Читать книгу Buchland - Markus Walther - Страница 18
Der Kuss der Muse
ОглавлениеDie Aussicht, die sich uns vom Rücken des geflügelten Pferdes aus bot, war selbst mir vollkommen neu. Zwischen dem Deckengewölbe und dem Bücherlabyrinth waren in diesem Teil des Kellers gut zehn Meter Raum. Säulen ragten an verschiedenen Stellen empor, trugen die Last des Steins und die Last der Jahrhunderte. In atemberaubenden Manövern glitt Pegasos mit ausgebreiteten Schwingen dazwischen hin und her. Sein leuchtendes Fell tauchte die Welt aus Papier und Holz in ein eigentümliches blaues Licht und gab uns die Gelegenheit, weite Teile des Kellers zu überblicken.
Bald schon erreichten wir Gefilde, die selbst ich nur äußerst selten, oder auch gar nicht, auf meinen weiten Wanderungen durch das Buchland zu Gesicht bekommen hatte.
Plötzlich legte sich das Tier in eine scharfe Rechtskurve und hielt direkt auf die in Fels geschlagene Wand zu. Beatrice und auch mir entfuhr ein erschrockener Schrei. Doch bevor wir am Stein zerschellten, ließ Pegasos sich mit eng angelegten Flügeln fallen, tauchte mit uns hinab in eine fast unsichtbare Öffnung in der Wand. Im nächsten Augenblick waren wir im Freien, spürten die Wärme des Sonnenlichts in unseren Gesichtern.
Pegasos landete auf grauem, staubigem Boden und knickte unmissverständlich wieder die Vorderläufe ein. Rasch glitten wir von dem Pferderücken herunter. Während wir uns noch zu orientieren versuchten, hob Pegasos bereits wieder ab und verschwand schon bald am fernen Horizont.
„Ist das die Akropolis?“ Beatrice deutete auf die Bergkuppe vor uns. Marmorne Säulen ragten von dort aus in den Himmel, trugen ein Palastgebäude.
„Zumindest nicht die in Athen“, wagte ich eine erste Einschätzung. Wir standen auf einem Felsplateau. Um uns herum war eine wild zerklüftete Berglandschaft. Im Stein hinter uns war ein schmaler Durchlass, in dem ich einige Bücherregale des Kellers erahnen konnte. Eine eigenwillige Perspektive. „Schon mal was vom Olymp gehört?“
„Olymp?“
„Der Götterberg. Die Musen sind die Töchter des Zeus. Kalliope wohnt hier bei ihrem Vater, wenn ihr Mann auf Geschäftsreise ist.“
„Ihr Mann?“
„Apollon. Er wird wohl gerade die ersten Vorbereitungen für den Frühling treffen. Keine Ahnung, was man als griechische Gottheit in unseren Zeiten noch so zu tun hat.“ Endlich konnte ich wieder die Führung übernehmen. Hoffte ich.
Beatrice schaltete ihr Erstaunen ab und wurde wieder ganz pragmatisch. „Müssen wir da hoch?“
„Ich glaube nicht, dass dies ratsam wäre. Der Club dort oben ist doch recht exklusiv. Aber vielleicht hat Pegasos unser Kommen angekündigt.“
Ich setzte mich auf einen großen Stein und bedeutete Beatrice, neben mir Platz zu nehmen.
„Waren Sie schon mal hier?“, fragte Beatrice.
„Oh, das ist lange her. Ich kann mich kaum noch daran erinnern.“ Das war wirklich so. Jetzt, wo ich versuchte mir diesen Besuch nochmals konkret ins Gedächtnis zu rufen, wusste ich weder den Anlass noch den Zeitpunkt. War es möglich, dass ich ein solch denkwürdiges Geschehnis einfach so vergessen konnte? In mir schlummerte die Erinnerung an diesen Ort, blass und fade. Wenn ich mich hier umschaute, war es mir, als würde ich alles wiedererkennen. Aber die Reminiszenzen waren vage wie ein Déjà-vu.
