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VORSPIEL – In London, eine Totenhochzeit und ein Jud

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Zwei Tage lang wollte ich meine privaten Wege gehen. Dann die Westminster Abbey, Tower und Tower Bridge, Buckingham-Palast, das Parlament, also allseits empfohlene Sehenswürdigkeiten besichtigen. Meine junge Kollegin plante Ähnliches. Ich sollte sie Fräulein Uschi oder einfach Uschi nennen, sie wollte zu mir Chef sagen, was einen etwas näheren und salopperen Umgang als in der Klinik bedeutete, ich aber der Situation angemessen fand. Sie äußerte besonderes Interesse an der Nationalgalerie und dem Freud-Museum. Ich am Highgate Cemetery, wo Karl Marx und seine Jenny begraben lagen. Und an Speakers Corner im Hyde Park.

Ein bisschen anders kam es dann doch. Vom Flughafen fuhren wir mit der U-Bahn bis Holborn. In unsere Hotelzimmer im ersten Stock konnte man aus den vorbeifahrenden roten Doppeldeckerbussen gut einsehen. Leichte Rollos schützten bei Nacht. Da es noch hell war, entschlossen wir uns zu einem ersten Rundgang durch Bloomsbury, gingen dann aber gleich ins British Museum, das noch für zwei Stunden geöffnet hatte. In seinem Zentrum der Great Court mit überlebensgroßen Statuen. Geschwungene Treppen führten zum Lesesaal hinauf, der früheren Bibliothek, wo Marx einst an seinem „Kapital“ arbeitete. In den endlosen Raumfluchten des Museums Kriegermasken und -helme, ägyptische Mumien und Moorleichen. In fremden Ländern geborgene Schätze, wie die Parthenon-Skulpturen, oder vom Meeresgrund heraufgeholte. Uschi fühlte sich besonders von filigranen Goldschmuckketten angezogen. Ich fotografierte sie auf ihren Wunsch hin einmal von der anderen Seite einer Vitrine, sodass sich das goldene Geschmeide auf ihr Dekolleté projizierte. Sie trug einen olivgrünen Pulli, das dunkelblonde Haar schlicht nach hinten gekämmt. Ihre fast schwarzen Augenbrauen kontrastierten stark mit ihrem blassen Teint. Über dem kräftigen geraden Nasenrücken zwei wache Augen, gerade fragend auf mich gerichtet, weil ich wohl eine Idee zu lange auf das Bild geschaut hatte. „Gut gelungen“, sagte ich und dachte: Hast du sie womöglich mitgenommen, weil sie dich an Sonny erinnert?

Am folgenden Tag verhaspelte ich mich sogar einmal und sprach sie mit Sonny an. Sie drehte sich zu mir um und fragte: „Haben Sie Ihre Schwester sehr geliebt?“ Wir mussten einem Lieferwagen ausweichen, der Nachschub an Bier für das Restaurant brachte, vor dem wir standen. Eine Weile später sagte ich: „ Bis zu ihrem Weggang von zu Hause waren wir ein Herz und eine Seele. Ihren Tod konnte ich nicht fassen. Vielleicht ist dieser Londonbesuch meine nachträgliche Trauerarbeit?“

Uschi hatte sich mir am Morgen ohne weitere Fragen angeschlossen. Ich war nicht ungehalten darüber, ja freute mich. Familiäre Geheimnisse waren nicht zu erwarten, gab es für mich eigentlich auch nicht. Eine junge attraktive Frau öffnete eher Türen und Herzen als ein dröger Mann um die fünfzig. Außerdem sprach Uschi ein besseres Englisch als ich. Ihre Generation war auf Englisch schon mehr getrimmt als meine. Ich hatte in der Schule und an der Universität Russisch, Französisch und Latein gelernt. Als ich als Schiffsarzt anheuerte autodidaktisch das erste Mal etwas Englisch. Nach der Wende auf der Volkshochschule.

