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Das Buch der letzten Wahrheit

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Als Ingo endlich eintraf, fiel Beatrice ihm um den Hals, küsste und drückte ihn. Mit tausend geflüsterten Liebesbekundungen ließ sie ihrer Sorge um ihn freien Lauf. „Gott sei Dank. Du bist heil angekommen.“

Mit glasigen, entrückten Augen lächelte Ingo seine Frau dümmlich an. Er wirkte lange nicht so gepflegt wie bei unserem Abendessen. Stoppelbart, ungekämmtes Haar und die Kleidung vom Vortag erweckten alles in allem den Eindruck, als habe Beatrice ihre Aufgabe mit seinem Buch nur unzureichend erfüllt. Eine Marionette, die zu lange in der Mottenkiste gelegen hatte. Kummervoll nahm sie seine Teilnahmslosigkeit wahr, versuchte durch eine innige Umarmung und ihren damit verbundenen Gefühlen, einen Ausgleich ihrerseits zu erzwingen.

Seine Kladde lag, für den Augenblick ohne weitere Beachtung, auf dem Sekretär. Der Bleistift lag wie ein unförmiges Lesezeichen in der aktuellen Seite.

Ich humpelte dorthin, öffnete es, las die letzten Zeilen, die sie geschrieben hatte. Wie unmissverständlich und detailgenau sie sein Kommen geschrieben hatte. Jetzt stand Ingo da und wartete wie ein verstandloser Computer auf den nächsten Befehl.

Liebe Bea, dachte ich, wenn du ihm keine Gelegenheit mehr gibst, etwas Falsches zu tun, dann kann er auch nichts mehr richtig machen. Dann vergewisserte ich mich mit einem hastigen Blick über die Schulter, ob ich unbeobachtet war. Beatrice umklammerte immer noch ihren Mann, der artig alles über sich ergehen ließ. Seine Arme hingen dabei schlaff herunter. Den Bleistift in der zittrigen Hand, stellte ich fest, dass es mich tatsächlich große Überwindung kostete, das Folgende zu tun. Ich schrieb: „Ingo findet zu sich selbst.“ Und er tat es.

Auf eine undefinierbare Art fiel die Lethargie von ihm ab. Ein Blinzeln, ein Stöhnen. Da bewegten sich seine Hände, seine Arme, erwiderten die Umarmung, hoben Beatrice in enger, herzlicher Umklammerung einige Zentimeter hoch. Sie drehten sich dabei. Ihre Blicke trafen sich, verloren sich ineinander und die beiden vergaßen die Welt um sie herum.

Der Anblick kostete mich eine Träne. Ich vergoß sie nicht aus Freude. Meine Bea. Ihr Glück in Ingos Armen schmerzte mich an einer Stelle, die ich bislang nicht kannte. „Alter Mann“, schalt ich mich erneut, legte den Bleistift ab, schlug das Büchlein zu und zog mich für eine kleine Weile in die erste Etage zurück.

Leise klopfte es schließlich an meine Wohnungstür. Wir, Bea und ich, befanden uns beide nun in einem wesentlich aufgeräumteren Zustand. Ich, weil ich gerade Zuflucht in einem Buch gefunden hatte; Bea, weil Ingo hinter ihr stand und zärtlich ihre Hüften umfasste.

„Ich habe ihm alles erklärt“, sagte Beatrice. „Ich habe ihm auch seine Kladde gezeigt.“

Das war mutig, musste ich zugeben. Dafür machte Ingo einen recht gefassten, ja geradezu gelassenen Eindruck. Ob er wirklich begriffen hatte, was hier vorging? Vermutlich nicht. Aber für tiefenpsychologische Analysen blieb keine Zeit mehr. Es drängte, dass wir endlich in den Keller kamen.

„Wir sollten aufbrechen“, ertönte es zu unserem Erstaunen plötzlich. Ingo war es, dem dieser Satz über die Lippen gekommen war. Vollkommen perplex beobachteten Beatrice und ich, wie dieser Mann zum aktiven Teil unserer Komödie wurde und energischen Schritts voranging.

