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Die Halle der entbehrlichen Bücher
ОглавлениеDie nächsten drei Tage erwiesen sich als überaus interessant. Beatrice erschien immer sehr früh zur Arbeit. Doch die meiste Zeit verbrachten wir nicht im Laden, sondern wir diskutierten über das Manuskript, schauten uns zeitgenössische Literatur an und blätterten in allerhand Essays über das kreative Schreiben.
Wir redeten über Erzählperspektiven, über Stilrichtungen, über Prologe, Epiloge und dem dazwischen, über Handlungsstränge, über Recherche und über alles andere, was uns noch zum Thema Literatur in den Sinn kam. Beatrice entwickelte sich während der Gespräche zusehends. Es machte mir allerhöchstes Vergnügen, ihre Begeisterung für das geschriebene Wort zurückzuholen. Ihre aufgestaute Kreativität brach sich Bahn und schwemmte die Sorge und Furcht, die Trauer und auch die Wut der letzten Monate mit sich fort. Sobald die richtige Inspiration sie treffen würde, dessen war ich mir bald sicher, würde sie ein gutes Buch zu Stande bringen. Vielleicht sogar das, was meine zahlreichen Freunde von ihr erwarteten.
Kummer bereitete mir nur die Tatsache, dass Beatrice in Ingos Kladde immer noch haarklein hineinschrieb, was er zu tun oder zu lassen hatte. Sie konnte nicht loslassen. Es schien, dass sie lieber mit einem Roboter leben wollte, als Gefahr zu laufen, wieder einen Alkoholabhängigen in der Wohnung zu haben.
Noch viel größere Sorge machte ich mir aber um Ingos drohendes Ende. Würde Tod tatsächlich Ingo zur vorbestimmten Zeit holen, dann würde Beatrice gewiss keine einzige Silbe mehr formulieren. Und damit wäre schlicht alles verloren.
„Herr Plana?“ Ich schreckte aus meinen Gedanken hoch. Ertappt wie ein Schuljunge, wurde mir bewusst, dass ich nicht bei der Sache war. Eigentlich hatte ich gar keine Ahnung, was im Augenblick Thema war.
„Äh, ja?“
„Was halten Sie davon?“ Beatrice lächelte. Sie hielt eine Ausgabe von ‚Vier Seiten für ein Halleluja‘ hoch.
„Ein Schreibratgeber“, stellte ich fest. Ich bemühte mich, nicht zu zeigen, dass ich mich eben in meinen Gedanken verloren hatte.
„Ja“, bestätigte Beatrice, „das weiß ich. Aber was halten Sie von der zitierten Stelle?“
„Ich …“
„Ja?“
„Ich …“
„Sie haben keine Ahnung, wovon ich gerade rede. Stimmt’s?“ Und so wurde ich ein zweites Mal in diesen Tagen ausgelacht. Aber es war bei weitem angenehmer, dass es nun Beatrice und nicht so ein Typ in Kutte mit Kapuze war. Ich stimmte mit ein. Nie hatte ich mich meiner Bea so nah gefühlt, wie in diesem Moment.
„Sie halten nicht viel von Schreibratgebern“, stellte Beatrice schließlich fest. Sie legte das Buch auf den Stapel mit den erledigten Titeln.
„Mache ich den Eindruck?“ Ich griff danach, ließ meinen Daumen über die Seiten gleiten, so dass sie surrend darunter vorbei rauschten. „An dieser Art Lektüre ist nichts auszusetzen. Bei so mancher Veröffentlichung unserer Tage wünsche ich mir, dass wenigstens die Ratschläge, die ein Ratgeber vermittelt, beherzigt werden. Talent kann man sich jedoch nicht erlesen.“
„Ist Schreiben denn etwas, das nur den Könnern vorbehalten ist?“ Beatrice verschränkte die Arme vor der Brust.
„Oh, keinesfalls! Jeder sollte den Mut finden zu schreiben. Schreiben ist befreiend. Eine kreative Tätigkeit darf nicht sanktioniert sein.“ Ich legte das Buch fort. „Es ist ein Segen, dass es in unseren Breitengraden so vielen Menschen ermöglicht wird, Schrift zu beherrschen.“
Beatrice legte den Kopf schief. „Widersprechen Sie sich nicht gerade selbst? Sie reden davon, dass so viele untalentierte Autoren Bücher verfassen und gleichzeitig loben Sie den Umstand, dass jeder schreiben kann.“
„Drücke ich mich so missverständlich aus? Nun, dann muss ich es genauer erklären: Es waren einmal Zeiten, da war das Schreiben ein Privileg. Die Dienste eines Schreibers galten als kostbar. Gegenwärtig ist das Schreiben zu billig geworden. ‚Billig‘ meine ich nicht im Sinne von ‚preiswert‘. Vielmehr meine ich, dass manchmal die Worte, die umsonst sind, den Preis der geopferten Zeit nicht wert sind.
