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Von Lehrlingen und anderen Zauberern
ОглавлениеDie Sonne des folgenden Tages streichelte sacht das alte Holz meines Sekretärs. Geschenkpapier, Schleifenband, Klebefilm und eine überdimensionale Schere lagen auf der Arbeitsfläche verstreut. Inmitten dieses kleinen Chaos thronte mein Werk: Mein Geschenk für Beatrice.
„Ich bin fertig“, sagte ich in den Raum hinein. „Jetzt fehlt nur noch unsere Mitarbeiterin.“
Ein kurzer Blick auf meine Taschenuhr verriet mir, dass es gleich neun schlagen würde. Ich stand auf und machte mich auf den Weg nach vorne. Schon öffnete sich die Ladentür und Beatrice stand dort, genau so, wie sie es am Tage ihres Vorstellungsgespräches getan hatte. Unsicher und unscheinbar. Die Schultern hingen herunter. Ihr angespanntes Lächeln sprach Bände.
„Da bin ich …“ Sie wollte sicherlich erklären, warum sie wieder da war. Vielleicht wollte sie sich entschuldigen oder aber Bedingungen stellen. Doch ich hob die Hand. Weder von dem einen noch von dem anderen wollte ich hören.
Stattdessen hielt ich ihr das Paket entgegen. „Für Sie. Dafür, dass Sie sich richtig entschieden haben.“
Verwundert nahm sie das Geschenk entgegen. Sie drehte es, machte jedoch keine Anstalten, das Papier zu entfernen.
„Nun los“, drängte ich sie, „packen Sie es aus.“
Sie wog es prüfend in der Hand. „Ist es ein Buch?“
„Nein“, sagte ich, „noch nicht. Es … ist etwas Ähnliches. Speziell für Sie.“
Sie zog misstrauisch eine Augenbraue hoch. Dann packte sie es endlich aus.
„Handgeschöpftes Papier von Hand gebunden. Zusammengefasst in einer Kladde“, schwärmte ich. „Zum Schreiben ist es eigentlich nicht geeignet. Aber es trägt die Seele von sehr vielen Büchern in sich. Altpapier, Sie verstehen? Am besten schreiben Sie mit einem Bleistift darauf. Ich …“
„Schreiben?“
Ich lächelte hoffnungsvoll und bevor sie ihren alten Protest wieder formulieren konnte, sagte ich: „An die Arbeit. Es gibt viel zu tun. Heute wollte sich ein junger Schöngeist bei uns vorstellen. Ein Autor. Nach eigener Behauptung ein aufstrebendes Talent! Er würde gerne eine Lesung bei uns halten. Ich möchte, dass Sie meinen Arbeitsraum auf Vordermann bringen, damit ich nachher unseren Gast entsprechend begrüßen kann.“
„Wie heißt denn der Autor?“
„Richard Roe.“
„Nie gehört.“
Ich zog die Stirn kraus. „Tja, da geht es Ihnen wie mir, liebe Beatrice. Dabei dachte ich, dass ich alles kenne, was unter den Büchern umher kreucht und fleucht. Gerade das macht mich neugierig.“
„Ein Autor ohne Buch?“ Bea lachte. Wie schön dies doch nach dem gestrigen Tag anzusehen war.
Ich ließ mich davon anstecken. „Ja. Wie es scheint. Das dürfte doch gewiss interessant werden.“
Während Beatrice arbeitete, widmete ich mich einer neuen Lektüre. Heute stand mir der Sinn nach einer Ballade. „Walle, walle“, flüsterte ich leise, als ich mir eine Ausgabe letzter Hand aus meinem Fundus im Wandregal zog.
Nach meiner kurzen Lektüre fasste ich einen Entschluss. „Wissen Sie, Beatrice“, sagte ich, „ich könnte mir vorstellen, dass wir diesen Nachmittag für Herrn Roe auch interessanter gestalten könnten. Was halten Sie davon, wenn ich meinen Freund Wolfgang einlade?“
„Ihren Freund Wolfgang? Muss ich den kennen?“
Ein Schmunzeln konnte ich mir nicht verkneifen. „Ich denke schon. Er ist selbst ein Mensch äußerst schöngeistiger Natur. Wenn er nicht weiß, was in Punkto Literatur taugt, dann weiß es vermutlich niemand in unserem Lande.“
Beas Neugier war geweckt. „Ist er ein Rezensent?“
„Meine Güte“, entfuhr es mir, „bei Leibe nicht! Ganz im Gegenteil. Von ihm stammte der Vorschlag, dass man alle Rezensenten totschlagen solle.“
„Scheint mir ein recht resoluter Zeitgenosse zu sein.“
Ich griff in die oberste Schublade des Sekretärs, nahm mir Federkiel und das beste Papier und schrieb einige Sätze. Nachdem die Tinte getrocknet war, faltete ich das Blatt sorgsam zusammen. Dann entzündete ich eine Kerze, nahm mir den roten Siegelwachs, den ich über der kleinen Flamme erhitzte und ließ ein paar Tropfen auf das Blatt fallen. Zum Schluss drückte ich meinen Siegelring darauf und notierte den Adressaten. Beatrice schaute mir bei dem Procedere aufmerksam zu.
