Читать книгу Buchland - Markus Walther - Страница 9
Von Dampf und Elektrizität
ОглавлениеAls ich am folgenden Tag die Jalousie im Schaufenster hochzog, überkam mich wieder die Wehmut. Ein Umzugswagen stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Fettverkrustet klebte der Dreck auf dem Lack des Führerhauses, bedeckte den darunter fressenden Rost in beinahe kosmetischer Weise. Das Fahrzeug war für das Auge eine Beleidigung. So einem Unternehmen vertraute man sein Hab und Gut nur dann an, wenn man auch auf den letzten eingesparten Cent angewiesen war.
Fünf Männer waren damit beschäftigt, die Einrichtung des Friseursalons zu demontieren und in den Laster zu verladen. Frank stand daneben. Mit gequältem Gesicht überwachte er das Geschehen. Dort wurde sein Leben verpackt. Dreißig Jahre gestopft in Umzugskisten; es konnte einem die Tränen in die Augen treiben.
Die Metzgerei nebenan und der Bäcker an der Straßenecke hatten bereits im vergangenen Herbst aufgegeben. Gegen die Übermacht der Discounter im Industriegebiet konnten sie nicht länger ankämpfen. Immer weniger Leute verirrten sich hierher. Aus der kleinen, feinen Flaniermeile war ein Stück Geisterstadt geworden.
Frank winkte mir höflich zu und ich erwiderte seinen Gruß mit einer angedeuteten Verbeugung. Es knackte dabei verdächtig in meinem Kreuz, doch wenigstens schmerzten meine Beine nicht mehr so sehr wie gestern. Mein Stock lehnte am Sekretär im Arbeitszimmer. Ich hatte ihn tatsächlich dort vergessen. Eigentlich ein gutes Zeichen.
Ich sah mein Gesicht, das sich im Glas der Scheibe spiegelte. Man hätte sich bei diesem Anblick fragen können, ob es jemals jung gewesen war. Doch bevor ich mich in unangebrachter Melancholie verlor, bescheinigte ich mir, dass meine Augen noch wach und listig wirkten.
Nun, dachte ich bei mir, wenn es mir besser geht, dann will ich dafür sorgen, dass auch für Frank der Tag etwas erträglicher wird. Mit einem Zwinkern verabschiedete ich mich von meinem Spiegelbild und setzte meine übliche strenge Miene auf. Ich öffnete die Tür und bedeutete dem Friseur, zu mir zu kommen.
„Guten Morgen, Herr Plana“, sagte er herzlich, „schön, dass ich Sie vor meiner Abreise noch sehe.“
„Es ist also soweit“, stellte ich fest, „Sie denken nicht, dass Sie es noch ein Weilchen bei uns aushalten können, Frank?“
„Gegen die ‚Company‘ kann ich nichts mehr ausrichten. Die Ketten haben die Preise kaputt gemacht. Für Meisterqualität ist niemand mehr bereit, Geld auszugeben.“ Da stand dieser gestandene Mann vor mir, tat souverän und kämpfte doch unverkennbar mit bebender Unterlippe gegen seine Verzweiflung.
„Und wie geht es weiter?“, fragte ich.
„Tja.“ Frank rieb sich kurz über die Augen. Ein Seufzen entfuhr ihm. „Die Einrichtung habe ich einigermaßen gut verkauft bekommen. Damit kann ich einen großen Teil meiner Schulden tilgen. Und die Löhne von den Mädchen kann ich dann endlich auch nachzahlen.
Aber das ist schon alles in die Wege geleitet. Heute Nachmittag setze ich mich in den Zug. In München ist eine Stelle frei. Nichts Weltbewegendes. Wenn ich den Gürtel noch etwas enger schnalle, werde ich über die Runden kommen.“
„Und Ihre Frau?“ Ich bereute meine Frage sofort. Hätte ich es mir nicht denken können? Ein unterdrücktes Schluchzen ließ Franks Schultern kurz zucken. Es war nicht die erste Ehe in unserer Straße, die an der Not gescheitert war.
„Ich muss los“, sagte Frank. Dabei wandte er sein Gesicht ab und schickte sich an, zu gehen.