Wir leben im Kommunikationszeitalter. Es wird im Internet gechattet, getwittert und gebloggt, was das Zeug hält. Daneben buhlen Illustrierte und Zeitungen um Beachtung. Radio und Fernsehen grölen im Sekundentakt beinahe synchron das Neueste und Sensationellste in die Welt. Es kommt wirklich viel Interessantes durch den Äther. Allerdings fällt es zunehmend schwer, die relevanten Sätze herauszufiltern.
Jeder kann schreiben. Und jeder macht es. Jeder heischt um ein Stück Aufmerksamkeit. ‚Hört her, was ich zu sagen habe! In China ist ein Sack Reis umgekippt.‘
Die Geschwindigkeit, in der ein Gerücht die Welt umrundet, hat sich vervielfacht. Die Wahrheit bleibt nicht selten auf der Strecke, erschlagen von der Profanität des Geplappers in den Medien.
Ich blicke neidvoll zu den alten Meistern zurück. Man hat ihnen zugehört, weil um sie herum alles schwieg. Was für ein Privileg!
Heute muss man den Stecker ziehen, wenn man sich selbst noch hören will.“
„Was hat das mit Büchern zu tun?“ Beatrice wirkte ehrlich irritiert. Natürlich. Ich ereiferte mich in Kritik, die vom Thema abzudriften drohte.
„Ja, Sie haben recht. Bücher … Jeder kann einen Roman verfassen, ein Gedicht ersinnen oder sonst wie seine Gedankenspielereien in Form bringen. Das ist gut.
Aber! Warum unterliegen so viele Leute dem Irrglauben, dass all diese geistigen Ergüsse auch veröffentlicht werden müssen? Bislang war es so, dass ein Autor sich wenigstens der Kritik eines Lektors beugen musste. Noch vor wenigen Jahren überlegte es sich jeder Verleger drei- oder viermal, ob er ein Manuskript durch eine Veröffentlichung adeln wollte.“
„Die freie Kunst wurde durch den Markt und den Kommerz bestimmt“, warf Beatrice ein. „Jetzt bestimmt das Publikum …“
„Ein solches Argument hätte ich von Roe erwartet“, tadelte ich Beatrice. „Kunst und Kultur müssen vielfältig sein. Da haben Sie recht. Doch sie dürfen nicht beliebig werden. Wenn alle gleichzeitig drauflosschreien, ist niemand mehr da, der zuhört. Das gilt für Lieder, Bilder und eben auch für Bücher.
Jede Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Doch man sollte sich dafür Zeit nehmen. Es kommt nicht darauf an, möglichst viel in die Welt zu rufen. Es kommt darauf an, die Welt mit dem Gesagten zu bereichern. Schreiben ist Handwerk. Man kann es erlernen. Kreativität hingegen ist Kunst. Sie kommt aus dem Geist. Je mehr ein Autor von sich in ein Buch investiert, desto geistreicher wird sein Werk. Mit Geist und Seele erwachen Bücher zum Leben. Verstand oder Gefühl Hand in Hand ermöglichen erst die wahre Kunst.“
„Wer soll denn Ihrer Meinung nach bestimmen, was zur Veröffentlichung taugt?“ Beatrice schob herausfordernd das Kinn vor.
„Hmm, zumindest niemand, der Geld vom Autoren für das Veröffentlichen bekommt. Und auch niemand, der ohne qualitative Kontrolle E-Books anbietet. Ebenso falsch ist es, dem Autoren selbst die Entscheidung zu überlassen.“ Ich zog meine Taschenuhr hervor. „Haben Sie Lust auf einen Abstecher ins Buchland?“
„Jetzt?“
„Warum nicht?“ Ich ging schon zum Maschinentelegraphen. „Es dauert nicht lange. Wir können den Fahrstuhl nehmen. Ich zeige Ihnen die Halle der entbehrlichen Bücher.“
Die Kabine bewegte sich ratternd nach unten. Beatrice diskutierte immer noch mit mir. Irgendwie war sie auf den Gedanken gekommen, dass ich ein Problem mit den modernen Medien habe. „Ist es denn so schlimm, dass im Social Web so viel geschrieben wird? Es wird doch so vieles erst durch die Portale möglich. Da gibt es einen riesigen Austausch von Wissen. Kontakte werden geknüpft und vertieft. Und …“
Sie hatte natürlich recht. Zugeben mochte ich das aber nicht. Deshalb versuchte ich ihre Argumentationen von vorneherein abzublocken. „Entschuldigen Sie, Beatrice. Ich weiß, dass wir das Millennium überschritten haben, im Kommunikationszeitalter leben und ich vermutlich ein ewig Gestriger bin. Vermutlich liegt es daran, dass im Alter das Gehirn knorpelig und unflexibel wird. Ich bin ein alter Mann.“
Mit dieser Aussage schaffte ich es wirklich, das Thema zu wechseln. Leider.