Ich reichte ihr den Brief. „Draußen, auf der Straße, spielen sicherlich ein paar Knaben. Drücken sie einem von ihnen einen Euro und diesen Schrieb in die Hand.“
„Sie glauben, dass das dann ankommt?“
„Ich weiß es.“
Als Herr Roe am Nachmittag den Laden betrat, schwante mir bereits Schreckliches. Dieser junge, in jeder Beziehung kleine Mann, wollte mehr darstellen, als er tatsächlich war. Ein langer schwarzer Mantel und ein noch längerer grell roter Schal, zierten eine blasse und viel zu dürre Erscheinung. Roe erinnerte an eine Heuschrecke, die sich in Tweed gekleidet hatte. Weiß behandschuhte Finger lugten unter den langen Ärmeln hervor, ballten und streckten sich unruhig.
Beim Anblick Roes beschlich mich der Gedanke, dass meine Idee Wolfgang einzuladen, vielleicht nicht die richtige gewesen war. Aber das ließ sich jetzt nicht mehr ändern. Ihn jetzt noch auszuladen, wäre grob unhöflich gewesen.
„Guten Tag, Herr Plana. Hier haben Sie aber ein lauschiges Plätzchen. Eine schöne Location für eine Lesung.“ Die leicht affektierte Aussprache machte mir Roe nicht unbedingt sympathischer. Dennoch streckte ich ihm meine Hand zum Gruße entgegen. Er ergriff sie. Mir war, als hielte ich einen toten Hering. „Mal sehen, ob ich hier lesen möchte“, fügte er noch hinzu.
Es war wohl Zeit, ihm ein wenig den Wind aus den Segeln zu nehmen. „Mal sehen, ob ich Sie hier lesen lasse, Herr Roe. Meine Location steht normalerweise nicht für solche Veranstaltungen zur Verfügung. Haben Sie Ihr Buch mitgebracht?“
Roe griff in seine Manteltasche und zog ein E-Book-Lesegerät hervor. Dabei ignorierte er meinen angewiderten Blick. Kein Buch. Deshalb wusste ich also nichts über ihn und sein Werk.
„Ich bin ‚Selfpublisher‘.“ Lag da wirklich Stolz in seiner Stimme? „Wer braucht in der heutigen Zeit schon Verlage?“
„Selbstveröffentlicher?“ Ich wählte mit vollster Absicht die Übersetzung des Fachbegriffs. „Wie möchten Sie denn in meinem Hause Ihrem Publikum etwas verkaufen?“
„Ich gebe dem Publikum den Downloadlink.“
„Sie machen was?“
Kicherte Beatrice hinter mir?
In diesem Augenblick öffnete sich abermals die Tür. Welch imposante Erscheinung Wolfgang doch war! Auch wenn sein Outfit nicht gerade als zeitgemäß zu bezeichnen war. Gekleidet mit Rock, Weste und Kniehose stand dieser ältere Herr aufrecht da. Seine weiße Krawatte unterstrich den modischen Chic einer längst vergangenen Epoche.
„Mein lieber Freund“, rief ich, „was freue ich mich, Euch zu sehen.“
„Die Freude liegt ganz auf meiner Seite. Sagt: Was habt ihr für mich? Ein neues Buch, das es zu lesen gilt?“ Wolfgang schaute in die Runde. Als er Beatrice erblickte, schritt er auf sie zu und griff galant nach ihrer Hand, um darauf einen Kuss anzudeuten. Einem Automatismus folgend, deutete Beatrice einen Knicks an. Sie selbst war wohl am meisten über ihr Verhalten erstaunt. Aber die besondere Magie meines Antiquariats färbte manchmal auf wunderbare Weise auf Anwesende ab.