„Moment“, sagte ich. Ich griff in die Auslage des Schaufensters und nahm ein Buch heraus. „Für die Zugfahrt. Eine ungekürzte Ausgabe von Hans Dominiks ‚Atlantis‘.“
Verblüfft nahm Frank das Buch in die Hand. Der Buchrückentext nahm ihn schon gefangen. „Woher wissen Sie, dass ich gerne alte Science-Fiction lese?“
„Vor einiger Zeit haben Sie doch mal den Jules Verne bei mir gekauft“, log ich. In Wahrheit hatte Frank noch nie zuvor meinen Laden betreten. Doch er nahm meine Worte gar nicht richtig wahr.
„Schön, dass Ihnen der Titel gefällt. Auch angesichts einer Katastrophe können sich wunderbare neue Möglichkeiten auftun.“
Ich las in seinen Augen, dass er darüber nachdachte, ob ich noch immer das Buch meinte.
Eine Stunde später betrat Beatrice meinen Laden. Sie hatte ihre Nervosität mir gegenüber noch nicht abgelegt. In ihrem schwarzen, knielangen Rock und der dezent grauen Bluse, schien sie mit den Schatten der Regale verschmelzen zu wollen. Dennoch begrüßte sie mich dieses Mal bemüht freundlich mit einem „Guten Morgen, Herr Plana.“ Es fehlte nur noch, dass sie dabei einen Knicks machte! Fehlendes Selbstvertrauen kann Menschen klein machen, dachte ich bei mir. Aber ihr Lächeln beeindruckte mich wieder wie gestern.
„Beatrice, schön, dass Sie gekommen sind.“ Ich deutete auf die Auslage. „Sind Sie für einige Schandtaten bereit?“
„Schandtaten?“, fragte sie unsicher.
„Sehen Sie sich mein Schaufenster an. Da liegt die ‚Uralte Nürnbergische Chronica‘ neben Büchners ‚Woyzeck. Eine Tragödie‘, da liegt eine handsignierte Ausgabe der ‚Morgenländischen Märchen‘ und eine Schlesische Zeitung von 1846.“
„Richtige Schätze“, kommentierte Beatrice.
„Das muss alles raus“, sagte ich knapp. Fast augenblicklich spürte ich wieder den Schmerz in den Beinen. Verdammt. „Verpacken Sie das Zeug …“ – au – „… die Bücher sorgsam in Kisten. Alles zum Verpacken finden Sie im Schrank hinter der Theke.“ Ich sog keuchend Luft ein.
„Geht es Ihnen nicht gut?“ Beatrice reichte mir ihren Arm, den ich dankbar ergriff. Ich hatte es mir tatsächlich leichter vorgestellt.
„Bitte bringen Sie mich zu meinem Sessel nebenan.“
Der Weg kam mir endlos vor. Als ich endlich saß, schloss ich die Augen. „Veränderung ist niemals leicht“, sagte ich. Beatrice dachte wohl, dass ich ihr meinen Schwächeanfall erklären wollte, doch eigentlich sprach ich zu den Büchern. „In diesem Haus ist die Zeit eingefroren. Momente auf ewig gebannt auf Pergament und Papier. Leider ist hier die Gegenwart verloren gegangen.“
„Die Gegenwart?“ Beatrice fand wohl, dass sich der Begriff in einem Antiquariat zu abstrakt anhörte.
„Wissen Sie, warum Gott den Menschen schuf?“ Mit meinem scheinbaren Themenwechsel verlor sie endgültig den Faden. „Was nutzt das schönste Kunstwerk, wenn es keinen Betrachter hat? Der Kosmos ist ein Kunstwerk und seine Betrachter erheben es erst aus der Bedeutungslosigkeit. Genauso verhält es sich mit Autoren und ihren Büchern. Erst durch den Leser erfüllen die Wörter ihre Bestimmung.
Und jetzt, liebe Beatrice, schauen Sie sich hier um. Was glauben Sie? Wie viel Bestimmung, wie viel Bedeutung, wie viel Kunst ist noch in diesem Raum?
Niemand liest mehr die alten Bücher. Ich meine: Wirklich lesen. Es gibt Kunden, die möchten hier eine Geldanlage erwerben. Andere brauchen ein Schmuckstück für die Vitrine im Büro. Oder Schüler und ihre Lehrer brauchen Klassiker als Schulstoff. Einen Text zu zerlegen, zu diskutieren, zu analysieren – das ist nicht wirklich lesen. Da ist nur Verstand. Kein Herz. Keine Seele.“ Mein Pessimismus drohte mich in diesem Moment zu erdrücken. Die Schmerzen steigerten sich ins Unermessliche und ein Kloß im Hals machte mir das Atmen schwer. Ein Zittern erfasste mich und ich spürte Panik in mir aufsteigen.