„Wie alt sind Sie denn?“ Beatrice stellte mir eine harmlose, ganz alltägliche und simple Frage. Perplex musste ich feststellen, dass ich nicht in der Lage war, sie zu beantworten. Konnte es sein, dass man sein eigenes Alter vergaß? Ich ließ mir meine Verwirrung nicht anmerken. „Alt“, antwortete ich Beatrice betont ruhig.
Etwa zehn Minuten dauerte die Fahrt und wir erreichten so eine besonders tiefe Ebene des Buchlandes. Als wir den Fahrstuhl verließen, entfuhr Beatrice ein kurzer, erstaunter Laut. Kein Wunder, denn das Buchland empfing seine Besucher mit einem Anblick, der stark an ein Gemälde von Salvador Dalí erinnerte.
Zunächst einmal erschlugen jeden Betrachter die unglaublichen Dimensionen der Halle. Einige tausend Meter entfernt konnte man die gegenüberliegende Wand erahnen. Auch nach links und rechts musste man eine ähnlich große Distanz bis zu den angrenzenden Mauern hinter sich bringen. Die Decke, ein gotisches Kathedralengewölbe, wurde von einem Dutzend imposanter Säulen getragen.
Der Boden schien auf den ersten Blick vollkommen leer zu sein. Doch bei genauerem Hinsehen bewegte sich die ebene Fläche leicht. Sie glich einem ruhigen See, dessen glatte Wasseroberfläche nur hin und wieder von einem zarten Windhauch gekräuselt wurde. Kleine Wellen leckten an dem hölzernen Steg, der vom Fahrstuhl aus in die Halle hineinragte.
Das mich ständig begleitende Wispern hatte hier unten eine andere Qualität. Aufgeregt schnatternd, manchmal aggressiv oder wirr und verrückt, hin und wieder auch fröhlich und lachend drangen die Stimmen auf mich ein. Es erinnerte an spielende Kinder.
„Das ist die Halle der entbehrlichen Bücher?“ Beatrice legte den Kopf in den Nacken, um die Decke eingehender zu begutachten. Dann ließ sie den Blick sinken. „Nicht viel los hier. Ziemlich leer. Wo sind die Bücher?“
„Vor Ihnen. Direkt zu Füßen.“ Ich deutete auf das vermeintliche Wasser.
Beatrice hockte sich hin, streckte vorsichtig die Hand aus, tauchte schließlich den Finger in die flüssige Masse.
„Wortbrei“, kommentierte ich, als sie den Finger wieder herauszog und an der gallertartigen Masse roch. „Papier und Druckerschwärze, allerhand Elektronen, ein wenig Licht. Keine Ahnung, was sonst noch alles in dieser Mischung ist.“
Einige Blätter trieben darin. Vereinzelt konnte man auch Kartonagen erkennen. Ein trostloser Anblick.
„Warum sind die Bücher in einem so schlechten Zustand?“ Beatrice hatte eine Miene aufgelegt, als wolle sie einen Welpen aus dem Tierheim retten.
„Es gibt Bücher, die nur sehr wenige Menschen erreichen. Nicht mal Leseratten und Bücherwürmer nehmen sich ihrer an. Diese Bücher bekommen keine Gelegenheit, ihre Magie zu entfalten. Wenn sie überhaupt welche haben. Diese Bücher versauern in ihrer eigenen Existenz.
Andererseits gibt es auch Bücher, die zwar sehr viele Leser gefunden haben, aber kaum eigene Substanz haben. Geborgte Ideen, ausgelutscht und verwässert … Diese Bücher sind von innen heraus so weich, dass sie hier unten im Einerlei der Halle mit den anderen Büchern verschmelzen.“
Ein Taschenbuch trieb heran. Getragen von einer eingetrockneten Schaumkrone präsentierte es uns sein Titelbild. Eine junge Frau warf ihren Kopf in einer lasziven Pose nach hinten. An ihrem entblößten Hals saugte eine blasse Type. Beatrice fischte das durchweichte Teil heraus, hielt es mit zwei Fingern empor, ließ den Papierbrei und einige Buchstaben davon abtropfen. „Ein Vampirroman“, stellte sie mitleidig fest.