„Ah, ich sehe“, sagte Wolfgang verzückt, „Ihr wollt mir eine Dame der kreativen Künste vorstellen.“
Beatrice schüttelte den Kopf. „Ich arbeite hier nur.“
„Ich erkenne doch noch einen talentierten Kopf, wenn ich ihn sehe. Ihr seid gewiss die von Kalliope Geküsste.“
Roe räusperte sich. Es lief ihm offensichtlich zuwider, dass er nicht im Mittelpunkt weilte.
Es oblag nun mir, die Aufmerksamkeit auf den Autoren zu lenken. „Darf ich Euch Herrn Roe vorstellen? Er möchte uns heute sein aktuelles Werk vorstellen. Es würde mich freuen, wenn ich Eure geschätzte Meinung zu seiner …“ Ich zögerte beinahe unmerklich. „… Publikation einholen dürfte.“
„Ah“, sagte Johann, „eine Publikation! Ein Buch?“
„Etwas Ähnliches“, stellte Roe pikiert fest.
Ich bot Wolfgang den Platz im Ohrensessel an. Für Beatrice und Roe hatte ich Klappstühle bereitgestellt. Ich selbst setzte mich wieder an den Sekretär.
Die nächste halbe Stunde, das muss ich leider zugeben, war für alle Beteiligten eine Qual. Zum einen, weil Roe ein vollkommen untalentierter Vorleser war. Zum anderen, weil das, was er vorlas beinahe Absatz für Absatz von Wolfgang kommentiert wurde. Diese Zwischenbemerkungen waren nicht nur fachmännisch, sondern auch außerordentlich zynisch. Denn Roes Werk ließ sich kaum als Literatur bezeichnen. Sein Versuch, eine Geschichte über einen jungen Zauberer zu verfassen, hätte man bestenfalls als lausiges Plagiat bezeichnen können.
„Welcher Verleger hat Euch angeraten an die Öffentlichkeit zu treten?“, fragte Wolfgang schließlich. „Welcher Lektor hat sich an diesem Schriftstück vertan?“
Roe schnappte nach Luft. „Ich bin Künstler! Ich lasse mich nicht von der Meinung eines Verlegers gleichschalten und profillos schleifen. Mit meinen Texten muss ich nicht mehr warten, bis ich die Erwartungen eines Zielpublikums erfülle. Meinen Stil kann ich frei entfalten.“
Wolfgang schlug die Beine übereinander, legte seine Hände auf die Knie und beugte sich fast angriffslustig vor. „Reden wir hier wirklich schon von Stil? Solltet Ihr dann nicht zunächst erst mal das Schreiben erlernt haben?“
„Ich muss mich nicht Ihren Ansprüchen beugen“, fauchte Roe. Einige Speicheltropfen flogen durch den Raum.
Wolfgang zuckte mit den Schultern. „Es geht nicht darum, welche Ansprüche ich an Euch stelle. Es geht hier um die Ansprüche, die man gemeinhin an Kunst und Literatur stellt.“
Roe sprang auf. Der Klappstuhl fiel hinter ihm zusammen. „Kunst lebt von der Freiheit und der Vielfalt. Ich muss nicht schreiben, wie es Regeln diktieren!“
„Wer Regeln brechen will“, erklärte Wolfgang, „sollte sie zuvor kennen und beherrschen. Ihr könnt mir glauben, dass ich zu meinen Sturm und Drang Zeiten mit so mancher Konvention gebrochen habe. Aber Genius begründet sich in Können. Schreiben ist nicht Kreativität allein. Es ist auch ein sehr großes Stück Handwerk, das es zu erlernen gilt.“
„Ich bin doch kein Schreiner“, empörte sich Roe.
Beatrice stand unauffällig auf. Ich beobachtete, wie sie leise zum Garderobenhaken ging, den Mantel abhing und die weißen Handschuhe bereitlegte. Vorrausschauend, die Gute.
Wolfgang schien die Eskalation des Gesprächs zu genießen. „Ihr seid kein Schreiner? Wenn ich Euch raten darf: Werdet Schreiner! So wie Ihr es versteht, Dinge zusammenzuschustern, dürfte das Hämmern und Klopfen die rechte Tätigkeit für Euch sein. Aber tut den Wörtern künftig keine Gewalt mehr an.“
Ich machte mir nicht die Mühe, die Situation zu beschwichtigen. Im Grunde teilte ich die Meinung Wolfgangs. Es war nicht meine Art, mich aus falscher Höflichkeit zu verstellen. Roe hastete schon dem Ausgang entgegen, schnappte sich ungeduldig seine Kleidungsstücke, die ihm Beatrice reichte und verschwand alsdann aus meiner … Location.
