutlich nicht“, deutete ich und erklomm alsdann die Treppe in das obere Stockwerk.

„Ich habe doch auch keine Ahnung, wovon sie schreibt!“ Meine Worte wurden von dem Papier in meinem Wohnzimmer geradezu geschluckt. Die Bücher, die die Wände zierten, verharrten reglos und stumm, so wie sie es für gewöhnlich immer taten. Und dennoch wirkten sie auf unbestimmbare Weise unruhig, unstet, ungeduldig. Das Flüstern in meinen Ohren geriet zu einem Wortbrei; trotzdem verstand ich.

„Seht es als positives Zeichen an. Sie schreibt jetzt seit vierzehn Stunden ohne Unterlass. Weder gegessen noch getrunken hat sie. Und … eine Notdurft hat sie auch noch nicht verrichtet. Es muss ihr also wichtig sein, was sie dort schreibt. Den Laden hab ich ganz allein geschmissen. Es war wieder richtig viel zu …“

Ich lauschte.

„Seid ihr euch sicher?“

Das waren keine guten Neuigkeiten.

So schnell es mir möglich war, eilte ich nach unten. Schon auf der obersten Stufe hörte ich das Surren des Druckers. Ein großer Stapel Blätter lag im Ausgabefach. Das Manuskript war also zu einem Ende geführt und wurde von der Apparatur gedruckt. Noch war nichts verloren!

„Sie sind fertig?“ Beatrice saß noch immer auf dem Stuhl. Mit müden, geröteten Augen las sie die Buchstaben auf dem Monitor.

„Ich habe verfremdet“, erklärte sie. Es klang matt. Es klang unzufrieden. Es klang vorwurfsvoll. „Alles rausgelassen habe ich. Das wollte Kalliope doch.“

Vorsichtig nickte ich. Mir war, als wäre ich ein Wanderer, den es versehentlich auf die viel zu dünne Eisfläche eines zugeschneiten Sees verschlagen hatte. Jede Bewegung konnte falsch sein. „Es ist leichter über sich zu schreiben, wenn man sich dabei niemandem offenbart.“

„Ich habe von einem Mann geschrieben.“

„Ein guter Schritt.“

„Er heißt Frank.“

„Ein allgemein üblicher Name“, stellte ich fest.

„Er ist auch kein Buchhändler. Ein anderer Beruf. Und andere Probleme. Sein Kind ist nicht gestorben. Ich dachte mir, dass es ähnlich schmerzen muss, wenn man jemanden verliert, den man von Herzen zu lieben gelernt hat.“

Eine leise Ahnung beschlich mich, pflanzte mir einen unangenehmen Kloß in den Hals. Konnte das sein?

Beatrice sprach leise weiter. „Er hat alles verloren. Seine Arbeit, sein Haus, seine Familie. Zum Schluss gibt er auf und versucht einen Neuanfang in einer anderen Stadt.“

Sollte ich tatsächlich fragen, ob dieser Protagonist Haare schneidet? Sie hatte Frank nie kennengelernt und ich hatte es auch nie für nötig gehalten, ihr von meinem Nachbarn zu erzählen.

„Was geht hier vor?“ Meine Frage war nicht an Beatrice gerichtet.

„Ich habe gerade das erste Kapitel, von dem, was ich geschrieben habe, durchgelesen … es ist Schrott.“

„Ist das nicht ein bisschen hart?“, wollte ich wissen. Betont gleichgültig näherte ich mich dem Fach, in dem sich die Ausdrucke stapelten. Dabei streckte ich die Hand aus, in der Hoffnung, dass ich mir das Skript nehmen konnte. Beatrice war schneller. Sie nahm es und hielt es sich hinter ihren Rücken, um es vor mir zu verbergen.

„Es ist Schrott. Ich … wollte mich darin einbringen. Aber ich erkenne mich darin nicht wieder. Darin liegt keine …“ Sie scheute sich davor, es auszusprechen. „… Seele.“ Sie ging zum Maschinentelegraphen, drückte den Hebel. „Wenn ich jetzt in den Keller gehe, werden dort die Leseratten und die Würmer auf mich warten?“

Ich war gewarnt. „Bitte, vernichten Sie diesen Erstling nicht. Sie würden es später bereuen“, flehte ich. „Lassen Sie es mich wenigstens erst lesen. Sie sind vollkommen übermüdet. In Ihrem Zustand sollte man keine Entscheidungen treffen, die man nicht mehr rückgängig machen kann.“ Gerade schloss sich das Parkett. In wenigen Sekunden würde der Weg in den Keller frei sein. Und ich konnte in Beas Augen lesen, dass sie immer noch die Absicht hatte, das Buch über Frank zu vernichten.

