Читать книгу Mutters Wahn - Martin Goyk - Страница 10
1.1.3 Begegnungen auf dem Wall
Оглавление„Alles ist erotisch!“ hatte Elvira einmal einen bekannten Dichter in einem Interview zur Bedeutung der Erotik in der Literatur sagen hören. Was ihr damals fraglich erschien, bejahte sie jetzt. Gibt es etwas Wichtigeres im Leben, dachte sie, zumindest in bestimmten Zeiten? Seit dem Opernbesuch hatte sie das Gefühl, dass ihre kleine Welt mit der großen verschmolz. Und erotischer geworden war. Früh auf dem Weg zur Arbeit ging sie jetzt täglich an einem Blumengeschäft vorbei, kaufte sich eine Kamelie, wie sie die Protagonistin der Oper getragen hatte, und steckte sie sich ins Haar. Das ging seit Wochen so. Es muss nicht gesagt werden, welche Ausstrahlung eine so anmutige junge Dame wie Elvira dadurch erhielt. Natürlich folgten bewundernde, ebenso wie neidische und abwertige Bemerkungen. Ja, sogar: „Ach, das ist wohl so eine..?“ Gerümpfte Nasen. Elvira störte es nicht. Sie strafte Zweifler und Neider mit einem gewinnenden Lächeln. Ellen sagte zu ihren Kolleginnen im Gewerkschaftshaus: „Unsere Elvira ist halt zur Zeit ein bisschen verrückt. Aber wenn Verrücktheit so aussieht – wer wollte es dann nicht sein?“
Am Nachmittag nach dem Dienst ging Elvira gern die fünfhundert Meter zum Rossgärter Tor hinauf, hoffte wohl auch immer ein bisschen, am Oberteich auf den Professor zu stoßen – und schlenderte dann über den Wall an der Litauer Wallstraße zurück nach Hause.
Im neunzehnten Jahrhundert war Königsberg neu befestigt worden. Angeregt durch die gerühmte neue Befestigung von Paris im Jahre 1840 und durch eine gefühlte neue Bedrohung durch Russland. Die alten Anlagen waren zudem nicht einmal mehr zur Abwehr von Schmuggel und Desertionen tauglich gewesen. Schwerpunkte waren eine Nord- und eine Südfront. Auch das alte Fort Friedrichsburg wurde modernisiert. Generäle und Künstler kamen mit ihren Vorschlägen zu Wort. Es sollte ein zweckmäßiges und ästhetisch befriedigendes Bild von Wällen und Gräben, Bastionen und Kasematten entstehen. Die Erdaufschüttungen an den Gräben wurden mit Bäumen bepflanzt. Die Tore, neogotische Backsteinbauten, Festungs- und Verkehrsanlagen in einem, mit Medaillons und Standbildern von Männern der preußischen Geschichte geschmückt. Am Rossgärter Tor mit Scharnhorst und Gneisenau. Diese Herren hatte sich Elvira am besten eingeprägt. Auch die Personennamen der Medaillons am Sackheimer Tor von Bülow und York fielen ihr relativ rasch wieder ein. Ganz in der Nähe hatte ihre Schule gelegen und als Kinder hatten sie beim Spiel oft um die Namen gewetteifert. Schwierigkeiten hatte sie stets an dem wohl berühmtesten Tor ihrer Vaterstadt: dem Königstor. Meist lief sie an den Toren ohne Bedacht vorbei, genoss das Grün rechts und links auf den Wällen, wo Baumkronen mitunter regelrechte Tunnel bildeten. Als sie diesmal vor dem Tor stehengeblieben war, wieder rätselte und mit dem Finger auf den Ersten zeigte, halblaut „Ottokar“ sagte – fuhr über ihr eine Stimme fort: „Ja, schöne Kameliendame, der Böhme, der als Gründungsvater der Stadt gilt, daneben Herzog Albrecht, der Universitätsgründer. Nur der ganz rechts, Kurfürst Friedrich III., weiß nicht, warum er hier steht: ein Prolongeur, sein Vater hat Stadt und Staat vorangebracht, er selbst war von Natur aus eher benachteiligt, hat vielleicht deshalb auf dem Denkmal bestanden?“