„Beatrice“, keuchte ich, „könnten Sie mir bitte einen Gefallen tun?“
Ihre Haut war aschfahl geworden und die Sorge stand ihr ins Gesicht geschrieben.
„Ein Aspirin?“, fragte sie.
Ich lächelte mühsam. „Danke, nein. Aber es wäre nett, wenn Sie mit der Arbeit noch eine halbe Stunde warten würden. Setzen Sie sich her und nehmen Sie ein Buch. Irgendeines. Lesen Sie mir was vor.“
Ich beobachtete sie eingehend, während sie in den Regalen nach geeigneter Lektüre suchte. Ihre Finger strichen dabei sanft, fast zärtlich, an den Buchrücken entlang. Sie war eine gute Wahl, dachte ich mir. Mein Herzschlag beruhigte sich ein wenig.
Plötzlich blieb sie stehen. Ein Band stand etwas hervor. Sie griff danach und betrachtete den Titel. „Wie wäre es mit ‚Ein Drama in den Lüften‘?“
„Welch eine Überraschung“, stellte ich nüchtern fest. „Jules Verne.“ Mit einer Stunde Verspätung begannen wir endlich, das Schaufenster leer zu räumen. Mir ging es tatsächlich besser und es war mir möglich, ein wenig zu helfen.
„Was sollen wir denn gleich ins Fenster stellen?“ Beatrice staubte gerade eine kleine Miniatur-Staffelei ab.
Ich legte meinen Kopf schief, überlegte kurz. „Was würden Sie denn dekorieren?“
„Ich?“ Sie lachte. „Von einem Antiquariat habe ich wenig Ahnung. Sie kennen doch meine Bewerbungsmappe. Mein Buchladen hatte nur aktuelle Belletristik.“
Ich hatte ihre Bewerbungsmappe natürlich noch nicht gelesen. Ihre Unterlagen ruhten noch immer im Arbeitszimmer auf dem Teewagen.
„Erzählen Sie mir von Ihrem Laden.“
Sie hielt in ihrer Bewegung inne, das Lächeln verschwand. „Da gibt es nicht viel zu erzählen“, sagte sie schließlich. Danach wandte sie sich der nächsten Staffelei zu und putzte das Gestell einen Hauch zu energisch. Es war unmissverständlich: Über ihren Laden würde sie mir, zumindest heute, nichts erzählen. Diese Sprachlosigkeit erinnerte mich wieder an Frank.
„Nun“, sagte ich schließlich, „tun wir einfach mal so, als wäre dies hier Ihr Bücherladen. Was würden Sie im Fenster dekorieren?“
Sie lachte. „Sie nehmen mich auf den Arm.“
Ich stemmte meine Hände in die Hüften und setzte eine gespielt empörte Miene auf. „Sehe ich so aus? Lache ich?“
„Ihr Antiquariat ist aber doch kein Buchgeschäft“, sagte sie.
„Nein?“ Ich tat erstaunt. „Aber was sehen Sie denn hier um sich herum?“
„Bücher“, gab sie zu.
„Sehen Sie.“
„Aber Sie verkaufen alte Bücher. Klassiker.“
„Nehmen wir mal an“, sagte ich, „ich hätte festgestellt, dass dies nicht mehr ausreicht. Sagen wir, dass ich mein Geschäftsfeld erweitern möchte.“
„Möchten Sie das denn tatsächlich?“
„Deshalb habe ich Sie eingestellt.“ Das war zwar nur die halbe Wahrheit. Aber wäre es Gott darum zu tun gewesen, dass die Menschen in der Wahrheit leben und handeln sollten, so hätte er seine Einrichtung anders machen müssen. Zumindest hatte Goethe diese Meinung verfochten. „Liebe Beatrice, es ist so, dass ich dieses Antiquariat seit einer halben Ewigkeit führe. Mit den Jahren habe ich genügend Erfahrung sammeln können. Ich verstehe es wirklich gut, diese Bücher zu hüten. Aber ein Buchgeschäft mit junger Literatur … Dazu brauche ich Ihr Gespür.“
Beatrice schien darüber nachzudenken. Die Vorstellung aus dieser literarischen Schatzkammer ein profanes Buchgeschäft zu machen, widerstrebte ihr offensichtlich. Aber natürlich barg es auch einen gewissen Reiz.