Verunsichert wechselte ich das Thema. „Ich denke, dass Kalliope gleich zu uns kommen wird. Vielleicht bringt sie Ihren Dämon mit.“
„Meinen Dämon? Was denn für einen Dämon?“
„Aus heutiger Sicht ist das kaum zu erklären. Die Künstler unserer Zeit sind zu eitel, als dass sie bereit wären, einen Teil an ihre Genien abzugeben. In der Antike war dies anders. Man sprach davon, dass man ein Daimonium habe, das einem die Ideen einflüstere. Das war recht praktisch. Wurde etwas verbockt, dann war auch der Dämon schuld.“ Ich ließ meine Augenbrauen ironisch zucken. Beatrice quittierte dies mit einem kleinen Lachen, das ich dankbar annahm. „Das Daimonium lässt sich am leichtesten als kreatives Ich, als Gewissen oder auch Seele in unsere Zeit übertragen.“
Beatrice fragte: „Wie sieht denn so ein Daimonium aus?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Sokrates hat es damals ziemlich bildhaft beschrieben. Aber gesehen hat es bei ihm niemand. Weil er selbst es im wahrsten Sinne des Wortes anpries, nahmen ihm das einige seiner Mitmenschen besonders übel.“
„Ich würde meinen Dämon gerne mal kennenlernen“, flüsterte Beatrice an sich selbst gewandt. „Kalliope bringt ihn mit?“
Wir zuckten beide zusammen, als hinter uns plötzlich eine leise, kiksende Stimme sprach. „Sie braucht mich nicht mitzubringen. Bin immer bei dir.“
Auf Beatrice’ Schulter hockte ein kleines und überaus nacktes Kerlchen. Sein Äußeres ließ sehr zu wünschen übrig. Kurze Beine, ein kugelrunder Bauch und ein fast gleichgroßer Kopf, der geziert mit Ohren, die den Flügeln von Fledermäusen glichen auf einem viel zu dünnen Hals wackelte.
„Bin ein kümmerlicher Anblick“, feixte das Wesen mich an. Ein kleiner Rülpser entfuhr ihm. Er lächelte entschuldigend und entblößte dabei eine Reihe spitzer Reißzähne. „Is’ nich’ meine Schuld. So sieht man halt aus, wenn man so lang unterdrückt wird.“ Dabei warf er Beatrice einen vorwurfsvollen Blick zu. „Aber das ändert sich gleich. Da kommt Kalliope.“ Er deutete den Berg hinauf. Vor der Akropolis formte sich das leuchtende Gegenstück eines Schattens, der uns durch die Luft schwebend entgegenglitt.
Der Dämon lachte wie ein Schuljunge, der gleich seine Mitschüler beim Direktor verpetzen wollte. Doch als Kalliope den Boden vor uns erreichte, kroch der Dämon an Beatrice herunter und versteckte sich feige hinter dem Stein, auf dem wir saßen.
Ihre Göttlichkeit Kalliope stand nun vor uns. Eine hochgewachsene und – wie soll ich sagen? – angenehm beleibte Frau stand dort. Gewandet in ein beinahe transparentes Tuch, das lose über die rechte Schulter hing, eine Brust und ihre Blöße bedeckend bis zum Boden an ihrer makellosen Haut hinunter floß.
Ihre schwarzen Haare, die fast ebenso lang waren, wehten in einem für uns nicht spürbaren Wind, als sie uns die wenigen verbleibenden Schritte entgegenkam.
Kalliope reichte zunächst mir die Hand. Dabei lag ein seltsamer Ausdruck in ihren Augen. Er ließ sich am besten mit „wohlwollendem Mitleid“ beschreiben. Als sie sanft zu sprechen begann, lag ein leises Echo in jeder Silbe: „Dir kann ich leider keine Inspirationen schenken. Dein ganzes Selbst ist angefüllt mit geborgten Ideen. Es ist gut, dass die Bücher deine Freunde sind. Bewahre dir ihre gute Gesinnung.“
Ich schluckte, bemüht den Kloß im Hals loszuwerden. Krampfhaft suchte ich nach Worten, wollte etwas erwidern. Doch mein Geist war wie leergefegt.