Ich beugte mich an Beatrice’ Ohr. „Was haben Sie mit ihm angestellt?“

Beatrice gab sich empört. „Ich? Seitdem Sie eigenmächtig in das Buch hineingeschrieben haben …“ Sie hatte meine Intervention also schon entdeckt. „… habe ich nicht mehr hineingeschrieben. Alles, was er gerade tut, geht auf Ihre Verantwortung.“

Wir folgten Ingo die Stufen hinab zurück ins Arbeitszimmer. Dabei grübelte ich kurz, ob ich tatsächlich für das, was Ingo in seiner Selbstständigkeit tat, die Verantwortung trug. Trägt ein Gefängniswärter die Verantwortung für einen entlassenen Sträfling?

Nun, weder Beatrice noch Ingo wirkten unglücklich. Ungeachtet meiner Indiskretion hatte ich vermutlich ein gutes Werk vollbracht.

Frohen Mutes schritten wir in den Keller. Der Bücherwagen im Eingangsbereich erwartete uns. Darauf war ein einzelnes, in schwarzes Leder eingebundenes Buch. Es war größer als die Ladefläche, stand an den Seiten mindestens vierzig Zentimeter über. Noch beeindruckender war der Umfang: Ich schätzte es auf mindestens zweitausend Seiten. „Da war ein begnadeter Buchbinder am Werk“, entfuhr es mir.

Der Buchdeckel hatte einen kunstvollen Rahmen als Blindprägung. In der Mitte befand sich der vergoldete Schriftzug „Register Pla-Plz“.

„Wenigstens müssen wir Ihr Buch nicht aufs Geratewohl suchen“, sagte Ingo energisch. Schon griff er nach dem Deckel, um ihn zu öffnen. Es war seltsam, diese Person so entschlossen handeln zu sehen. Weder hielt er sich mit dem wundersamen Anblick des Kellers auf, noch hinterfragte er die Tatsache, dass das benötigte Register aus dem Nichts heraus für uns bereitstand. Das verschaffte mir ein erhebliches Unbehagen.

Wild blätterte er drauflos, befeuchtete in dieser allgemein verbreiteten Unart ständig seinen Zeigefinger an der Zunge, damit die Seiten besser an seinen Fingern hafteten. „Hier, auf Seite 57! Plana. Artikel 19081972 Westflügel in Reihe 3101, Regal 2012.“

Beatrice warf mir einen fragenden Blick zu. „Ist das weit?“

Ich rechnete. „Etwa zwölf Kilometer. Das könnten wir in drei Stunden schaffen.“

„Dann nichts wie los“, kommandierte Ingo, packte die verdutzte Beatrice bei der Hand und zog sie nach rechts. Ich blieb wartend zurück.

Kurz bevor Ingo in die erste Regalreihe einbog, drehte er sich erstaunt zu mir um. „Worauf warten Sie?“

Ich deutete in die entgegengesetzte Richtung. „Wir müssen da lang.“

Beatrice, die sich schon ein wenig hier unten auskannte, überlegte kurz. Ihr Fluchtweg fort von Tod musste ihr noch lebhaft in Erinnerung sein. „Wir müssen nicht zu den Biografien?“

„Seltsamerweise nicht. Die Regalreihen im Westflügel sind für die phantastische Literatur reserviert …“ Ich zögerte. „… um genau zu sein befindet sich mein Buch offensichtlich in der Märchenabteilung.“

„Kein Wunder, dass Tod es nicht findet. Er wird nicht gerade dort nach Lebensgeschichten suchen“, analysierte Beatrice.

„Verwunderlich, dass ein Buchhalter den Umgang mit Registern nicht kennt“, sagte ich leise, an mich selbst gewandt. „Aber vermutlich haben meine Freunde ihm nicht die Register auf einem Wagen geliefert.“

„Am besten“, bestimmte Ingo, „gehen Sie vor, bevor ich mich mit meiner Unkenntnis hier unten nochmal blamiere.“ Er lächelte schief. Unter anderen Umständen hätte ich dies als Entschuldigung aufgefasst. Unter anderen Umständen hätte ich Ingo sogar sympathisch gefunden. Aber unter diesen Umständen … Er hielt meine Beatrice im Arm als gehöre sie ihm.