Neben der Sorge, dass Beatrice im Begriff war, etwas Kostbares zu zerstören, beschlich mich auch die Angst um Frank. Wenn seine Geschichte wirklich auf diesen Seiten niedergeschrieben war und wenn die Ratten … Eigentlich war dieser Gedankengang ein Ding der Unmöglichkeit. Doch das Buchland war in den letzten Tagen um so vieles mächtiger geworden. Konnte es sein, dass die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion tatsächlich soweit verwischen? Würde ein Friseur in München einfach aufhören zu existieren, wenn Ungeziefer seine Geschichte in meinem Keller auffraß?

Noch eine andere Frage drängte sich mir auf. Existierte die Geschichte, weil Frank existierte oder war es genau umgekehrt? An einen Zufall mochte ich in diesem Fall einfach nicht glauben.

„Bitte“, wiederholte ich beinahe wimmernd, „lassen Sie es mich lesen.“

Beatrice legte ihre Hand auf die Türklinke.

„Schlafen Sie erst mal drüber …“

Langsam drückte sie die Klinke herunter. Verzweifelt suchte ich nach den rechten Worten, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen.

„Denken Sie an Ingo.“

Sie hielt inne.

„Er wartet zu Hause auf Sie. Seit vorgestern haben Sie sich nicht mehr um ihn gekümmert.“

Beatrice ließ die Klinke los.

„Das war knapp“, stellte ich fest. Meine Stirn presste ich gegen das kühle Glas der Ladentür. Kopfweh bereicherte nun das Konzert der Schmerzen in mir. Beatrice stand draußen an der Bushaltestelle, gedankenverloren, in sich selbst versunken. Als der Bus kam, um sie zu Ingo und seiner Kladde zu bringen, dachte ich darüber nach, was ich nun tatsächlich von dem, was ich mir vorgenommen, erreicht hatte.

In Bezug auf die Beeinflussung von Ingos Leben hatte Beatrice während unserer letzten Reise nichts gelernt. Diesbezüglich war dieses Abenteuer absolut wertlos. Vermutlich schrieb sie gleich wieder minutiös und Schritt für Schritt auf, was Ingo zu tun hatte.

Dafür konnte ich einen anderen Erfolg verbuchen. Kalliope sei Dank, hatte Beatrice den Mut aufgebracht, zu schreiben. Auch wenn sie mit dem Ergebnis nicht zufrieden war, war dies ohne Zweifel als Fortschritt zu verbuchen.

„Es wird knapp“, sagte eine Stimme hinter mir. Ich fuhr erschrocken herum. Aus dem Dunkel des unbeleuchteten Raumes trat Tod hervor. Das Erscheinungsbild eines Buchhalters hatte er abgelegt. Gekleidet in eine dunkelgraue Kutte, entsprach er nun dem mittelalterlichen Bild. „Die zwölf Wochen sind bald um. Ingos Zeit läuft ab.“

„Beatrice hat sein Lebensbuch. Du weißt nicht, was geschrieben steht.“ Ich krächzte beinahe unverständlich. Warum nur packte mich dermaßen die Furcht? Doch mein Protest blieb nicht ungehört.

„In jeder guten Buchführung gibt es einen Durchschlag. Das verhindert Betrug.“ Tod grinste. „Beatrice kann Ingos Leben beeinflussen. Aber das hat sie immer schon getan. Ganz im Vertrauen: Dazu braucht sie das Buch nicht. Allerdings lasse ich um die Anzahl der Tage keinen Zweifel aufkommen. Auf dieser Welt wird in die Waagschale des Lebens nur so viel gelegt, wie es meine Bücher zulassen.“

Der Tod kam zu mir, legte die Hände auf meine Schultern. Sie wogen so schwer wie tausend Schicksale. „Ich habe es dir schon einmal gesagt: Ich werde dein Buch suchen, wenn ich Ingos Buch nicht zurückbekomme.“ Es hörte sich wie eine Drohung und ebenso wie eine bloße Feststellung an.

Ich raffte mein letztes Stück Selbstachtung zusammen, mühte mich, nicht vor Angst und Pein in Tränen auszubrechen. „Das heißt, Ingos Ende steht nicht fest?“

„Würdest du für diesen Säufer sterben wollen? Würdest du nur einen deiner Tage an ihn abtreten? Würdest du eine Stunde von deiner Waagschale nehmen, um sein Tara etwas auszugleichen? Würdest du das tun?“

Für Ingo? Ich schüttelte den Kopf. Tod lachte. Noch schlimmer: Er lachte mich aus.

Und ich … Ich brach unter der Last seiner Hände zusammen. Wimmernd lag ich am Boden, ergab mich der Panik, die in mir kochte. Wogen des Schmerzes tosten wie ein aufgepeitschtes, stürmisches Meer in mir, raubten mir den Verstand und die Sinne.

Fühlte sich so das Sterben an?

Etwas Warmes, das mir feucht und weich über die Wange glitt, weckte mich aus meiner Bewusstlosigkeit. Ich lag noch immer auf dem Boden im Laden. Beatrice kniete neben mir und tupfte vorsichtig mit einem feuchten Handtuch über meine Stirn. „Gottlob!“, flüsterte sie. „Ich dachte schon, Sie wären tot.“

Der neue Tag begrüßte mich auf ungewöhnliche Weise, doch wenigstens schien die Sonne warm durch das Schaufenster.