Elvira drehte sich um. Ein langer Blondschopf in etwas abgerissener Kleidung stand vor ihr. „Ist Benachteiligung nicht auch ein Grund für ein Denkmal?“ fragte sie. „Und was ist ein Prolongeur?“
„Ein Verlängerer, einer der weitermacht, was andere einfädelten. Sein Vater nämlich. In der Jugend verschlossen, aber mit Sendungsbewusstsein, sodass die Leute ihn später den 'großen Kurfürst' nannten.“
„Ich glaube, ich legte keinen Wert darauf, zur Schau gestellt zu werden“, sagte Elvira. „Und du? Lang genug bist du ja, willst sicher kein Prolongeur, eher jemand mit Sendungsbewusstsein sein?“
„Ich reime ein bisschen. Sendungsbewusstsein hat vielleicht mein Vater, ein Häusernarr. Solche Väter oder der Inzest bei den hohen Herren, egal, machen uns klein. Der Sohn von Herzog Albrecht war gemütskrank. Den nannte das Volk 'blöder Herr'.“
Sie gingen noch ein Stück zusammen über den Wall Richtung Sackheim. Die Menschen sind ungerecht, dachte Elvira. Schwermut hat doch nichts mit Dummheit zu tun? Der blonde Bursche – er war nicht viel älter als Elvira – merkte jetzt, dass er in die falsche Richtung lief. Er verabschiedete sich, rief zurück: „Gehst du oft hier lang?“
„So und so“, antwortete Elvira.
„Ich täglich. Bin nämlich Sackträger auf deinem Sackheim. Schleppe die schweren Säcke von den Pregelschiffen in die Speicher. Unser Kolonnenführer meint, jetzt käme bald das Teufelszeug von maschinellen Aufzügen, das uns die Arbeit klaut.“
„Sackheim hat aber nichts mit Sackträger oder Sackträgerheim zu tun“, rief nun Elvira ihm nach. Sie hielt einen Moment inne, weil ihr einfiel, wie Ellen und ihre Kolleginnen im Büro über das Wort anzüglich gespottet hatten. „Sakkeim war früher das Stubbendorf, ein Dorf auf gerodetem Waldland.“ Er fuhr sich mit dem Zeigefinger an die Stirn, dann zum Himmel, was wohl heißen sollte, dass er begriffen, es noch nicht gewusst habe.
Elvira hob ihre heruntergefallene Kamelie auf und steckte sie sich wieder ins Haar. Da stand doch tatsächlich der Professor vor ihr! „ Hübsch!“ sagte er zu der Kamelie. Hatte er womöglich gehofft, ihr hier in der Gegend ums Sackheimer Tor zu begegnen, so wie sie ihm am Oberteich? Ein warmes Gefühl durchströmte Elvira. Sie war ihm nicht gleichgültig! Sofort war sie bereit, ihm irgendwelche Dummheiten zu verzeihen. Der Blondschopf drehte sich noch ein paarmal nach ihnen um. Doch als Isakess fragte: „ Ist die Kamelie von ihm?“ nickte Elvira. „Ja! Ein Liebster“, fügte sie sogar noch hinzu. Er reagierte, als habe er es überhört, indem er ihr ins Wort fiel. Er bitte sie um Entschuldigung für seine Worte letztens. In so einer heiklen Sache gebe es keine kurzen und einfachen Antworten. Er würde ihr gern seine Auffassung detaillierter darlegen, damit sie ihn verstehe.
Sie verabredeten sich erneut in Isakess' Haus. Offenbar war seine Frau nicht so einfach zu neutralisieren, denn es dauerte seine Zeit. Elviras Wunsch war ungebrochen, wenngleich gedämpfter. Sie spürte, dass das Eine, das Biologische, und das Andere, die Wertschätzung, sich nicht so leicht auseinanderdividieren ließen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Und dann: „Ein Liebster“ war ja gelogen. Aber war ein Mensch, zuvorkommend, hilfreich, nett und sogar noch schlau, nicht liebenswert?
