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Beweggründe
ОглавлениеAls wir mein Antiquariat wieder erreichten, verzichtete ich zunächst darauf, den Laden wieder aufzuschließen. Es gab zurzeit wichtigere Dinge; das war mir klar. Beatrice wirkte zwar äußerlich ruhig, doch tief in ihr musste es brodeln.
Auf der Schreibfläche des Sekretärs lag ein aufgeschlagenes Kochbuch für Fingerfood. Daneben stand ein Teller mit Häppchen. Wie aufmerksam, dachte ich bei mir. Ich reichte ihn an Beatrice weiter, die das Essen erst mal misstrauisch beäugte, dann aber von den Möhren und dem Dipp kostete.
„Wussten Sie, wohin mich die Stimmen führen würden?“, fragte sie kauend.
Stimmen! Sie hatte also Stimmen gehört. Dass sie schon jetzt erste Worte an sie richteten, befand ich als ungewöhnlich.
„Was haben sie zu Ihnen gesagt?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich habe nichts verstanden. Ich bin nur in die Richtung gegangen, aus der das Wispern kam. Und dann kam ich zu dieser monströsen Tür …“ Es schüttelte sie kurz, dann wiederholte sie ihre Frage: „Wussten Sie, wohin mich die Stimmen führen?“
„Ich …“ Wie sollte ich das jetzt am besten verpacken? „Ich …“ Nach Worten ringend begann ich nochmal von vorne. „Es war ursprünglich mein Plan.“ Beatrice sah aus, als wolle sie mir eine Ohrfeige verpassen. Vermutlich zu recht. Doch was hätte ich tun können? „Ich wollte Sie ursprünglich dorthin begleiten“, schob ich erklärend nach. „Es wäre meine Aufgabe gewesen, Sie zu schützen.“
Beatrice wandte sich wieder den Häppchen zu. Sie nutzte die Zeit, in der sie aß, um nachzudenken. „Es war mein Fehler“, sagte sie schließlich. „Ich hätte da nicht allein reingehen sollen. Das war ausgesprochen dumm von mir. Vollkommen unlogisch.“
„Im Realen verhalten wir uns oft nicht logisch oder vernünftig. Das ist der große Unterschied zu den Geschichten in Büchern. Dort muss alles Sinn ergeben.“
Beatrice stellte den Teller ab und ging dann zum Ohrensessel. Erschöpft ließ sie sich hineinfallen und hob die Hände vors Gesicht. Dadurch entging ihrer Aufmerksamkeit, dass der leere Teller bereits wieder dahin verschwunden war, woher er gekommen war.
„Gibt es Tod wirklich?“ Ihre Worte schwebten durch den Raum. Ich konnte sie nicht richtig hören, da Beatrice sehr leise sprach, doch jede Silbe hatte Substanz. Beatrice stellte mit ihnen das Erlebte nicht in Frage. Das war mir klar. Aber sie versuchte dahinter zu blicken, hinter diese Wand der Tatsachen. Sie lernte schnell.
„Er gehört zum Leben“, stellte ich nüchtern fest.
„Ja“, Beatrice seufzte, „aber als Person? Er hatte eine Sense. Wie auf Tarotkarten. Das kann doch nicht sein.“
„Sie haben eben mit ihm gesprochen.“
„War das denn die Wirklichkeit?“
Ich griff nach meinem Stock und stützte mich auf ihn. „Erinnern Sie sich an unser Gespräch über Descartes? Unsere Realität ist nur eine Sammlung von Sinneseindrücken.
Der Mensch neigt zu Personifizierungen. Den Tod gibt es. Ebenso wie es sicherlich auch einen Gott gibt. Doch ich bezweifle, dass Gott ein alter Mann mit weißem Bart ist. Ebensowenig ist der Schnitter als Gerippe unterwegs. Die Gerechtigkeit trägt keine Augenbinde und Vater Staat und Mutter Natur werden vermutlich niemals heiraten.
Die Frage bei solchen Dingen ist eigentlich immer: Was wissen wir tatsächlich und wie viel von unserer Unwissenheit sind wir bereit durch puren Glauben zu ersetzen? Das tun wir alle. Die einen mehr, die anderen weniger. Die einen ganz bewusst und anderen passiert es ganz von selbst.