Wolfgang erhob sich. Doch er suchte kein Gespräch mit mir. Vielmehr wandte er sich, wie ich es insgeheim erhofft hatte, Beatrice zu. „Bekomme ich jetzt ein wenig von Euren Worten zu hören, meine Liebe?“
Beatrice schaute mich hilfesuchend an.
„Ich schreibe nicht, Herr – ähm.“ Auch wenn sie bestimmt schon seinen vollständigen Namen erraten hatte, scheute sie sich, ihn laut auszusprechen. Und Wolfgang erlaubte sich, ihren Satz zu komplettieren. „Goethe. Wir sind uns in der Tat nicht korrekt vorgestellt worden. Johann Wolfgang von Goethe. Es freut mich, Euch kennenzulernen.“ Dabei deutete er eine Verbeugung an. „Es würde mich freuen, wenn ich von Euch zu einem späteren Zeitpunkt vielleicht doch noch etwas zu hören oder zu lesen erhalte.“
„Das war Goethe“, stellte Beatrice fest, als wir wieder alleine waren.
Ich schmunzelte. „Wenn Sie seinen Worten Glauben schenken.“
„Das war Goethe“, wiederholte Bea. „Und neulich, das war Poe. Es wird Zeit, dass Sie mir endlich verraten, was hier gespielt wird.“ Ihre Stimme zitterte nicht. Keine Spur von Panik. Es war nicht so wie vorgestern im Keller. Sie hatte sich tatsächlich im Griff.
„Eine gute Geschichte bewahrt sich einige Geheimnisse. Erwarten Sie von mir keine Erklärungen, wie der spezielle Zauber des Buchlands wirkt.“
„Was meinen Sie denn immer mit ‚Buchland‘?“
Ich hob beschwichtigend die Hand. „Setzen wir uns. Dann erkläre ich es Ihnen ganz der Reihe nach.“
Also setzten wir uns und ich erklärte ihr alles der Reihe nach. „Dieses Antiquariat ist nicht wie andere Antiquariate“, begann ich.
„Das kann ich mir inzwischen denken“, kommentierte Beatrice. „Immerhin haben wir dort unten einen scheinbar unendlichen Keller. Und die Besucher sind auch nicht das, was man alltäglich zu Gesicht bekommt.“
„In der Tat. Das liegt ein wenig an mir. Sie haben mich neulich gefragt, wer oder was ich bin. Haben Sie diesbezüglich schon einige Vermutungen angestellt?“
„Vermutungen?“ Sie seufzte freudlos. „Natürlich. Aber würde ich sie Ihnen verraten, dann hielten Sie mich für verrückt.“
Ich griff in ein Seitenfach meines Sekretärs. Meine Pfeife und ein guter Tabak waren jetzt genau das Richtige. „Denken Sie? Nun gut: Überraschen Sie mich. Ich verspreche auch, dass ich Sie nicht auslachen werde.“
Beatrice schüttelte den Kopf. „Wir befinden uns hier ja nicht in einem Märchen. Meine Vermutungen taugen nur für Fantasyromane.“
Ich öffnete den kleinen Beutel, nahm vorsichtig etwas Tabak heraus und befüllte den Kopf bis zur Hälfte. Dann nahm ich den Pfeifenstopfer und …
„Wächter der Bücher“, schoss es aus Beatrice heraus. „Sie sind der Wächter der Bücher.“
„Sowas wie ein Buchhirte?“ Meine Frage war ruhig und sachlich gestellt. Meine Tonlage sollte ehrliches Interesse widerspiegeln. „Eine inspirierende – ja sogar romantische – Vorstellung. Aber nein. Bücher brauchen niemanden, der auf sie aufpasst. Manchmal, so scheint es, brauchen eher die Leser jemanden, der sie vor den Büchern bewahrt. So manche dumme Idee hat die Leute befallen, nachdem sie über anderer Leute Kämpfe und ihre Manifeste gelesen haben.
Bücher bewachen, nein, das ist wirklich nicht meine Aufgabe. Ich bin nur jemand, der weiß, was in Büchern geschieht. Außerdem weiß ich, was in Büchern geschehen ist. Und ich weiß, was in Büchern geschehen wird. Ich bin ein Auktoral. “
Wieder nahm ich etwas Tabak, befüllte die Pfeife und stopfte ausgiebig nach.