„Romantische Vampire“, schnaubte ich verächtlich. „Seit Anne Rice ihren Erfolg mit dem grandiosen Vampirinterview hatte, gibt es tragische Blutsauger biss zum Abwinken. Meistens sind es minderwertige Plagiate! Seit ein paar Jahren bestimmt in dieser Sparte überwiegend nur noch ein hoffnungslos überlaufener Mainstream den Markt. In ein paar Jahren wird man sich an die Mehrheit dieser Machwerke nicht mehr erinnern.
Gleiches gilt für J. R. R. Tolkien. Nach dem Urknall der modernen Fantasy-Literatur kann man sich spätestens seit der Verfilmung vom ‚Herr der Ringe‘ der Orks und Elben kaum noch erwehren.“
„Ich frage mich, warum Sie mir das hier zeigen“, sagte Beatrice schließlich.
„Weil ich möchte, dass Sie etwas schreiben, das es wert ist, geschrieben zu werden.“
„Warum möchten Sie das?“
„Nun … Eigentlich möchten es die Bücher. Die Bücher möchten von Frau Liber ein Buch haben. Nicht irgendeines. Sie möchten das Buch haben.“
Den Blick auf den Nackenbeißer gerichtet, heiser und unsicher, fragte Beatrice: „Warum möchten die Bücher, dass ich schreibe?“
Eine elementare Frage, befand ich. Es war an der Zeit wahrheitsgemäß zu antworten. „Sie sagen, dass durch Ihr Tun erst alles möglich wird.“
„Durch mein Tun? Was wird dadurch alles möglich?“
„Keine Ahnung“, gestand ich.
Beatrice schnaubte unzufrieden. „Wie soll ich einer Anforderung gerecht werden, wenn ich nicht weiß, worin sie liegt?“ Sie stampfte zurück zum Fahrstuhl. „Dieses Possenspiel ist lächerlich! Seit Wochen versuchen Sie mich dazu zu bewegen, dass ich schreibe. Wir kauen die Theorie durch, lesen alle möglichen Bücher. Und jetzt bin ich so weit, will schreiben und Sie sagen mir, dass Sie keine Ahnung haben, warum ich schreiben soll. Verdammt nochmal: Was soll ich schreiben? Was ist so verdammt bahnbrechend und weltbewegend, dass ich es schreiben muss? Ich habe verflucht nochmal andere Probleme als dieses Buch.“
Einige Blasen stiegen aus dem Meer der Bücher auf.
„Ich muss mich um Ingo kümmern“, wetterte Beatrice, „nicht um dieses verkorkste Buchland. Die Qualität von Büchern geht mir, gelinde gesagt, am Arsch vorbei.“ Etwas Hartes schlug von unten gegen die Bretter und ließ den Steg leicht zittern. „Meinetwegen kann die Welt in Schund ersaufen. Ich bin nicht Goethe! Wenn Sie Weltliteratur zu Errettung ihrer Bücher brauchen, dann fragen Sie ihn!“ Wellen schlugen gegen den Steg. Das Holz knirschte protestierend auf. Schon stieg der Brei aus Worten und Papier über einige Planken. Beatrice ignorierte es.
„Mäßigen Sie sich.“ Mit erhobenen Händen versuchte ich sie zu beschwichtigen. „Hier unten sollten Sie sich Ihrem Ärger nicht auf diese Weise Luft verschaffen. Wir sollten oben weiterreden.“
Ich zog sie in den Fahrstuhl und schloss eiligst die Tür. Auf der Fahrt nach oben wagte ich es kaum, Beatrice anzusprechen. Doch es war besser, jetzt nicht zu schweigen. „Niemand erwartet von Ihnen Weltliteratur. Vielleicht genügt schon eine Geschichte, die es vermag, das Fundament des Buchlandes auf irgendeine Weise zu stärken.“
„Welche Geschichte?“ Die Wut verrauchte, machte der Resignation Platz.
„Ich weiß es nicht. Sie sind die Autorin.“
Beatrice verdrehte genervt die Augen. „Jetzt bin ich genau so schlau wie vorhin. Ich weiß rein gar nichts.“
„Ich weiß, dass ich nichts weiß“, zitierte ich. „Das stammt von …“
„… Sokrates. Ich weiß“, unterbrach mich Beatrice.
„Es stammt von Platon“, verbesserte ich. „Und dieser Satz ist ein guter Ausgangspunkt, um neu anzufangen. Wir sollten damit beginnen, unser bisheriges Wissen zu hinterfragen. Vielleicht kommen wir dann dahinter, welcher Art das Buch sein wird, das Sie schreiben müssen.“
Doch dazu kam es nicht mehr.