Unserem Glauben müssen wir in irgendeiner Form Gestalt geben. Manche Menschen errichteten dazu kolossale Bauwerke, anderen begegneten Geister und Engel. Wiederum andere fassten es in Worte.
Die meisten religiösen Texte sind Geschichten. Sie sprechen ihre Wahrheit in Bildern, Symbolen und Parabeln. Moses ist nicht 120 Jahre alt geworden. Derjenige, der dies niederschrieb, hatte anderes im Sinn. Was Worte erzählen, sollte man nicht einfach nur hinnehmen. Die Botschaften sind – wie immer – zwischen den Zeilen.
Ihnen wurde heute etwas zugänglich, begreiflich gemacht.“
„Der Tod?“
„Ja.“ Ich ging ein paar Schritte. „Der Tod. Er hat ihnen mitgeteilt, wen er bereits im Visier hat …“
Beatrice griff an den Hosenbund. Die Kladde.
„Ingo?“
„Was glauben Sie, wie lange er diesen …“ Ich suchte nach dem richtigen Wort. Etwas zu abfällig sagte ich dann: „Lebenswandel … noch fortsetzen kann? Für ihn geht es ganz steil bergab. Es ist traurig mitanzusehen, dass er Sie dabei mitzieht.“
Beatrice schwieg eine Weile. Ich ließ ihr die Zeit. „Was habe ich denn für eine Alternative?“, fragte sie schließlich. Eine Träne glitzerte im trüben Licht der Stehlampe. „Ich … ich liebe ihn. Und er ist das Letzte, was mir geblieben ist.“
Ich streckte meinen Arm aus. „Geben Sie mir das Büchlein.“
Ich wies Beatrice an, das Antiquariat wieder zu öffnen. Auf der Straße hatten einige Kunden geduldig gewartet und nahmen Beatrice nun vollkommen in Beschlag. Sie verstand es, die Geschehnisse von vorhin ausreichend auszublenden und bediente gewohnt gewissenhaft. Ich selbst saß nun wieder an meinem Sekretär und begutachtete dieses außergewöhnliche kleine Buch. Ich empfand es als faszinierend, dass ich keine Ahnung davon hatte, was darin geschrieben stand, obwohl ich doch eigentlich mit allen Büchern inhaltlich vertraut war.
Ich drehte es zwischen den Händen. Begutachtete es, als wäre es ein besonderes Werk meiner Sammlung. Schwarze Kartonage. Rote Ecken. Massenware. Ich dachte darüber nach und stellte fest, dass es für Ingo passend war. Massenware. Ja, Typen wie er liefen zu Tausenden herum. Ich fragte mich, ob erst der Alkohol ihn zu dem gemacht hatte, was er jetzt war. Ob sein Buch in früheren Zeiten vielleicht eine andere Beschaffenheit hatte?
Vermutlich nicht. Ein Buch mit leeren Seiten, war nichts anderes als ein Buch mit leeren Seiten. Erst die Worte brachten den Wert. Bei Menschen war dies in meinen Augen nicht anders.
„Dann wollen wir mal lernen, wie fremd wir einander sind “, murmelte ich vor mich hin und schlug die erste Seite auf.
Eng mit Bleistift beschriebene Zeilen. Mit Bleistift beschrieben. Mit Bleistift. Bleistift …
Mein Plan war leichter umzusetzen, als ich dachte.
Dachte ich …
Gesprächsfetzen drangen an mein Ohr. Beatrice war voll in ihrem Element. „Ich kann Ihnen da einen Orwell ans Herz legen. Sie haben doch bestimmt mal was von 1984 gehört. – Nein, das war nur die Verfilmung. – Ich rate Ihnen, lieber das Buch zur Hand zu nehmen. – Die Gattung? Dystopie. Das ist sowas wie das Gegenteil zu einer Utopie.“ Inzwischen hatte ich einige Seiten überblättert. Ingos Kindheit war für mich nicht von Interesse.