„Wir könnten vielleicht mit einem Thema anfangen. Etwas, was die Leute überrascht. Etwas, das nicht zu weit von den antiquarischen Titeln abrückt und dennoch was ganz Neues ist.“ Ihr Vorschlag begeisterte sie selbst. „Eine Kombination von alt und neu. Nehmen wir zum Beispiel den Verne. Den kennt jeder. Und dazu etwas zeitgenössische Science-Fiction. Oder besser Steam Punk.“
Jetzt hatte ich sie. In diesen Augenblicken, als sie die Auslage plante, war ein Teil ihres Selbst zurückgewonnen.
„Steam Punk?“, fragte ich und heuchelte Ahnungslosigkeit.
„Zukunftsgeschichten im Retrolook“, erklärte sie beiläufig. Im Geiste schien sie bereits die Dekoration zusammenzustellen. „Mit diesen Titeln kenne ich mich zwar noch nicht so gut aus, aber mit ein wenig Recherche … Haben Sie Internet?“
Innerlich frohlockte ich. Doch ich hielt meinen Enthusiasmus zurück. „Natürlich habe ich einen Internetzugang. Im Arbeitszimmer. Kommen Sie.“
Beatrice war im Türrahmen stehen geblieben. Links von ihr stand der Ohrensessel. Geradeaus war die Tür, die zum Keller führte, daneben die Tür, die die Stiege ins Obergeschoss verbarg. Überdies gab es meinen Sekretär, meinen Bürostuhl und ansonsten nur Bücher. Die Regale verbargen alle Wände und erhoben sich bis unter die Decke. „Wo steht denn der PC?“
„PC?“, ich räusperte mich. „Sie haben mich nach einem Internetzugang gefragt. Dazu brauche ich keinen PC.“ Ich humpelte auf die andere Seite. Zwischen den beiden Türen befand sich ein großer runder Drehschalter. „Mein Maschinentelegraph“, erklärte ich süffisant, griff nach ihm und wählte die Einstellung „iNet“.
Irgendwo tief unter uns grollte es. Die Deckenlampe begann zu flackern und der Boden vibrierte. Beatrice entfuhr ein erschrockener Schrei, als sich einige Platten des Parketts zunächst seitwärts schoben und dann mit einem mechanischen Klacken in der Tiefe versanken. Ein etwa drei mal drei Meter großes Loch tat sich in der Mitte des Raumes auf. Dann Stille.
„Vermaledeit“, sagte ich. Aber es lag kein Zorn in meiner Stimme. Vielmehr ergötzte ich mich am verblüfften Gesichtsausdruck Beas. „Es klemmt schon wieder.“ Aus der untersten Schublade des Sekretärs holte ich einen überdimensionalen Schraubenschlüssel hervor. Damit hieb ich einmal kräftig in die Schwärze der Tiefe. Volltreffer. Mit einem Rattern erhob sich eine überdimensionale Apparatur über den Horizont des hölzernen Bodens.
Zentralstück war ein in blassen Sepiafarben leuchtender Monitor. Davor ruhte eine viktorianische Schreibmaschinentastatur. Das ganze restliche Drumherum, die Peripherie, schien auf den ersten Blick ausschließlich aus Zahnrädern, Pumpen und Schläuchen zu bestehen. Ein winziges Oszilloskop nahm seine Arbeit auf. Einige Lochstreifen gerieten auf der Rückseite in Bewegung.
Eigentlich hätten wir direkt mit der Arbeit anfangen können, doch zunächst musste ich meiner lieben Beatrice sanft den Unterkiefer hochklappen.
Noch immer entfalteten sich einige Gerätschaften an den Seiten. Ein überproportionaler Drucker inklusive Farbwanne und Walzen, ein Fotoapparat, nebst Magnesiumblitzlicht. Gläserne Röhren, Dampfpumpen und Plasmakugeln nahmen ihren Betrieb auf.