Wir machten uns auf in Richtung Westen. Die Gänge zwischen den Regalen waren hier besonders eng. Dicht an dicht drängten sich die Bücher auf den Brettern. Immer wieder hörten wir qualvoll das Holz ächzen, das sich unter dem Druck und der Last bog. An manchen Stellen wurden sie von den nachrückenden Büchern nach vorne gepresst. Sie quollen buchstäblich hervor. Hin und wieder erreichten wir Orte, an denen einige Paperbacks den Kampf gegen die Artgenossen verloren hatten und zu Boden gestürzt waren.

Der Weg wurde immer mühsamer. Manchmal blieben nur wenige Zentimeter als Durchgang. „Nichts für Klaustrophobiker“, ächzte Ingo, während er sich zwischen zwei besonders eng stehenden Regalen hindurchzwängte.

„Welcher Stümper baut hier eigentlich die Regale? So arbeitet doch kein vernünftiger Mensch.“ Beatrice’ Beschwerde wurde vom Papier regelrecht aufgesogen.

Mir lag auf der Zunge „Hey, das ist eine Art Magie“ zu sagen. Aber ein Filmzitat empfand ich als unpassend. Also entschied ich mich dafür, es mit Michael Endes Worten zu formulieren: „Das ist eine andere Geschichte. Und soll ein andermal erzählt werden.“

Es roch überall nach Papier und altem Holz. Der Staub, den wir mit jeder Bewegung aufwirbelten, fraß sich unangenehm in Nase und Hals. Schon bald schmerzte jeder Atemzug. Mir begann die Zeit lang zu werden, denn um meine Kondition war es immer noch nicht gut bestellt.

Immer häufiger müsste ich mich an den Regalen abstützen und schlurfte mit bleischweren Füßen über den steinernen Boden.

Plötzlich strauchelte ich und ich wäre wohl sehr übel gestürzt, wenn mich nicht ein beherzter Griff unter den Arm aufgefangen hätte. Ingo hielt mich.

„Ich glaube, dass ich lieber Sie in den Arm nehmen sollte“, scherzte er, ließ Beatrice los und hakte sich stattdessen bei mir stützend ein.

„Keine Bange“, sagte Beatrice, „ich bin gut zu Fuß.“

„Ich hätte meinen Stock mitnehmen sollen“, stellte ich zerknirscht fest. Doch es blieb mir nichts anderes übrig, als Ingos Hilfe anzunehmen.

Unvermittelt traten wir durch einen besonders engen Durchgang hinaus auf einen hell erleuchteten Platz. Er wirkte wie eine Lichtung, die jeder Wanderer im Märchen unverhofft im finstersten Wald anzutreffen pflegt. Doch anstatt eines Lebkuchenhauses stand in der Mitte der Freifläche unter einem monströsen Leuchter ein Schrein. Drei Bücher waren darauf arrangiert. Hinter dem Schrein ragte eine Säule empor, die ganz allein den hiesigen Teil der Gewölbedecke zu tragen schien.

Ingo pfiff durch die Zähne, denn er hatte den Boden in Augenschein genommen. Güldene Fliesen, sauber und blankpoliert, bildeten einen unübersehbaren Kontrast zu der Wegstrecke, die hinter uns lag. In jeder Kachel waren kunstvoll Motive eingraviert. Elben, Orks, Drachen, Könige … und Hobbits. Sie blickten uns zwischen fremd anmutenden Kalligraphien entgegen.

Die Wände wurden durch Kopfenden von Buchregalen gebildet. Sterförmig führten die Wege dazwischen in alle Richtungen fort.