Einige Seiten waren mit einem Datum versehen. Ich betrachtete die Einträge der vergangenen Wochen. Viel Abwechslung bekam ich nicht zu lesen. Der Einblick in die Privatsphäre dieses Mannes verschaffte mir kein voyeuristisches Vergnügen. Sein Alltag war vom Alkohol durchtränkt. Schlafen und trinken. Da war nicht mehr viel Platz für Empfindungen. Die einzige Gefühlsregung, die ihm noch geblieben war, war das Leid. Wie paradox, weil es doch gerade sein Kummer war, den er betäuben wollte. Ich blätterte wieder nach vorne zurück und begann die Lektüre in der richtigen Reihenfolge zu lesen.
„Keine Zahlen?“ Beatrice hatte sich über meine rechte Schulter gebeugt.
„Wie bitte?“ Ich hatte nicht bemerkt, wie die Zeit vergangen war. Der Laden war dunkel und von der Straße drangen keinerlei Geräusche mehr zu uns. Verstört blickte ich auf meine Taschenuhr. „Schon Feierabend?“
„Seit zwanzig Minuten. Ich habe bereits Kasse gemacht und den Laden gewischt.“ Beatrice klang beinahe gut gelaunt und ich fand es irritierend, dass sie erst jetzt zu mir kam. Müsste sie nicht vor Neugierde platzen?
„Also?“
„Also was?“ Noch immer hatte ich meine Gedanken nicht richtig im Griff. Der Einblick in das Leben einer anderen Person war verstörender, als ich gedacht hatte.
„Die Kladde. Es war die Rede davon, dass darin gerechnet würde. Das Ergebnis ‚null‘ und so.“
„Für mich liest es sich vollkommen normal“, sagte ich und schlug beiläufig die Kladde zu.
„Normal?“ Beatrice rollte mit den Augen. „Die Bedeutung des Wortes ist mir in den letzten Tagen verloren gegangen. Was bezeichnen Sie als ‚normal‘, während Sie das Lebensbuch eines Menschen in den Fingern halten?“
Ich nickte. Beatrice hatte vollkommen recht. Von Normalität konnten wir hier inzwischen wirklich nicht mehr reden. Selbst mich überraschten die laufenden Ereignisse. Die ganze Geschichte bekam unerwartet ein Eigenleben. Ich musste meinen Plan im Auge behalten, sonst würde sich der Plot in die falsche Richtung entwickeln.
„Das Büchlein ist ein Roman. Es ist eine Biografie über Ihren Mann. Eine Biografie, die …“
„Dafür ist es zu dünn“, unterbrach mich Beatrice. „Ein Menschenleben ist mehr als hundert Seiten stark.“
„Sie werden überrascht sein, wie viel auf eine Seite passt. Ein Tag, ein Jahr, manchmal ein ganzes Leben oder auch nur ein Augenblick. Lassen Sie sich nicht von der äußeren Form eines Buches über dessen Inhalt hinwegtäuschen.“
„Sie haben den ganzen Nachmittag darin gelesen“, stellte Beatrice unsicher fest. Da war noch mehr, was sie sagen wollte. Ihre Stimmung war in nur wenigen Sekunden umgeschlagen. Jetzt kaute sie unsicher auf ihrer Unterlippe und mied meinen Blick. Ihr lag eine Frage auf dem Herzen. Ich ahnte bereits, welche das sein würde. Doch ich wollte sie ihr nicht vorwegnehmen. Sie musste es selbst fragen. „Ja?“
„Was steht drin?“
Falsche Frage! Ich dachte, sie käme von allein darauf. Hier eröffneten sich Möglichkeiten …
„Sie sollten es selbst lesen“, antwortete ich.
„Wie wird es enden?“ Niemand kannte Ingo besser als Beatrice. Sie musste bereits wissen, wie es enden würde. Ingo war im Soll. Sein Leben war bereits verwirkt.