Kurz bevor das Gerät endgültig zur Ruhe kam, klappte sich an oberster Stelle ein kleines Fähnchen auf. Darauf stand in werbewirksamer Schrift, umgeben von einem mit flottem Pinsel gemalten Kringel: „Positrons inside.“
Ich schob Beatrice den Bürostuhl heran und drückte sie sanft auf die Sitzfläche. Zu eigenständigen Handlungen war sie im Moment nicht fähig.
Ein Textcursor bewegte sich auf dem Monitor.
+++ Verbindung wird aufgebaut +++ Weltweites Netz +++ http://+++ Suchbegriff [bitte um Eingabe]
„Gut“, sagte ich, „legen Sie los.“
„Muss man das Teil nicht noch irgendwo aufziehen?“ Ihre Frage war sarkastisch gemeint. So versuchte sie, ihr Erstaunen und Zweifeln zu überspielen.
„Erst, wenn der Dampfkompressor leer ist“, antwortete ich vollkommen ernst, „die Zugfeder liefert nur den Notstrom.“
Die Zeit verging und Beatrice freundete sich Schritt für Schritt mit der eigenwilligen Hardware an. Die Informationen, die sie dem Internet entlockte, notierte sie mit einem billigen Kugelschreiber auf einem Notizzettel. Bis zum Abend hatte sie an die dreißig Autoren herausgesucht, die für unsere Werbeaktion in Frage kamen. Es waren aktuelle Titel und – sehr zu meiner Freude – auch einige vergriffene Titel dabei. Eine gesunde Mischung aus alt und neu.
Als ich ihr am Abend meine Taschenuhr vors Gesicht hielt, war sie überrascht, dass ihr Arbeitstag schon vorbei war.
„Ich würde sagen, wir machen für heute Feierabend. Morgen ist auch noch ein Tag.“
Und was war das für ein Tag! Neben einer ganzen Menge Arbeit, hielt er einige Überraschungen für Beatrice bereit. Doch zunächst musste ich Bea davon überzeugen, dass wir nicht das „Verzeichnis lieferbarer Bücher“ bemühen mussten. Ich reichte ihr den Zettel mit ihren Notizen. Dann drehte ich den Maschinentelegraph zunächst auf null, damit der Rechner wieder in seiner Versenkung verschwand. Nachdem sich der Boden wieder geschlossen hatte, war der Weg zur Kellertür frei.
„Dort unten werden Sie alles finden, was Sie brauchen.“
„Sie haben recht“, sagte Beatrice, „schauen wir erst mal, welche der älteren Titel in Ihrem Fundus ruhen.“
Ich verdrehte die Augen und wiederholte einfach nochmal meinen letzten Satz. „Dort unten werden Sie alles finden, was Sie brauchen. Vertrauen Sie mir. Einige Bücherregale sind alphanumerisch nach Autoren sortiert. In den vorderen Regalen sind die jüngeren Ausgaben. Je weiter Sie sich in die hinteren Ränge vorwagen, desto älter sind die Werke. Aber ich schlage vor, dass Sie nicht zu tief hineingehen, solange Sie sich in meinem Antiquariat noch nicht auskennen. Später zeige ich Ihnen dann den besten Umgang mit dem Faden …“
„Dem Faden?“, unterbrach sie mich.
„Der Keller hat einige spezielle …“, ich suchte nach dem richtigen Wort, „Eigenheiten. Der vordere Bereich ist weitestgehend ungefährlich. Doch dem Unbedarften könnten in den hinteren Gängen einige Überraschungen begegnen. Wer mit der Schnur umzugehen weiß, findet dann wenigstens auf einem sicheren Weg wieder hinaus.“
Bea schluckte. „Wir reden noch immer über Ihren Keller?“ Wenigstens tat sie meine Worte nicht als aberwitzig ab. Ich glaube, der vorangegangene Tag hatte sie ausreichend für die Besonderheiten meines Antiquariats sensibilisiert.
Ich öffnete ihr die Tür. Die in Stein geschlagenen Stufen wanden sich hinab und die Finsternis wurde nur von einigen Glühbirnen in die trockenen Fugen zwischen den Steinen verbannt. Sehr stimmungsvoll, dachte ich bei mir, und hörte im Irgendwo das Echo eines leisen Kicherns.
Bea zögerte kurz und als sie schließlich hinabstieg, bemerkte ich voller Genugtuung, wie vorsichtig und fast ängstlich sie einen Fuß vor den anderen setzte. Beinahe wäre ich der Versuchung erlegen laut „Buh!“ zu rufen. „Kindskopf!“, schalt ich mich selbst.