„Das Buchland im Keller unter uns ist unglaublich viel mehr, als diese Aneinanderreihung von gefüllten Regalen. Am Ende dieser Treppe findet man nicht nur Geschichte und Geschichten. Dort findet man billige Klischees, abgedroschene Phantasien und halbe Wahrheiten direkt neben den großen göttlichen Ideen, die die Welt veränderten. Die ganze Kreativität der Menschheit.“
Wieder nahm ich Tabak, befüllte ein letztes Mal den Pfeifenkopf, bis sich ein kleines Häufchen über den Rand erhob.
„Nehmen wir dieses kleine Kunstwerk: Eine Pfeife – genau so eine, wie sie übrigens ein gewisser Herr Beutlin sein Eigen nannte – ist ein Werkzeug, aber auch ein Gefäß. Ebenso sind Bücher zugleich Werkzeuge und Gefäße.
Bücher sind die Gefäße der Geschichten. Sie geben den Rahmen. Autoren, Schriftsteller, Poeten: Sie füllen sie mit Sinn und Unsinn. Das macht die Bücher zum Werkzeug der Kultur. Sie sind das Sprachrohr der Menschen.“
Ich drückte den Tabak zusammen, so dass zwischen Kopfrand und Tabak noch ein wenig Platz war. Dann entzündete ich ein Streichholz, führte die Flamme über den Tabak, der sich kurz aufbäumte, als wolle er sich gegen die Glut erwehren.
Bea drückte sich aus dem Ohrensessel hoch. „Sie sind also ein … Auktoral? Was besagt das? Was ist Ihre Aufgabe?“
„Ich habe keine Aufgabe. Nicht in dem Sinne. Auktoral zu sein, das ist kein Job, so wie Sie ihn kennen. Wenn ich es mit Worten beschreiben müsste, dann würde ich sagen, dass ich ein Freund bin. Ein Freund der Bücher. So wie sie etwas für mich tun können; so wie sie mich teilhaben lassen an ihrer Welt, genauso stehe auch ich ihnen zur Verfügung. Durch mich wird meine Welt für sie zugänglich.“ Ich sog an dem Mundstück, paffte zwei, drei Mal. „Worte beeinflussen die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit formt die Worte. Ich stehe irgendwo dazwischen und kann helfen, wenn es nötig wird.“
„Und was habe ich damit zu tun?“
„Sie? Sie sind meine Angestellte“, sagte ich halbherzig.
„Nein“, antwortete sie, „da ist mehr. Einer einfachen Angestellten wären Sie nach einer Kündigung nicht hinterhergefahren. Sie hätten sich nicht darum bemüht, dass ich wiederkomme.“
Ich sog den Rauch ein, schloss die Augen. „Natürlich. Sie haben recht. Aber ich glaube nicht, dass Sie tatsächlich hören möchten, warum ich mich um Sie bemühe.“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Nun … Es geht um etwas, das Sie unter gar keinen Umständen tun wollen.“
„Schreiben?“
„Schreiben.“
Auch ich erhob mich nun, schritt zu dem Regler an der Wand und drehte ihn. Die Kellertür bewegte sich ein Stück im Rahmen zurück, glitt dann zur Seite und verschwand hinter der Wand. Dabei machte sie dem Gatter eines Fahrstuhls Platz. „Ich möchte Ihnen etwas zeigen“, sagte ich. „Etwas ganz Besonderes. Die Kammer der ungeschriebenen Bücher.“ Ich zog das Gatter auf und hielt Beatrice auffordernd die Hand entgegen. „Kommen Sie. Es lohnt sich.“
Doch Beatrice blieb stehen. „Gibt es dort Ratten oder Würmer?“
Ich überlegte kurz. „Wenn wir gut aufpassen, dann nicht. Es ist der Zweck der Kammer, diese Bücher zu schützen.“
„Kommen wir denn nicht über die Treppe dorthin?“
„Nun … ich möchte heute noch ankommen. Mit meinen morschen Knochen dürfte der Aufstieg zu beschwerlich werden.“
„Aufstieg? Müssen wir denn nicht in den Keller?“
„Lassen Sie sich überraschen“, erwiderte ich, während wir die kleine Kabine betraten. Vier Knöpfe waren an der Rückwand angebracht. Einer mit einem Pfeil nach oben, einer mit einem Pfeil nach unten. Außerdem zeigte je ein Pfeil nach links und nach rechts. „Aufwärts“, kommentierte ich und drückte den entsprechenden Knopf. Mit einem lauten Klacken rastete er ein. Zahnräder begannen zu rattern und irgendwo heulte kurz ein Keilriemen auf. Die Fahrt ging los.