„Sie möchten es nicht lesen?“ Ich hielt ihr die Kladde entgegen, doch sie wich zurück, als würde das Papier in lodernden Flammen vergehen. „Sie sollten es lesen. Ich werde Ihnen das Ende nicht verraten. Jede Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Ein Leser sollte sich die Zeit nehmen, mit der ersten Seite anzufangen und nicht die letzte Seite vorziehen.“
„Ich kann das nicht. Ich … habe Angst.“
„Wovor?“
„Verdammt! Können Sie sich das nicht denken?“ Schon flammte wieder der Zorn in ihr auf. „Ich liebe diesen Mann. Er ist der Vater meiner Tochter!“
Ich zog meine Augenbrauen hoch. Eine seltsame Definition der Liebe. Aber natürlich fiel es ihr inzwischen schwer, beim Anblick dieses menschlichen Wracks von Liebe zu sprechen. Ich konnte es ihr nicht verübeln. In ihrem Zuhause saß ein Mann, der mit dem Mann, den sie einst heiratete, kaum noch etwas gemein hatte. Er soff sich um den Verstand und badete in seinem Selbstmitleid. Er isolierte sich selbst, schlug sie vielleicht sogar. Ihre gesamte Existenz setzte er aufs Spiel und wälzte zugleich alle Verantwortung auf sie ab.
Und sie blieb bei ihm. In guten wie in schlechten Zeiten. Tatsächlich: Es musste wohl Liebe sein. Liebe, die sich nicht nur über das verstorbene Kind zu definieren vermochte. Ob sie das noch erkannte?
„Lesen Sie das Buch. Es wird weder Ihnen noch ihrem Mann schaden. Ich denke, dass es eine Chance für Sie bietet.“
„Eine Chance?“
„Eine Chance. Lesen Sie es heute Abend und morgen reden wir darüber.“ Ich versuchte mich in einem aufmunternden Gesichtsausdruck. „Bringen Sie einen guten Radiergummi und einen angespitzten Bleistift mit.“
Der Morgen graute. Ich stand auf der Straße und betrachtete die altehrwürdige Fassade meines Hauses. Der Anstrich schien mir nicht mehr so grau zu sein. Der Vogeldreck auf den Stuckverzierungen war auf beinahe wundersame Weise von selbst verschwunden. Das Holz der Fensterrahmen erstrahlte in neuem Lack, ohne dass sie einen Pinsel gesehen hatten. Neben der Tür hing die Hausnummer. Die metallenen Ziffern hatten die Patina abgelegt. Die Bronze verkündete nun stolz: „978 / 979.“
Ein verächtliches Schnauben entfuhr mir und ich murmelte: „Schön, dass es euch besser geht.“ Meine Worte waren an niemanden Speziellen gerichtet, aber ich konnte mir sicher sein, dass ich die richtigen Zuhörer erreichte. Die Magie des Buchlandes überschritt also langsam ihre Grenzen, streckte die Finger nach der Nachbarschaft aus. Das war ja grundsätzlich nicht schlecht.
Auch mir ging es besser. Meinen Stock hatte ich drinnen glatt vergessen. Es wäre mir allerdings wohler bei der Sache gewesen, wenn ich mich der Illusion hätte hingeben können, dass dies alles noch von mir gesteuert wurde. Doch der gestrige Tag hatte mir diese Flausen ausgetrieben. Ich war nur ein Nebendarsteller, der sich dem Plot beugen musste. Die Fäden in diesem Strippenspiel hatten längst andere übernommen.
Ein leises Brummen drang die Straße herauf und kurz darauf bog der Bus um die Ecke. An der Haltestelle öffneten sich zischend die Türen, Beatrice stieg aus und kam mir entgegen. Sie war blass. Die Ringe unter ihren Augen bezeugten eine schlaflose Nacht. Sie trug dieselben Sachen wie gestern. Das ließ mich darauf schließen, dass sie gar nicht erst ins Bett gegangen war. Mit beiden Händen hielt sie fest umklammert die Kladde vor ihre Brust. Wäre es ein Kruzifix gewesen, ich hätte mir Sorgen machen müssen, ob sie einen Exorzismus an mir probieren wollte. „Guten Morgen, Herr Plana“, sagte sie mit brüchiger Stimme. Sie zitterte wie Espenlaub. Von dem neu erworbenen Selbstbewusstsein fehlte nun jede Spur.