Ich beschloss, im Ohrensessel auf sie zu warten. Den Kopf an die Seitenstütze angelehnt, schloss ich meine Augen. Auf der schwarzen Leinwand meiner Lider war es mir, als könnte ich Beatrice sehen, wie sie unten ankam. Dutzende Regalreihen, nebeneinander angeordnet und scheinbar unendlich lang.
Von A wie Aabe bis Z wie Zypkin waren alle Schreibenden vertreten. Selbst die seltenen Werke von Hildegunst von Mythenmetz oder Norbert dem Leisen standen dort, eingerahmt von Hemingway, Schiller und Honoré de Balzac.
Beatrice würde nicht lange suchen müssen. Wie ich meine Bücher kannte, waren sie nur allzu bereit, ihr zufällig in die Hände zu fallen oder lässig in vorderster Sortierung auf sie zu warten. Vielleicht würden sie auch etwas mehr Licht auf sich lenken oder raschelnd auf sich aufmerksam machen. Ob Bea schon nach so kurzer Zeit bereit dafür war, wusste ich nicht. Aber der menschliche Geist ist immer wieder verblüffend: Entweder akzeptiert er seine Welt mit einem ignoranten Schulterzucken als von Gott geben, oder er nimmt die Andersartigkeiten um sich herum erst gar nicht wahr. Manchmal scheint das leichter zu sein als Wunder mit offenen Armen anzunehmen.
Trotzdem gab ich mich der Hoffnung hin, dass Bea …
Die Tür flog auf. Beatrice stampfte keuchend herein. Auf ihren Händen balancierte sie einen Stapel Bücher. In ihren Augen stand die nackte Panik. Hinter ihr tobte das Chaos. Ohrenbetäubender Lärm drang von unten herauf und eine Staubwolke drängte an ihr vorbei. Es roch plötzlich nach Papier, Staub und altem Holz.
Bea stolperte und während sie noch verzweifelt um ihr Gleichgewicht rang, kippten ihr bereits die Bücher aus den Händen und fielen polternd zu Boden. Ich sprang auf und es gelang mir, wenigstens Bea aufzufangen. Der Schmerz in meinem Rücken und in den Beinen war verheerend. Kurz wurde mir schwarz vor Augen, doch ich hielt sie, bis es ihr gelang, wieder auf eigenen Beinen zu stehen.
Dann umgab uns Stille. Was auch immer im Keller geschehen war, es hatte geendet.
„Es tut mir so leid“, wimmerte Beatrice. Tränen rannen ihr über das Gesicht. „Es tut mir so leid!“
Ich ahnte es bereits. Trotzdem musste ich mir Gewissheit verschaffen. „Was ist passiert?“, fragte ich atemlos, während ich mich keuchend zurück in den Sessel fallen ließ.
Ihre Lippen bebten. „Die Regale“, brachte sie mühsam hervor. „Ich habe sie kaum berührt. Es … es war nicht meine Schuld.“
Mein Blick flog zu den Büchern, die auf dem Boden verteilt waren. Der harte Aufprall hatte einigen von ihnen den Rücken abgetrennt oder einige Seiten herausgerissen.
„Ich verstehe nicht ganz, was in sie gefahren ist“, sagte ich.
„Nichts“, beteuerte Beatrice, die sich selbstverständlich angesprochen fühlte. Auf eine Richtigstellung verzichtete ich.
„Ich habe die Liste der Reihe nach abgearbeitet“, erklärte Beatrice. „Eigentlich kam ich ganz gut zurecht. Obwohl die Auswahl riesig ist. Wissen Sie eigentlich, was dort unten für ein Vermögen steht?“ Ich nickte geistesabwesend. „Als ich alle Titel beisammen hatte, wollte ich wieder nach oben kommen. Da habe ich den Bücherwagen gesehen. Darauf lag …“, ein Schluchzen unterbrach sie. „Darauf lag das Buch.“
„Welches Buch?“
Sie zögerte. „Meines.“
Ich zog eine Augenbraue hoch. „Sie haben ein Buch veröffentlicht?“
„Nein“, stieß sie heftig hervor. „Das habe ich natürlich nicht!“
„Natürlich?“
„Ich bin keine Autorin. Ich bin Buchhändlerin … gewesen.“
„Natürlich.“
Sie sammelte die Bücher vom Boden ein. Es lag ein tiefes Bedauern in ihren Augen, als sie die Schäden begutachtete. „Ich komme dafür auf“, sagte sie.