Bloomsbury war mit schönen Parkanlagen reichlich ausgestattet. Allein um das British Museum herum lagen Russell Square, Bloomsbury Square und Bedford Square. Am nördlichen Rand des letzteren hatte Sonny mit ihrem kleinen Pudel und ihrem schwergewichtigen Mann Alex bis einige Monate vor ihrem Tode zusammen gelebt. Es war ein recht ansehnliches Haus, repräsentativer als jene in der Bloomsbury Street. Links und rechts vom Eingang führten Treppen, durch ein schmiedeeisernes Gitter vom Gehweg abgegrenzt, in die hier üblichen Souterrains hinunter, die als Wohnungen oder Geschäftsräume genutzt wurden. Im Erdgeschoss und im ersten Stock gaben große Fenster den Blick zum Bedford Square frei. Über dem rundbogigen Eingang, mit weißen Kunststeinen verziert, erhob sich ein turmartiger Aufbau sechs Stockwerke hinauf. An der Frontseite georgianisch geprägte Erker. Links und rechts auf den dritten Geschossen Dachterrassen. Auf dem Turm eine pyramidenförmige Haube.

„Hier ließ sich's gut wohnen“, sagte Uschi. - „Leider nicht für meine Schwester“, ergänzte ich. Über Wendeltreppen gelangte man aus den Büroräumen des Erdgeschosses in die Wohnräume darüber. Sonny hatte sich also ein Haus ausgesucht, das demjenigen in unserem sächsischen Borstädt, in das sie eingeheiratet hatte, glich. Ein vierstöckiges Geschäftshaus mit schönen Erkern, Mansarddach und Gaupen. Einem Türmchen. Der Hauseingang in der Nebenstraße weniger auffällig, aber vorn zur Hauptstraße hin ein großes Textilgeschäft mit breitflächigen Fenstern. Und von dort führte wie hier eine schmiedeeiserne Wendeltreppe in die Wohnung im ersten Stock. Das beeindruckte mich als Junge ungemein! Wie schnell man von seiner Arbeit nach Hause kommen konnte! Papa und Mama hatten in Königsberg oft lange Wege zurücklegen müssen, wie ich aus Mutters Erzählungen wusste. Wenn sie überhaupt Arbeit hatten. Als Sonny in dieses Haus in Borstädt eingezogen war, sagte Mama zu Werri und mir glücklich: „Sonja hat es geschafft!“ Wir waren mit unserer kleinen Umsiedlerwohnung ganz zufrieden. Doch für Mama waren ein Haus und eine Ehe mit einem erfolgreichen guten Mann damals offenbar der Inbegriff von Glück.

Schon zwei Jahre später verunglückte Sonnys Mann bei seiner Arbeit in der Borstädter Baumwollspinnerei. Das Textilgeschäft hatte man bereits zuvor aus wirtschaftlichen Gründen zu drei Vierteln an den Konsum vermieten müssen. Der dort vor allem Konfektionsartikel verkaufte. Sonnys Schwiegervater bot in dem kleinen Restgeschäft noch Kurzwaren an.

Sonny gab Annoncen auf. Sie wollte weg von Borstädt. Sie schämte sich. Empfand ihr Unglück wie eine Niederlage. Sie haderte auch mit Mama, von der sie sich wohl zu der Ehe gedrängt gefühlt hatte. Werris Vorbehalte waren ihr bekannt gewesen: „Was willst du mit einem Geschäftsmann! Einem kleinbürgerlichen Pfennigfuchser!“ Irgendwie hatten wir Kinder alle den Trieb nach Norden. Als suchten wir wieder die Nähe zum Meer. Wie in Königsberg. Da Sonny sehr hübsch war, hatte sie bald Erfolg. Bei ihrem damals noch schlankwüchsigen Alex. Vielleicht rechnete er bei einer Dame aus dem Osten mit besonderer Dankbarkeit?

Mit einem Taxi fuhren wir nach Stratford hinaus, wo Sonny die letzten Monate ihres Lebens verbracht hatte. Ihr Weggang nach Hamburg hatte den Bruch mit Werri zur Folge gehabt. „Egoistin!“ schrie er ihr in mehreren kurzen Briefen immer wieder hinterher. Er hatte sich zum Militär gemeldet. Wollte bei der Marine Karriere machen. Fürchtete nun, mit seinem Anliegen zu scheitern, da Verwandte in Westdeutschland ein ernstes Hindernis darstellten.

Mutter litt sehr darunter. Deutschland war zerrissen. Die Welt war zerrissen. Und nun auch unsere Familie. Damals ahnte ich noch nicht, dass Mutter auch noch andere Gründe hatte zu leiden. Ihre Kinder unbedingt glücklich sehen wollte. Besonders wahrscheinlich Sonny.