„Der Gral der phantastischen Literatur“, stellte ich fest. „Dies ist einer der zentralen Räume hier im Westteil.“

„Imposant“, kommentierte Ingo. Der Gute schien mir zu Untertreibungen zu neigen.

Beatrice erwies sich als pragmatischer. „Ich denke, dass wir hier eine kleine Rast einlegen sollten. Was halten Sie davon, wenn wir hier eine kleine Lesung abhalten würden?“

Dankbar nickte ich. Dann ließ ich mich mit knackenden Gelenken auf dem Boden nieder, lehnte mich an ein Regal und schloss kurz die Augen. Ich hörte, dass Beatrice wieder mit den Fingern über die Buchrücken glitt und auf dieses Weise nach geeigneter Lektüre suchte. Welche Wahl würde sie treffen, so nah bei den Werken von Tolkien? Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie mit einem Christopher Paolini oder einem Markus Heitz in der Hand zurückgekommen wäre. So nah an dieser Halle gab es eigentlich nicht viel Abwechslung. Doch sie überraschte mich schließlich mit Marion Zimmer Bradley. Sie hielt mir das Hardcover vor mein Gesicht. „Die Nebel von Avalon?“, fragte sie.

„Das wird helfen.“

Ingo setzte sich neben mich und tastete geistesabwesend seine Jacke ab. In seiner Brusttasche fand er schließlich, was er suchte. Er zog einen Flachmann hervor, schraubte den Verschluss auf und … hielt inne. Alle Blicke ruhten auf ihm. Weder ich noch Beatrice wagten zu atmen. Ingo setzte ein entschuldigendes Lächeln auf. „Dumme Angewohnheit“, flüsterte er verlegen, schraubte die metallene Flasche hastig wieder zu und steckte sie zurück an ihren Platz in der Jacke.

Beatrice seufzte erleichtert. Doch ich registrierte auch die Tatsache, dass Ingo den Flachmann äußerst sorgsam verstaute. Ich fragte: „Angewohnheit?“ Er neigte wirklich dazu, zu untertreiben.

Eine peinliche Lücke entstand, die Beatrice schließlich beendete, indem sie einige Seiten vorlas.

Während ihre Worte durch die Luft schwebten und den Nebeln Gestalt gaben, zollte ich meiner Müdigkeit Tribut. Ich merkte nicht, dass ich hinwegdämmerte, fand mich jedoch irgendwann an König Artus Hof wieder.

Mein Kinn berührte die Brust. Meine Hände ruhten in meinem Schoß. So wachte ich auf. Allein.

Zuerst dachte ich, dass Beatrice und Ingo den Weg ohne mich fortgesetzt hatten. Doch dann sah ich sie. Einige Schritte von mir entfernt lehnten sie im Halbdunkel eines Regals.

„Das ist also mein Buch?“ Ingo hielt die Kladde unschlüssig in den Händen. Er wagte es nicht, darin zu blättern. Stattdessen reichte er es zurück an Beatrice. Sie nahm es entgegen und steckte es zurück in ihre Tasche. Dann lehnte sie ihren Kopf an seine Schulter. „Es ist ziemlich dünn“, stellte er fest. Seine Stimme klang brüchig. Ich konnte nicht erkennen, ob er weinte.

„In den letzten Monaten hast du nicht viel erlebt“, erklärte Beatrice.

„Doch“, widersprach er leise, „meine eigenes kleines Fegefeuer.“ Dann machte er eine kleine Pause. Seine Hand wanderte zu der harten Ausbeulung in seiner Jacke, tätschelte das Metall unter dem Stoff, als ob die bloße Anwesenheit des Alkohols ihm für den Augenblick Sicherheit geben würde. „Aber vielleicht kann man mit dem, was man dort erlebt keine Lebensbücher füllen.“

„Ich habe dich da raus geholt, dein Schicksal ausradiert und umgeschrieben. … An wie viel erinnerst du dich noch?“ Beatrice flüsterte. Manchmal wagte man auf dem Weg zur Wahrheit nicht laut zu sprechen.