Sie merkte, dass sie sich zum ersten Mal Gedanken darüber machte, was für einen Mann sie gern an ihrer Seite hätte. Sie schlenderte um das Sackheimer Tor mit den Herren Bülow und York herum, ein Stück aus der Stadt hinaus bis zum Unteren Kupferteich. Rechts davon am Pregel lag ein Reichswehrübungsplatz, an der Stadtmauer die Bastion Litauen. Ihr pazifistischer Vater hatte jedesmal gewettert, wenn sie mit ihm hier entlang gegangen war. „Wie lange wird’s noch dauern – und sie marschieren wieder? Nach Litauen?“ Vater war ein Russenfreund, meinte jedoch damit alle östlich ihrer Grenze, auch die Balten. Elvira beabsichtigte, wie sonst parallel zum Pregel über die Sackheimer Hinterstraße zu ihrer Wohnung in der Blumenstraße zu gehen. Sie staunte nicht schlecht, als ihr vom Pregelufer der Blondschopf entgegen kam. Vermutlich war er über die Augusta- und die Steile Straße eilends zurück zum Sackheim gelaufen, um vor ihr hier zu sein. Er sagte: „Ich wollte dich einfach noch einmal sehen.“ Elvira war gerührt. Sie nahm die Kamelienblüte aus ihrem Haar, reichte sie ihm, gedachte, dadurch gleichzeitig ihr schlechtes Gewissen gegenüber dem Professor zu beruhigen, die Unwahrheit etwas zu korrigieren, sagte: „Danke! Wie heißt du eigentlich?“
„Wilhelm“, antwortete er. „Wenn du nächste Woche wieder hier bist, werde ich dir ein Gedicht von mir schenken.“ Als machte ihn diese Aussage sehr verlegen, lief er winkend weg. Drehte sich aber nochmals um und fragte: „Und wer war der ältere Herr vorhin?“ - „Hmm? Ein Liebster!“ antwortete Elvira nochmals keck. Ist doch die Höhe! Kennt mich eine halbe Stunde und schon so neugierig. Und vonwegen „älterer Herr“!
Sie blieb noch eine Weile am Pregelufer stehen. Sie liebte den Fluss, träumte sich an ihm gern übers Frische Haff zum Meer hin. Ein Dichter ist er, sinnierte sie. Aber die Väter schienen sich alle zu gleichen. Jahrelang hatte sich kein Mann um sie gekümmert. Und nun gleich zwei? Wirkte sie abweisend? Einer hatte ihr einmal gesagt: „Schöne Frauen betrachtet man wie Unberührbare.“ War sie überhaupt schön? Auf Schritt und Tritt begegneten ihr Frauen mit sehr angenehmem Äußeren, sodass sie sich nicht selten wie ein „Allerweltsmarjellche“ fühlte, wie ihre Cousine Isabella sagen würde. Schönheitskonkurrenzen waren für sie eine absurde ungerechte Männeridee. Und vor allem: Sie w o l l t e berührt werden!.. Stattdessen entdeckte Elvira am nächsten Morgen in dem schmalen Streifen weicher Gartenerde vor ihrem Haus, den die Mieter dem sich anschließenden Rasen abgetrotzt hatten und wo auch sie schon wiederholt Primeln, Stiefmütterchen und andere Blumen eingepflanzt hatte – ein frisch gesetztes Vergissmeinnicht-Sträußchen. Sie war entzückt, aber auch verlegen – wer mochte es gewesen sein? Der Professor? Wohl eher Wilhelm. Oder ein Dritter? Galt es ihr womöglich gar nicht? Untröstlich wegen ihres Schabernacks, jedem den anderen als ihren Liebsten bezeichnet zu haben, erfuhr sie zur Strafe nun womöglich nie, ob s i e gemeint war?..