Besorgt versuchte Beatrice mich aufzurichten. „Was ist passiert?“

Von meinem Besucher wollte ich ihr nichts erzählen. „Ein Schwächeanfall“, erklärte ich.

„Soll ich Ihnen etwas vorlesen?“ Beatrice wusste, wie sie mich wieder aufpäppeln konnte.

„Das wäre nett. Denn eigentlich hatte ich mir vorgenommen, Ihr Manuskript zu lesen. Bin leider nicht dazu gekommen. Aber zuerst“, sagte ich, „brauche ich einen Kaffee.“

Wir lasen den ganzen Tag, nur unterbrochen von der gelegentlichen Kundschaft. Da das erste schöne Wetter in diesem Monat die Menschen in die Parks lockte, hielt sich der Betrieb in einem Buchgeschäft in engen Grenzen.

Ich saß im Ohrensessel und lauschte, während Beatrice mir Einblicke in Franks Alltag gab, die ich bis dato noch nicht gekannt hatte. Inzwischen war für mich jeder Zweifel ausgeräumt: Solch einen Frank gab es nur einmal. Beatrice hatte ohne es zu wissen, den Roman zu einer realen Person verfasst.

Schließlich legte Beatrice die letzte Seite auf den Stapel. Erwartungsvoll schaute sie mich an. „Schrott, nicht wahr?“

Nein, das war es nicht. Es war … nicht wirklich gut. Aber es war auch nicht schlecht. Wie sollte ich es ihr erklären? Vielleicht mit dem, was ich schon nach dem Essen bei Ingo hatte sagen wollen.

Ich legte die Fingerspitzen aneinander. „Legen Sie Franks Geschichte zur Seite. Verwenden Sie sie zu einem späteren Zeitpunkt. Sie ist kein Schrott. Doch das, was Sie da erzählen, kann man auf wenige Seiten reduzieren. Das Auslassen von Geschehnissen ist eine Kunst für sich. In einer Geschichte sollte man dem Leser Lücken lassen, damit er sie mit seiner Phantasie auffüllen kann. Eine gute Geschichte erzählt nicht alles. Die Protagonisten befüllen ihre Leben selbst. Beatrice, Sie können viel davon auslassen und zwischen den Zeilen erzählen.“

„Soll ich daraus eine Kurzgeschichte machen?“

„Hm. Eigentlich mag ich keine Kurzgeschichten“, stellte ich mürrisch fest. „Sie sind nichts Halbes und nichts Ganzes. Junkfood für den Kopf. Aber wie wäre es, wenn Sie Franks Geschichte in ein anderes – in ein größeres – Buchprojekt einfließen lassen? Es könnte ein kleiner Handlungsstrang werden, der eine größere Geschichte ergänzt und bereichert. Viele großartige Romane erzählen gleich mehrere Geschichten. Das ist für einen Anfänger nicht leicht. Aber mit ein wenig Übung und …“ Jetzt erlaubte ich mir eine kleine Eitelkeit. „… mit Unterstützung von mir, dürfte es für Sie machbar sein.“

„Ich erzähle zuviel?“ Beatrice ließ den Gedanken auf sich wirken.

Nickend bestätigte ich. „Es ist so. Kein Mensch möchte in einem Buch lesen, wie ein Menü zusammengestellt wird. Die einzelnen Handgriffe beim Kochen sind nicht von Wichtigkeit. Anstatt ein Kochbuch abzuschreiben, hätte es genügt, zu erwähnen, dass Ingo ein köstliches orientalisches Abendessen gemacht hat.“ Meine Überleitung zu Ingo glänzte nicht durch besondere Redegewandtheit.

Beatrice störte mein rhetorischer Holzhammer anscheinend nicht. „Wenn ich also nicht so viel in Ingos Buch hineinschreibe, dann kann ich eigentlich viel mehr erzählen?“

„Genau. Obendrein wird er durch mehr schriftstellerische Freiheit wieder mehr zu dem, was er einst war. Befreien Sie seinen Charakter aus diesem viel zu engen Korsett aus Wörtern.“

„Er würde selbstständig essen.“

„Ja“, sagte ich munter. „Nicht nur das.“ Sie hatte verstanden, worauf ich hinauswollte.

Doch Beatrice legte nach. Die Traurigkeit in ihrer Stimme gab dem nächsten Satz erst seine besondere Bedeutung. „Er würde selbstständig trinken.“

Alkohol. Sie hatte Angst, dass Ingo mit dem kleinsten Stückchen Autonomie direkt wieder in seine Sucht verfallen musste. Ein nachvollziehbarer Gedankengang.

„Ich habe nie behauptet, dass das Schreiben leicht ist“, erklärte ich.

Mark Twain hätte mir in Bezug auf das Schreiben an dieser Stelle vermutlich schmunzelnd widersprochen: „Schreiben ist leicht. Man muss nur die falschen Wörter weglassen.“

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