„Guten Morgen, Beatrice.“ Ich breitete meine Arme aus und umarmte sie zum Gruße. „Haben Sie das Buch gelesen?“
„Natürlich habe ich das.“ Beatrice drückte sich sanft von mir fort. „Drei Mal. Denken Sie, dass es stimmt?“
„Was?“
„Dass Ingo nur noch zwölf Wochen hat.“ Beatrice schlug die letzte Seite auf und deutete auf die Kopfzeile mit dem Datum.
„Lassen Sie uns einen kleinen Spaziergang machen“, schlug ich vor. Ich hakte mich bei ihr ein, obschon ich auch allein hätte gehen können. Doch die Nähe schaffte Vertrautheit.
Und so schlenderten wir über den verlassenen Bürgersteig, hörten das Laub unter unseren Füßen rascheln und nahmen den angenehmen Geruch der modernden Blätter in uns auf.
„Müssen wir denn den Laden nicht öffnen?“
„Ist Ihnen nicht aufgefallen, dass heute Sonntag ist?“, fragte ich.
„Sonntag?“
Ich erlaubte mir ein Schulbubenkichern. „Schön, dass Sie trotzdem gekommen sind.“
Ich lenkte unsere Schritte in den angrenzenden Friedhof. Er glich einer gepflegten Parkanlage und erwies sich als eine rechte Kulisse für ein Gespräch über Leben und Tod.
„Zwölf Wochen“, stellte ich nüchtern fest, „sind eine Menge Zeit. Haben Sie den Radiergummi und den Bleistift mitgebracht?“
Beatrice griff in ihre Manteltasche und holte die Utensilien hervor. „Mir ist nicht ganz klar, was Sie im Schilde führen.“
Ich lachte herzhaft und ein paar Tauben stoben erschrocken davon. „Beatrice! Was sollte ich im Schilde führen? Es obliegt mir gar nicht, auch nur irgendetwas im Schilde zu führen. Die Frage ist doch, was Sie tun wollen. Behaupten Sie nicht, dass Sie nicht bereits mit dem Gedanken spielen.“
„Mit welchem Gedanken?“
„Ein Buch dessen mit Bleistift geschriebener Inhalt Ihnen nicht gefällt. Sie besitzen einen Radiergummi und einen Bleistift. Ihre Schlussfolgerungen müssen Sie schon selber treffen.“
Beatrice blieb stehen. „Ist es denn so einfach? Kann ich Ingos Ende einfach umschreiben?“
„Das müssen Sie mir verraten. Ich bin kein Schriftsteller.“
„Ich auch nicht.“ In ihren Worten lag ein Flehen. Doch es lag nicht in meiner Absicht, ihr etwas ihrer Last abzunehmen.
„Dann erübrigt sich jeder weitere Gedanke.“ Ich machte mich von ihr los und ging ein paar Schritte alleine weiter. Sie verharrte einige Sekunden, eilte mir dann aber hinterher und nahm meinen Arm wieder.
Ich verstand die Geste. „Erinnern Sie sich an Goethes Worte? Schreiben ist zu einem großen Teil Handwerk. Ein jedes Handwerk lässt sich erlernen.“
„Aber“, sagte Beatrice, „es ist nicht nur Handwerk. Es hat auch mit Talent und Kreativität zu tun.“
Ich nickte. „Sehr viel sogar.“
„Was ist, wenn ich ein Roe bin? Was ist, wenn ich nach Publikum strebe und nicht reif dafür bin?“
„Wer hat gesagt, dass man für ein Publikum schreiben muss? Man muss doch kein großes Konzert geben, wenn man nur Kammermusik spielen möchte.
Machen Sie sich keine Gedanken, ob Sie genug Kreativität oder Talent besitzen. Die Bücher haben Ihnen dies längst bescheinigt. Sonst wäre dies neulich im Keller nicht passiert. Das Buchland wartet auf Sie und Ihre Wörter. Wer kann so was schon von sich behaupten? Allerdings müssen Sie über Ihren Schatten springen und tatsächlich mit dem Schreiben wieder anfangen.“
„Ich soll also das Leben meines Mannes umschreiben? Ist das machbar?“
„Es liegt in Ihrer Hand.“
„Würden Sie mir helfen?“
„Nichts lieber als das.“
Wenig später saßen wir auf einer Parkbank. Der Friedhof umgab uns. Das Leben hielt den Atem an. Beatrice legte die Kladde auf ihren Schoß, blätterte zur letzten Seite. Ingo starb dort. Atemstillstand und Herzversagen. Er lag auf den kalten Fliesen neben der Toilette im eigenen Erbrochenen. In der Hand hielt er ein Foto von Rachel, die in Beas Armen ruhte. Eine Aufnahme, die noch im Kreissaal gemacht worden war.