Immer wieder taucht in Mutters Notizen aus dieser Zeit das Wort Sünde auf. Versündigt, vergangen. Religiös war Mutter eigentlich nur in echten Krankheitsphasen. Dann redete sie viel von Gott, betete, ging in die Kirche. Mutters Stichwörter bedeuteten für mich in verständlichen Sätzen: Ich habe mich an Sonnchen versündigt. Wie konnte ich ihr zu etwas raten, dass ich selbst nicht kannte, im Grunde nicht wollte. Habe ich sie überhaupt genug liebend umsorgt? Oder mich an ihrer kindlichen Hoffnung vergangen? Mädchen brauchen mehr Zärtlichkeit als Jungen. Die kamen von selbst zu mir. Sonny nie. „Ich möchte zu gern noch einmal heiraten“, hatte sie ihr als sozusagen noch mädchenhafte Witwe gleich gesagt. „Nicht nur für den Pfarrer. Nicht für den Tod. Für die Ewigkeit!“ Als könnte sie das schnelle Ende ihrer Ehe nicht akzeptieren. Wollte es auslöschen. Sie hat mich gehasst, glaubte Mutter. Ist es nicht viel schlimmer, von seinem Kind gehasst zu werden, als von niemandem geliebt?

Hierin irrte Mutter. Sonny hatte sie auch geliebt. Vielleicht auch bedauert? Am Bahnhof, als sie nach Hamburg aufbrach und sich von Mutter verabschiedete, lag wie ein Siegeslächeln auf ihrem Gesicht. Du Arme musst hierbleiben. In diesem Nest! Dabei hatte Mutter stets nichts eifriger zu tun gehabt, als uns bei jeder Gelegenheit zu versichern, wie froh sie sei, dass wir hier eine neue Heimat gefunden hatten. Werri lebte inzwischen in Stralsund, hatte eine seemännische Ausbildung begonnen. Er hätte Sonny sicher angespuckt, wenn er da gewesen wäre. Als Kinder hatten sich beide manchmal im Streit bespuckt. Mich herzte Sonny beim Abschied. Uns kamen beiden die Tränen.

Das Haus, in dem Sonny zuletzt in Stratford gewohnt hatte, war abgerissen worden. Machte Platz für ein Seniorenheim, wie auf einer Tafel zu lesen war. Eine enge Straße. Nicht viel Verkehr. Nicht viel Leben. Wollten Senioren nicht gerade etwas zu schauen haben? Der Friedhof in der Nähe. Eine kleine Kapelle. Ein Krematorium. Am Ende des alleeartigen Hauptweges eine respektable Kirche. Im Decorated- und Earl-English-Stil, englische Gotik, erklärte uns ein offensichtlich kundiger Einheimischer.

Mutter hatte Sonny in der kleinen Kapelle aufbahren lassen. Von dem wuchtigen rotziegeligen Hauptportal führte ein nicht sehr breiter zypressengesäumter Weg dorthin. Die Urne mit Sonnys Asche traf in Borstädt ein, als Mutter schon in unserer Klinik lag.

Wir gingen in Sonnys Straße zurück, weil wir dort ein Blumengeschäft gesehen hatten. Ich wollte gern irgendwo auf dem Friedhof einen Strauß Nelken niederlegen, die Sonny sehr mochte. Neben dem Blumengeschäft befand sich ein Hochzeitsausstatter. Ich sagte zu Uschi: „Meine Mutter hat sich hier einen Schleier anlegen lassen. Nebenan einen Brautkranz aufgesetzt. Und ist dann langsam zur Kapelle gegangen. Es muss einen Auflauf gegeben haben, der sich erst allmählich vor der Kapelle verlor, nachdem Mutter Schleier und Brautkranz ihrer Tochter übergeben hatte. Entsprechend Mutters Absprache mit dem Pfarrer oder der Heimbürgin trug Sonny ein weißes Seidenkleid und war geschminkt. „Ganz schön verrückt, nicht wahr?“ fügte ich unsicher hinzu. Aber Uschi war nicht verstört oder gar entsetzt. Trotzdem begriff sie die Aktion wohl nicht ganz? Fragte: „Eine Totenhochzeit?“ Ich nickte. Das Weitere geschah recht schnell. Entschlossen ging Uschi in den Heiratsausstatter. Kaufte einen weißen Tüllschleier. Von der Blumenverkäuferin ließ sie sich einen Kranz aus kleinen blutroten Rosen und weißen Myrthenblüten flechten. Und so geschmückt schritt ich mit ihr davon, begleitet von den staunenden und beifälligen Rufen der Verkäuferinnen: „Wonderful!“ - „That's a pretty bride! Like a princess!..“ Im Nachhinein habe ich mich manchmal gefragt, ob Uschi glaubte, dass ich nur so wie Mutter von meiner Schwester endgültig Abschied nehmen könnte?