Und dauerte.
Ich paffte genüsslich an meiner Pfeife. Beatrice schaute hin und wieder verstohlen auf ihre Armbanduhr. Keiner von uns verlor ein Wort. Ist es nicht immer so bei Fahrstuhlfahrten? Kaum steht man wartend nebeneinander, schon verliert man alle Sprache.
Und die Fahrt dauerte an.
Bei Fahrstuhlfahrten ist es immer nur eine Frage der Zeit, bis die Blicke der Wartenden auf Wanderschaft gehen. Beatrice hielt verblüffend lange ihren Kopf gesenkt und ich fragte mich schon, ob das Design ihrer schlichten Schuhe interessanter sein konnte, als ein Lift inmitten meines Buchlandes. Doch endlich betrachtete sie die Wände und kurz darauf auch die außergewöhnliche Decke. „Wundervoll!“
Ich entließ ein Rauchwölkchen aus meinem Mund, das langsam hinauf stieg und den Eindruck eines nächtlichen Himmels über uns bestärkte. Die Kabinendecke war tief schwarz und unzählige winzige leuchtende Punkte strahlten funkelnd auf uns herab.
„Sterne“, stellte Beatrice begeistert fest. Ihre Augen strahlten fast ebenso, wie die lichternen Punkte über uns.
„Schauen Sie genau hin, Beatrice“, sagte ich lächelnd. Dabei durfte ich es mir erlauben, die Lider zu schließen, da mir der Anblick vertraut war.
Sie kniff die Augen zusammen, reckte sich der Decke entgegen, um die Details besser erkennen zu können. „Sind es Buchstaben?“
„Eine grandiose Allegorie, nicht wahr? Buchstaben können alles sein. Ganze Welten können sie verkörpern, auch wenn sie für sich allein genommen nur Nadelstiche im körperlosen Raum sind.“
Just in diesem Moment fiel eine Sternschnuppe herunter und zog einen Schweif kleinster Satzzeichen hinter sich her.
Eine schöne kleine Ablenkung.
Aber die Fahrt dauerte an.
„Ist es noch weit?“
„Nein, es ist nicht mehr weit.“
„Wir sind schon eine Stunde unterwegs.“
„Dann …“, ich warf einen enttäuschten Blick in den erloschenen Pfeifenkopf, „… haben wir ungefähr die Hälfte der Strecke.“
… und dauerte an …
Schließlich kam der Fahrstuhl abrupt zum Stehen. Ich schob das Gatter auf und wir betraten einen hell erleuchteten Raum. Über uns spannte sich eine gläserne Kuppel. Jede kleine Scheibe war einzeln in Blei eingefasst. Einige Gläser waren bunt, die meisten klar. Sie gaben den Blick auf einen wolkenlosen Himmel frei.
Getragen wurde die Konstruktion von gekrümmten Wänden, die unterbrochen von zahlreichen geschlossenen Balkonen, einen Kreis bildeten. Etwa sechs Meter hoch waren sie und die darin eingelassenen Fenster, die vom Boden bis zur Kuppel reichten, lenkten den Blick auf imposante Art in die Tiefe. Unter uns konnten wir eine leuchtend weiße Wolkendecke erkennen.
Vor den Wänden und im Zentrum des Raumes standen Glasvitrinen. Darin lagen jeweils einige Bücher, manchmal auch Folianten oder lose Blattsammlungen.
Stille umgab uns. Nach der lärmenden Auffahrt mit dem Lift, war dies ein wohltuender Umstand.
„Willkommen in der Turmkammer“, sagte ich. Ich führte Beatrice an eines der Fenster.
„Kammer?“ Beatrice schluckte. „Nicht unbedingt ein treffendes Wort.“
„Wie würden Sie es nennen?“
„Keine Ahnung. Muss dieser Raum einen Namen haben?“
Ich legte die Pfeife auf eine der Vitrinen ab. „In jeder Geschichte ist es wichtig, dass die Dinge Namen haben. Sie, liebe Beatrice, haben einen Namen. Ich habe einen. Auch Roe und Goethe haben einen. Erst auf diese Weise können wir doch miteinander und übereinander reden. Wie wollen wir uns über diesen wundervollen Raum hier unterhalten, wenn wir ihn nicht benennen können?“
„Nennen wir ihn den Raum mit den Büchern.“
„Ich bitte Sie. Welcher Raum in unserer Geschichte war bisher frei von Büchern?“
„Trotzdem. Unter einer Glaskuppel findet man keine Kammer.“ Beatrice verschränkte die Arme vor der Brust und schob kaum merklich, aber dennoch etwas trotzig, ihre Unterlippe vor.