Beatrice legte den Radiergummi an. Hielt inne. Ihre blauen Augen suchten die meinen. Tränen rannen ihr über die Wange. „Er liebt mich noch“, flüsterte sie. Dann begann sie, den Text zu tilgen. Das Foto verschwand. Die Toilette. Ingo.
Wind kam auf und zerrte an den Seiten. Der Herbst hatte sich entschieden, uns seine ungemütliche Art zu zeigen. „Ich denke, wir sollten uns ins Antiquariat zurückziehen.“ Schon fielen die ersten Tropfen. Schwer klatschten sie auf den Asphalt. Blätter wurden aufgepeitscht und Zweige und kleine Äste wurden von den Bäumen gerissen. In der Ferne donnerte es. Bebte der Boden?
Beatrice steckte die Kladde unter ihre Jacke und lief los. Ich hatte Mühe, ihr nachzukommen.
Eine Bö schlug mir ins Gesicht, mit einer Kraft, dass es mich fast von den Füßen riss. Die Erkenntnis traf mich wie einer der zahlreichen zuckenden Blitze, die der Erde entgegendonnerten: Das war kein normales Unwetter.
„Ihr wolltet es doch“, schrie ich in den Sturm, doch das Tosen übertönte meine Worte. „Dem Buch wird kein Leid angetan! Es wird nur erneuert. Die Geschichte wird größer!“ Meine Worte blieben ungehört. Der Sturm wurde noch stärker. Ich taumelte dem Haus entgegen. Beatrice schloss bereits die Tür auf.
Ich wiederholte keuchend immer wieder: „Ihr wolltet es so. Ihr wolltet es so.“ Doch plötzlich kam mir in den Sinn, dass ich mit den Falschen sprach. Nicht das Buchland zürnte. Wir hatten gerade ganz anderen Mächten ins Handwerk gepfuscht.
Wir stolperten in die Sicherheit des Antiquariats. Nass bis auf die Haut und völlig verausgabt, ließen wir uns auf Hände und Knie fallen und bemühten uns, wieder zu Atem zu kommen.
Beatrice fasste sich als erste wieder: „Waren wir das?“
„Ich befürchte schon.“ Ich drehte mich in eine sitzende Position. Der Schmerz in mir erreichte ungeahnte Dimensionen. Selbst wenn ich hätte aufstehen wollen, es wäre mir nicht gelungen. „Sie erinnern sich an die Buchführung? Wir haben einen Tod getilgt. Die Bilanz stimmt im Augenblick nicht mehr. Auf der Haben-Seite steht ein Posten zu viel.“
„Was sollen wir tun?“
„Keine Ahnung. Zuerst mal muss ich wieder zu Kräften kommen, damit ich wieder einen klaren Gedanken fassen kann.“
Beatrice verstand. „Vorlesen?“
„Das wäre wundervoll. Es sollte etwas sehr Gehaltvolles sein.“ Beatrice stand auf, nahm vom Büchertisch mit den antiquarischen Übersetzungen etwas ganz Altes. Das konnte dann kein Fehlgriff sein.
Der Titel ließ mich dann aber dennoch entsetzt nach Luft schnappen. „Divina Commedia“, entfuhr es mir. Eine Übersetzung. ‚Die göttliche Komödie‘ von Dante Alighieri. Bücher können grausam sein.
Beatrice mühte sich durch den anstrengenden Text. Der veraltete Sprachgebrauch lag ihr nicht. Trotzdem schaffte sie es, einige Seiten leidlich vorzutragen.
„… Bring’ an die Orte mich, die du genannt,
Und laß mich bald Sanct Petri Pforte sehen,
Und Jene, wie du sprachst, zur Qual verbannt.