Dann drehte Kalliope sich schon zu Bea, ergriff feierlich beide Hände. „In dir schlummert so viel Schmerz. In dir schlummert so viel Liebe. Eingeschlossen in einem starken Herz, das bis zum Bersten gefüllt ist. Lass es heraus. Nichts davon wird verloren gehen, wenn du es auf Papier bannst.“
Ich rief mir diesen ersten Vormittag in Beas Wohnung ins Gedächtnis zurück: Das Foto ihrer Eltern, ihr alkoholkranker Mann, die im Keller verwahrte Babygarnitur. Kalliope nickte mir zu.
„Das ist die Geschichte, die in ihr schlummert.“
„Ich werde kein Buch schreiben“, protestierte Beatrice kraftlos. Ihre Stimme klang matt und verloren, als wäre sie in Trance.
„Diese Wahl hast du nicht. Du wirst schreiben. Deiner Gabe kannst du nicht entfliehen.“
„Ich kann doch nicht über mich selbst schreiben.“
„Dann verfremde! Schreibe deine Geschichte. Aber schreibe nicht über dich. Lade deine Gefühle auf das Papier. Alles, was schwer ist, dich belastet … Papier ist stark. Es kann viel tragen.“
Kalliope beugte sich vor, hauchte Beatrice zärtlich ins Ohr, küsste ihren Hals.
Der Dämon kam aus seinem Versteck hervor, schaute Kalliope misstrauisch an. Doch sie sagte zu ihm: „Hab keine Angst mehr.“
Und der Dämon veränderte sich. Es war, als würde ein neues Wesen durch seine Poren gelangen, ihn von innen heraus eine andere Gestalt durchdringen. Seine Haut bekam die Farbe von weißem Marmor, seine Augen verloren alle Feindseligkeit. Sie glänzten nun blau. Sein Körper streckte sich, sein Kopf bekam angenehmere Proportionen.
Bevor ich aber sein Äußeres genauer betrachten konnte, löste er sich in weißen Dunst auf. Der Dunst trieb hinauf in Beas Gesicht, die ohne es zu merken ihr Daimonium einatmete.
Kalliope nahm Beatrice’ Gesicht in die Hände, strich mit dem Daumen über die Unterlippe. „Hab keine Angst mehr.“
Beatrice schloss die Augen. Kalliope schloss die Augen. Ihre kaum geöffneten Lippen berührten sich. Die Zeit blieb stehen.
Ich kam mir seltsam körperlos vor. Kann man sich selbst vergessen? Dort waren nur noch diese beiden Frauen. Und ich. Körperlos. Vom Geist befreites Betrachten eines unglaublichen Augenblicks.
Nichts weiter geschah.
Bis sich ihre Lippen wieder voneinander lösten.
Ein Augenblinzeln später – und wir waren allein auf dem Plateau. Nichts zeugte noch davon, dass wir solch hohen Besuch bekommen hatten.
„Wir sollten uns auf den Rückweg machen. Ohne Pegasos Hilfe dürfte es ein langer Marsch werden.“ Ich ging durch den Riss im Fels, den Büchern entgegen. Beatrice war still und in sich gekehrt, überließ mir die Führung und folgte mir in einem Abstand von zwei Metern.
Sie brauchte Zeit. Ich gab sie ihr.
Verdammt! Ich selbst brauchte auch Zeit. Immerhin hatte mir Kalliope mitgeteilt, dass ich durch sie nicht inspiriert werden könne. Wie sollte ich das deuten?
Keine Ahnung, wie lange wir schweigend durch die mir so vertraute und doch so fremde literarische Welt schritten. Es musste längst tiefste Nacht sein. Meine Glieder waren steif und schwer. Aber wenn wir nicht zwischen den Regalen schlafen wollten, blieb mir nichts anderes übrig, als mich weiterzuschleppen. Im Vorbeigehen las ich die Buchtitel, um mich zu orientieren.