Ich zuckte mit den Schultern. „Lassen Sie es mich wissen, wenn Ihnen ein besserer Name für diese Lokalität eingefallen ist. Ich bin tatsächlich für alles offen.“
Beatrice ging an eines der Fenster. „Da geht es ganz schön weit runter. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass Ihr Haus einen Turm hat. Da waren nur zwei Etagen.“
„Die Dinge sind nicht immer so, wie sie zu sein scheinen. Wie ich bereits vorhin sagte: Eine gute Geschichte bewahrt sich einige ihrer Geheimnisse. Dieser Turm und seine räumlichen Eigenschaften gehören vermutlich in diese Rubrik. Der Autor einer solchen Geschichte würde es gewissermaßen mit einem ‚ist halt so‘ erklären.
Aber möchten Sie mir nicht eigentlich eine ganz andere Frage stellen?“
Beatrice schlenderte zu einer Vitrine. Sie öffnete behutsam den gläsernen Deckel und hob ein dünnes Taschenbuch empor. Die Kartonage war weiß, der Titel in schlichten schwarzen Lettern aufgedruckt. „Seditio orbis terrarum – Potentia virtutis populi. Was heißt das?“
„Globalisierte Revolution – die virtuelle Demokratie. Ist das schon die Frage?“ Ich nahm ihr das Buch vorsichtig aus der Hand und legte es zurück an seinen Platz.
„Nun gut“, sagte Beatrice, „was ist das hier? Erklären Sie mir diesen Raum.“
Na endlich! „Diese Kammer …“ Ich stockte und verbesserte mich dann schleunigst: „Dieser Raum ist eine der allergrößten Kostbarkeiten des Buchlandes. Er beinhaltet Bücher, die zwar erdacht, aber nie auf Papier gebannt wurden.“
„Müsste es davon nicht Abertausende geben?“
„Eigentlich schon. Aber … Ich muss das vermutlich anders erklären. Es gibt Bücher, die mussten, beziehungsweise müssen, einfach geschrieben werden. Sie waren und sind die Eckpfeiler der Kultur. Meilensteine. Ohne diese Bücher wäre die Welt nicht so, wie sie heute ist. Nehmen wir Tolkien! Ohne seine Werke über Mittelerde, hätte es vermutlich viele nachfolgende Bücher niemals gegeben. Er inspirierte zahlreiche Autoren. Gleiches gilt für Agatha Christie oder Sir Arthur Conan Doyle. Die Landschaft der Kriminalliteratur wäre heute um einiges ärmer, hätten diese begnadeten Schriftsteller nicht den Mut aufgebracht, zu schreiben. Liebe Beatrice, Sie glauben nicht, wie oft es allein dem Zufall zu verdanken ist, dass wahre Erdbeben das Buchland erschütterten.“
„Erdbeben?“ Beatrice schien an die Höhe zu denken, in der wir uns befanden.
„Im übertragenen Sinne“, räumte ich ein.
„Oh. Gut.“
„Der Zufall hat dem Buchland wirklich schon sehr oft einen Gefallen getan. Doch manchmal …“ Ich deutete auf die Vitrinentische. „Ja, manchmal wird ein Buch nicht geschrieben. Vielleicht, weil der Autor denkt, dass er nicht genügend Talent hat. Oder weil ihm etwas Schlimmes zustößt. Oder …“ Eine bedeutungsvolle Pause schien mir an dieser Stelle angebracht. Also streckte ich einen Finger aus und ließ ihn spielerisch um das weiße Taschenbuch kreisen. „Oder der Autor beschließt plötzlich, Bücher zu hassen.“
Beatrice’ Gesicht blieb gleichgültig. „Kann man Bücher hassen?“
„Sagen Sie es mir. Immerhin werden Sie jedes Mal wütend, wenn Ihr ungeschriebenes Buch …“ Ich hielt inne. Bea funkelte mich für einen Augenblick mit bösen Augen an. Doch sie fasste sich schnell wieder.
„Ist mein Buch denn so wichtig?“
Ich griff nach ihrer Hand und führte sie in den gegenüberliegenden Teil der Kammer. Ein Pult, auch mit einem Glaskasten obenauf, erwartete uns. Der Boden war mit rotem Samt ausgeschlagen. Doch die Stelle, an der einstmals ein Buch gelegen hatte, war verwaist.