„Man sollte jemanden, der zu vergessen versucht, nicht danach fragen, an wie viel er sich erinnert.“ Dieser Satz hätte von mir sein können, dachte ich. So ein Gedankengang konnte kaum von Ingo stammen.

Sie schwiegen eine Weile miteinander, lauschten der Stille, in der Papier jeden Ton zu verschlucken schien. Schließlich beantwortete Ingo doch noch die Frage: „Die letzten Tage sind sehr vage. Ich habe nur blasse Erinnerungen. Es fühlt sich nicht wie was Eigenes an. … Ich kann kochen und Cocktails mixen?“

„Das habe ich in dein Buch geschrieben.“

Ingo dachte darüber nach. Dann rückte er ein Stück von ihr ab. „War dir das wichtig?“

„Entschuldigung.“

„Schon gut.“ Ingo stand auf und klopfte sich den Staub von der Hose. „Wer weiß, was ich an deiner Stelle mit mir gemacht hätte. Und ich war vermutlich wirklich gut.“

„Nicht nur beim Kochen.“ Beatrice erlaubte sich ein Lächeln, das Ingo aber nicht mit ihr teilen wollte. Schon vergaßen ihre Augen das Glück und der Kummer holte sie ein. Er verschwand zwischen den Regalen und kurz darauf hörte ich das Kratzen eines Schraubverschlusses.

Nachdem ich mit einem Husten zu erkennen gegeben hatte, dass ich aufgewacht war, verließen wir die Lichtung, begaben uns wieder zwischen die Regale. Ingos dargebotenen Arm ignorierte ich und kämpfte mich verbissen Meter um Meter weiter. Ich würde die restlich Strecke bestimmt auch ohne seine Hilfe schaffen.

Eine halbe Stunde später erreichten wir einen Wegweiser. Er stand inmitten einer Kreuzung. Ein schmiedeeiserner Pfahl, an dessen Kopfende in reich verzierten Rahmen Holzpfeile in die vier Himmelsrichtungen deuteten. Der Pfeil, der zu uns zeigte, hatte die sinnige Aufschrift „Zurück“. Der entgegengesetzte Pfeil wies nach „Weiter“. Nach rechts ging es nach „Norden“. Der Pfeil, der somit südwärts wies, trug nur drei Buchstaben: „BEA“

„Welch subtiler Hinweis“, stellte ich fest. „Ich glaube, da wünscht jemand, dass Sie einen kleinen Abstecher machen.“

Beatrice schluckte. „Ich?“

Ich hob meinen Arm in einer einladenden Geste. „Eindeutiger kann es kaum sein.“

Ingo schob sich zwischen uns, als würde er Beatrice vor mir beschützen wollen. „Beatrice wird hier unten nirgendwo allein hingehen.“

„Hier unten gibt es nichts, was Beatrice fürchten muss“, sagte ich mit Nachdruck. Dann verbesserte ich mich: „Zumindest gibt es nichts, wovor Sie sie bewahren könnten.“

Ingo streckte sich zu seiner vollen Größe, plusterte sich förmlich auf. Es war ihm anzusehen, dass Beatrice seine Statur in den vergangenen Tagen durch den einen oder anderen Eintrag in sein Buch verbessert hatte. Ließ er tatsächlich seine Muskeln spielen?

„Lass gut sein.“ Beatrice strich ihm besänftigend über den Arm. „Herr Plana kann nichts für dieses Schild. Und die Botschaft ist unmissverständlich.“

„Du willst doch nicht …“ Ingo wirkte entsetzt.

„Doch“, sagte Beatrice. „Die Bücher werden mir nichts tun.“

„Nein“, bestätigte ich, „sie brauchen Sie.“

Beatrice ließ keinen weiteren Einwand Ingos zu, machte auf dem Absatz kehrt und lief in die angegebene Richtung. Hinter ihr schoben sich die Regale wie eine Schiebetür zusammen, verweigerten mir und Ingo denselben Weg.