Irgendwann sagte ich „Zhang Yiping.“
Beatrice schreckte aus ihren Gedanken hoch. „Was?“
„Zhang Yiping. Wir haben die chinesischen Schriftsteller erreicht. Hier stehen die Bücher, die nach der Kulturrevolution verfasst wurden.“
Beatrice schaute sich kurz um. „Was bedeutet das für uns?“
„Das bedeutet“, seufzte ich schwer, „dass unser Fußmarsch noch ungefähr zwei Stunden dauern wird.“
„Über Musenpferde haben die Chinesen wahrscheinlich nicht geschrieben.“
„Eher über Drachen. Als Reittier dürften sie eher ungeeignet sein. Da möchte ich lieber keine Experimente wagen.“
Also trotteten wir weiter. Und um mich ein wenig von meinen Schmerzen abzulenken, versuchte ich mehrmals Beatrice ein Gespräch aufzuzwingen. Meine Bemühungen blieben erfolglos. Sie war zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Ich gab es schließlich auf und war umso überraschter, als sie irgendwann von selbst zu reden begann.
„Mich hat die Tochter eines Gottes geküsst.“
Ja, das konnte einen tatsächlich zum Grübeln bringen. „Das können nicht viele Menschen von sich behaupten“, stellte ich fest. „Schlimm?“
Beatrice schüttelte nachdenklich den Kopf. „Nein. Schlimm ist das nicht. Wenn man davon absieht, dass ich katholisch erzogen wurde und mich selbst als modern und aufgeklärt betrachte. Was …“
„Ja?“
„Was ist mit dem Urknall?“
„Was soll mit ihm sein?“
Beatrice kaute auf ihrer Unterlippe. „Die Dinge sind für mich nicht mehr so, wie sie sein sollten. Ich meine … Der Götterfels! Das ist Teil einer vergangenen Religion. Wir leben im Zeitalter der Wissenschaft.“
„Wissenschaft ist auch nur eine Religion. Man kann an sie glauben. Denn sie beantwortet viele Fragen unserer Zeit. Die Existenz der antiken Götter hat auch viele Fragen jener Zeiten beantwortet.“
„Wissenschaftler können ihre Theorien aber belegen“, wandte Beatrice ein.
Ich nickte zustimmend. „Ja. Ebenso wie die Katholiken, Juden, Muselmanen in den Jahrhunderten zuvor, suchen nun Wissenschaftler und Mathematiker nach Beweisen für ihre Theorien. Sehr erfolgreich, das muss ich zugeben.
Aber wenn die Jünger der Wissenschaft an alle ihre Ergebnisse glauben, … dann ist es eben genau das: eine Glaubenssache.“
„Eine sehr philosophische Einstellung“, stellte Beatrice fest.
„Oh! Philosophie“, frohlockte ich. „Die einzige Religion, die nie die absoluten Antworten zu geben wusste, aber immer die richtigen Fragen gestellt hat.“
Einige Schritte später blieb Beatrice stehen. In ihrem Gesicht arbeitete es angestrengt. „Kalliope ist real. Ich habe sie berührt. Ihre Existenz ist für mich somit bewiesen.“
„Natürlich“, erklärte ich. „In den Büchern dieser Welt sind alle Religionen, alle Wissenschaften und alle Philosophien zu finden. Niedergeschrieben und festgehalten für die Ewigkeit. Zwischen den Buchdeckeln sind sie real. Warum also, liebe Beatrice, sollten Sie denn im Buchland nicht auch die antiken Götter finden?“
„Haben sie Macht?“
„Sie wurden geküsst. Sagen Sie es mir.“
„Mir rast der Kopf“, sagte Beatrice. „Ich … ich habe Ideen.“
„Dann haben sie Macht. Nicht wahr?“