„Es hätte diese Welt verändert“, flüsterte ich.
Ich konnte Beatrice’ Gedanken fast körperlich spüren. Wie sie rasten! Sie bemühte sich, zu begreifen, was ich ihr da eben versucht hatte mitzuteilen. „Wo ist es?“
„Das wissen Sie. Sie waren mit mir zusammen im Keller. Und Sie haben keinen Zweifel daran gelassen, dass Sie dieses Buch nicht schreiben werden. Und Sie haben gesehen, was geschieht, wenn Bücher aus den Gedanken des Autoren verdammt werden.“
„Was hätte mein Buch denn so wichtig gemacht?“ Beatrice klang irgendwie verzweifelt. Sie öffnete auch diesen Glaskasten, strich liebevoll über den leeren Stoff.
„Das dürfen Sie mich nicht fragen. Ihre Leser hätten diese Frage beantworten können. Doch die können Sie jetzt nicht mehr erreichen.“
Beatrice fuhr sich mit den Händen durch die Haare. Ein Hauch der Panik lag wieder in ihrer Stimme als sie sprach. „Aber ich schreibe doch keine Weltliteratur. Mein Geschreibsel wäre nicht wichtig.“
„Sie machen einen ganz ähnlichen Fehler wie Roe. Es obliegt nicht dem Autor, sein Werk einzuschätzen. Roe hält sich für mehr als er ist. Er hat zu viel Tinte für zu wenig Herz. Würde er sich objektiv von Lesern oder Lektoren einschätzen lassen, dann hätte er dies längst begriffen.
Ich habe Ihr Buch nicht gelesen, Beatrice. Aber es hatte hier oben seinen Platz. Es hätte potentiell geschrieben werden können. Wäre dies geschehen, hätte es das Buchland erbeben lassen und bis in die Grundfesten erschüttert.“
„Ich … könnte das Buch immer noch schreiben.“
„Nein. Jetzt haben wir eine andere Ausgangssituation. Es würde nicht mehr dasselbe Buch werden.“
Beatrice schien überrascht. „Was würde anders sein?“
„Denken Sie nicht, dass Sie mit ihrem jetzigen Wissenstand anders an die Sache herangehen würden?“
„Vermutlich. Macht das mein Buch schlechter?“
„Keine Ahnung“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Aber es wäre in jedem Fall ein anderes Buch. Und … wenn Sie dieses andere Buch noch schreiben, dann wird es nicht in dieser Kammer zu finden sein.“
Ihre nächste Frage überraschte mich. „Werde ich denn ein Buch schreiben?“
„Das, meine Liebe, ist ganz allein Ihre Entscheidung.“ Aber es ist interessant, dass Sie es inzwischen in Erwägung ziehen, sprach ich in meinen Gedanken weiter.
Beatrice schlenderte mit mir zurück zu dem Tisch, auf dem meine Pfeife lag. „Beantworten Sie mir noch eine Frage?“
„Gerne“, bestätigte ich.
„Diese Pfeife … Kommt sie wirklich aus Mittelerde?“
„Oh.“ Ich griff danach und steckte sie in meine Tasche. „Da haben Sie mich erwischt. Nach der Verfilmung kam allerhand Tand in die Geschäfte. Ich konnte einfach nicht widerstehen. Bitte verraten Sie es niemandem: Sie ist ein völlig überteuertes Merchandising-Produkt.“
Ich führte Beatrice zurück in den Fahrstuhl. „Wenn Sie pünktlich Feierabend machen wollen, dann sollten wir uns auf den Weg machen.“
Bea nickte und nach kurzem Zögern meinte sie: „Das war ein interessanter Tag. Schön, dass ich das Geheimnis von Ihrem Buchland kennenlernen durfte.“
Mein Buchland! Wie wenig sie doch bisher begriffen hatte. „Sie haben nicht das Geheimnis kennengelernt“, widersprach ich. „Sie haben nur eines der Geheimnisse gezeigt bekommen. Eines von vielen. Und bevor Sie fragen: Ich kenne selbst nicht sämtliche dieser Geheimnisse.
Die wenigsten davon habe ich gelöst oder verstanden. Doch wenn Sie möchten, dann zeige ich Ihnen morgen einen weiteren Teil dieser wunderbaren Landschaft.“
„Die Kammer der entbehrlichen Bücher?“, scherzte sie.
„Die große Halle der entbehrlichen Bücher“, verbesserte ich, vollkommen ernst. „Aber ich glaube nicht, dass Sie sich das wirklich antun sollten.“