Allerdings stand nur einige Schritte entfernt eine Bibliotheksleiter. Ihre Füße ruhten auf Rollen und die Holme lehnten in einer Führungsschiene. Ich zählte die Sprossen: Zehn. Zwanzig. Dreißig. Viele. Verdammt viele. Doch die Alternative war Unwissenheit. Ich kletterte nach oben und verfluchte dabei lautstark meine Gebrechlichkeit.

Was auch immer die Bücher ihr mitzuteilen gedachten, musste von äußerster Dringlichkeit sein. Ich wollte wissen, was das war und nahm den qualvollen Aufstieg dafür in Kauf.

Als ich endlich die oberste Sprosse erklommen hatte, hievte ich mich auf das flache Dach des Regals. Erschöpft blieb ich auf dem Rücken liegen und hoffte, dass meine Kräfte zurückkehren würden. Kurz nach mir erreichte auch Ingo diesen ungewöhnlichen Ort, stellte sich neben mich und bot mir seine Hand. Widerwillig ließ ich mir von ihm aufhelfen.

Der Ausblick unterband jegliches Gespräch, machte uns sprachlos.

Die Regale vor uns schienen alle in Bewegung zu sein. Ein langsamer Tanz. Sie schoben und drängten sich, glitten wieder auseinander, kreisten unstet um einen beweglichen Punkt in dessen Mittelpunkt Beatrice zielstrebig voranschritt.

Plötzlich blieb sie stehen.

Plötzlich blieb alles stehen.

Der Boden vor ihr teilte sich. Gras kam zum Vorschein. Die Bücher und die Regale verschmolzen miteinander, pressten sich zu hohen Säulen zusammen. Rinde bildete sich darauf, Äste schossen hervor. Blätter trieben aus. Leuchtend grün und saftig. Auch das Deckengewölbe öffnete sich über ihr. Der Himmel verdrängte den Stein.

Vögel zwitscherten. Die Luft roch nach Sommerregen und frisch gesägtem Holz.

Ich gestattete mir einen Blick über die Schulter. Doch hinter mir lag unverändert das Buchland mit seiner dunklen kathedralenartigen Bibliothekslandschaft. Links und rechts von uns erstreckte sich das Regal, auf dem Ingo und ich standen. Und vor uns verschmolz die Realität mit einer anderen, wie eine Fata Morgana mit dem Wüstensand.

Vor Beatrice stand nun ein Pult. Schweres Eichenholz mit kostbar gearbeiteten Intarsien. Auf dessen Tischfläche lag ein aufgeschlagenes Buch. Die Seiten schienen zu leuchten. So hell, dass man die Augen zusammenkneifen musste. Auf dem Papier strahlte die Sonne an einem unschuldig blauen Himmel. Vereinzelt trieben kleine Wolken dahin. Das war kein Gemälde. Das war kein Foto. Das war, als könne man hineingreifen.

Beatrice hob den Kopf. Die Welt um sie herum hatte sich just in diesem Moment invertiert, ins Gegenteil verkehrt. Das Blau des Himmels über ihr war einem matten Weiß gewichen. Darauf standen unzählige Buchstaben in einem Fließtext. Die Textspalten reihten sich aneinander, vom höchsten Punkt, bis zum Horizont. Der Boden, das Pult und die Bäume: alles ergraute in der diffusen Mischung aus weißem Papier und Druckerschwärze. Nur das Buch zeigte noch seine kräftigen Farben und verriet, wie die Realität auszusehen vermochte, während seine Seiten in einem unspürbaren Wind leicht auf und ab wippten.

Vorsichtig griff Beatrice nach dem Buch und schlug es zu. Kein Titel, kein Autor. Nichts deutete auf den Inhalt hin. Also schlug sie es wieder auf. Die erste Seite war ein schlichtes Deckblatt. Beatrice blätterte um. Zwei Sätze in großen Lettern prangten dort.

Beatrice las. Sie las laut. So laut, dass auch ich sie hören konnte.

„Die Realität steht geschrieben. Das Geschriebene ist Realität.“

Buchland

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