„Geben Sie sie mir“, bat ich. „Und dann erzählen Sie mir von Ihrem Buch.“
„Mein Buch … ist eigentlich nur eine lose Zettelsammlung in der untersten Schublade meines Schreibtischs gewesen. In meinem Buchladen.“ Sie zögerte. „Die letzten Monate war da nicht mehr so viel los gewesen. Zwischen den paar Kunden, die sich in den Laden verirrten, war immer viel Zeit gewesen. Aus lauter Langeweile habe ich mit dem Schreiben angefangen. Es war so eine Art Tagebuch.“
„So eine Art?“, hakte ich nach.
„Ja“, antwortete sie. „Ich habe das Tagebuch in Romanform geschrieben. Albern, ich weiß.“
Ich schüttelte sanft den Kopf. „Schreiben ist niemals albern. Selbst Immanuel Kant hat mal mit einem leeren Blatt Papier angefangen. Ich denke, selbst er wusste nicht, wohin ihn seine Feder eines Tages führen würde.“
Bea wirkte verlegen. Aber wenigstens beruhigte sie sich wieder. „Von den großen Meistern ist mein Geschreibsel so weit entfernt, wie die Erde vom Zentrum der Milchstraße. Im Grunde habe ich nur den Untergang meiner kleinen Firma dokumentiert.“ Damit hatte sie, ganz beiläufig und ohne es so richtig zu wissen, mehr verraten, als sie eigentlich wollte. Ich ließ mir nichts anmerken. „Eine Pleite ist nichts Spannendes. Als ich den Laden schloss, gehörte das gesamte Inventar bereits meinen Gläubigern. Nichts durfte ich mitnehmen. Auch der Tisch blieb da …“
„Und Sie haben Ihr Manuskript in der untersten Schublade liegenlassen?“
„Ich hätte es wegwerfen sollen!“, brach es aus ihr heraus. Wie viel Zorn doch unter ihrer unscheinbaren Oberfläche brodelte. Es war faszinierend, dass sie dabei den größten Groll gegen ihr Buch hegte. Anstatt mit dem Schicksal oder den Gegebenheiten, die zur Geschäftsaufgabe führten, zu hadern, hasste sie das Papier, auf dem sie sich die Seele frei geschrieben hatte.
„Und Ihr Manuskript lag in meinem Keller?“ Ich tat ahnungslos. „Wie sollte es dorthin gekommen sein?“
Sie holte tief Luft, wollte etwas sagen und … blieb sprachlos.
„Oder war es sogar schon gedruckt und gebunden?“
Ihr Mund klappte mehrmals auf und zu. Schließlich brachte sie doch einige zögerliche Worte zustande: „Es sah zumindest so aus. Ich muss mich geirrt haben.“
„Bestimmt“, erwiderte ich. „Und darüber haben Sie sich so erschrocken, dass Sie rückwärts gegen ein Regal gestolpert sind. Dieses ist dann bestimmt umgestürzt und hat in einem Dominoeffekt einige weitere Regale mitgerissen.“
Sie ließ meine Vermutungen über sich ergehen. Ihr Geist fraß mir die erfundenen Erinnerungen förmlich aus der Hand.
„Bestimmt“, sagte sie. Es klang fast, als wäre sie in eine leichte Trance gefallen. „So muss es gewesen sein.“
„Wissen Sie was“, sagte ich, „ich werde mich darum kümmern. Nehmen Sie diese Bücher hier und dekorieren Sie sie wie besprochen im Fenster.“
„Aber die Bücher sind kaputt.“ Bea deutete auf die Stelle, an der eben noch lose Seiten aus den Buchdeckeln herausragten. Doch auf meinem Schoß lag nur saubere, sorgfältig gebundene Lektüre. Fabrikneu, wie es schien.
„Bestimmt haben Sie sich auch hierbei geirrt.“ Ich lächelte. „Hier ist alles unversehrt.“
Als sie damit begann, im Schaufenster zu arbeiten, machte ich mich auf den mühsamen Weg in den Keller. Ich hatte dort ein ernstes Wörtchen zu sprechen.