Er ging; ich säumte nicht, ihm nachzugehen.“
Das Ende des ersten Gesangs. Ich hob meine Hand und deutete Beatrice, dass sie mir helfen solle, aufzustehen. Es ging mir nicht wirklich gut, doch ich war mir der dringlichen Lage durchaus bewusst. Außerdem formte sich in mir ein erster Plan für unsere Notlage.
Der Sturm hatte sich weiter gesteigert. Die Straße hatte sich in einen kleinen Fluss verwandelt. Es war ein höllisches Inferno, das einem Orkan gleich die Welt dort draußen zu vernichten drohte. „Wir sollten keine Zeit mehr verlieren. Es drängt. Wo ist Ingos Buch?“
Beatrice legte die Kladde neben die Kasse auf den Verkaufstresen. Ich blätterte rasch zur letzten Seite. „Bea, jetzt hören Sie mir gut zu. Das wird Ihnen nicht leicht fallen. Doch es muss sein.“ Ich drückte ihr einen Bleistift in die Hand. „Egal, was wir mit diesem Büchlein machen, egal, was wir hier hineinschreiben … Der letzte Satz muss stehen bleiben.“
Die Schrift war ausradiert. Der Grafit war gründlich abgerieben. Doch die Spuren des Bleistifts waren in das Papier eingedrückt. Mit gutem Willen, konnte man den Text noch immer lesen. Zwei Worte bildeten den letzten Satz. „Ingo starb.“
„Das können Sie nicht von mir verlangen“, flüsterte Beatrice.
„Es ist unabänderlich“, erklärte ich sanft.
„Ich kann Ingo doch nicht töten!“
„Sie haben die Macht es zu tun.“ Ich deutete zum Fenster hinaus.
„Sie haben die Pflicht.“
„Ich kann Ingo nicht töten.“
„Uns bleiben doch alle Wege offen“, erklärte ich. „Wir verschaffen uns nur Zeit. Schauen Sie, das Datum haben wir doch auch ausradiert. Der Tod ist die letzte Gewissheit. Sie muss da sein. Über das Wann entscheiden Sie später.“
„Ich?“
„Sie.“
Ihre Hand zitterte, als sie die Mine auf das Blatt setzte. Unglaublich langsam ließ sie den Stift seine Bahnen ziehen. Sie schrieb „Ingo starb.“ und wir wussten beide, dass Ingo sterben würde.
Die Welt beruhigte sich wieder. Der Sturm verschwand zurück in das Nirgendwo, aus dem er gekommen war. Beatrice und ich zogen uns in mein Wohnzimmer zurück. Über den niedrigen Tisch gebeugt, studierten wir den Text aus dem Lebensbuch.
„Wir haben eine wichtige Lektion gelernt“, stellte ich schließlich fest. „Wir müssen behutsamer vorgehen. Wir sollten nicht gleich zu Anfang das größte Ziel setzen. Ingos Tod können wir nicht mit einem Radiergummi verhindern.“
Beatrice wippte auf ihrem Sitzplatz neben mir immer wieder vor und zurück. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Vielleicht würde ihr ein wenig Entspannung gut tun. „Wann hatten Sie das letzte mal …“ Ich bemühte mich möglichst gleichgültig zu klingen. „… Sex?“
Es brauchte keine Sekunde, da sah ich auch schon, dass sie mich vollkommen falsch verstanden hatte. So kurz hatte ich noch nie vor einer Backpfeife gestanden. „Nein, nein! Das war kein unmoralisches Angebot meinerseits.“ Ich blätterte in Ingos Buch zur Seite des heutigen Tages. Der Text gab nicht viel her. Eine Flasche Wodka würde ihm gleich die Zeit vertreiben. „Ich schätze, dass die Welt nicht davon untergehen wird, wenn Sie an dieser Stelle den Radiergummi ansetzen. Was Sie in die entstehende Lücke hineinschreiben werden, geht mich nichts an. Ich werde jetzt unten meinen Pfeifentabak holen gehen und Sie etwas allein lassen. Falls Sie etwas Inspiration möchten: Wie wäre es mit Frank Harris. Eine Ausgabe seiner freizügigen Autobiografie ‚Mein Leben und Lieben‘ steht rechts neben dem Fenster. Lassen Sie sich Zeit.“