Einen Auflauf bewirkten wir nicht. Aber Uschi, deren Miene bald nichts Trauerndes mehr hatte, vielfältige bewundernde Blicke! Ein Pfarrer lief mit wehenden Rockschößen davon. Wir kicherten. Geschah es zufällig? Oder fürchtete er Sonnys „Rückkehr“? Dieser flüchtige Gedanke amüsierte mich. Wir gingen eine Weile kreuz und quer durch den Friedhof. Zweimal um Kapelle und Krematorium herum. Vor einem weiblichen Figurenpaar blieben wir stehen. Es stellte Ecclesia und Synagoge als Allegorien des Neuen und Alten Testaments dar. Synagoge war hübsch, trug aber eine Augenbinde und im rechten Arm eine zerbrochene Lanze. Ecclesia eher vornehm und herrisch. Mit Krone und Kreuzfahne ausstaffiert. Uschi, die den Schleier nach hinten getragen hatte, legte ihn Synagoge nun von vorn über das Haupt, die Augenbinde verdeckend. Obenauf kam der Brautkranz. Ich steckte Ecclesia meinen roten Nelkenstrauß zwischen Arm und angewinkelte Hand mit dem Kelch, sodass sie weniger wie eine Siegerin, mehr wie eine dankbare aufschauende Brautjungfer aussah. Zufrieden trollten wir uns wie spitzbübische Kinder davon.

Unsere Zimmer lagen sich in dem schmalen Hotelgang gegenüber. Als ich beim Aufschließen einen Moment zögerte, spürte ich Uschis Rücken an meinem. Ich erwiderte den leichten Druck, sagte nach einer Weile: „Danke!“ Dann gingen wir in unsere Zimmer.

Ich lag noch eine ganze Zeit wach. Erst ging mir Uschi durch den Kopf. Sie war fast ein Vierteljahrhundert jünger als ich. Freilich schon in einem Alter, in dem man an die Zukunft denkt. Für eine flüchtige Liebesbeziehung hielt ich sie für zu ernsthaft. Ich hätte es im Moment auch nicht gekonnt. Aber vielleicht kannte ich die junge Generation auch gar nicht mehr richtig, war sie viel aufgeschlossener für das rein Animalisch-Vegetative. In Frage kommenden jungen Kollegen war Uschi in der Klinik jedoch bisher ausgewichen. Sie zog nicht nur als Braut die Blicke auf sich. Dann fiel mir der weggelaufene Pastor ein. Was war Mutter wichtig gewesen? Verehrung und Sorge? Sollte ihre Tochter nach ungelebter Ehe und innerlich abgelehnter Witwenschaft nun auch nicht noch den Makel, die Unvollkommenheit einer jung verstorbenen Unverheirateten tragen? Oder fürchtete Mutter Sonny womöglich als „Wiedergänger“? Da ein unaussprechliches Geheimnis sie verband? Manchmal hatte Sonny über Aktionen der Männerwelt, besonders natürlich Werris, dunkel gespöttelt: „Lauthals wollen sie die Welt verändern. Während ihnen das Wesentliche verborgen bleibt.“

Erleichtert stellte ich am Morgen fest, dass Uschi so gut gelaunt war, wie an den vorangegangenen Tagen. Sie wartete im Frühstücksraum schon auf mich, blickte so verschmitzt, als hätten wir uns am Abend viel mehr getraut. Das übte einen großen Reiz auf mich aus. So jung, so souverän und hübsch wie sie war. Ein warmer Frühsommertag. Sie hatte ein leichtes, ihren Körper weich umfließendes Kleid in warmen Braun-, Orange- und Grüntönen angelegt. Die oberen beiden Knöpfe geöffnet. Vielleicht galt ihr Lächeln auch dieser selbstbewussten Präsenz? In der Klinik hatte ich letztens aus einer Gesprächsrunde von Schwestern die sinnigen Worte „den Chef vernaschen“

aufgeschnappt. Das Kichern brach abrupt ab. Ich tat, als hätte ich nichts gehört, sprach mein Anliegen an, zur nächsten Dienstbesprechung das Thema nosokomiale Keime auf die Tagesordnung zu setzen. Bei meinem Weggehen hub das Kichern wieder verhalten an.

Doch derart berechnend schätzte ich Uschi nicht ein. Sie war einfach jung und sich ihrer Ausstrahlung bewusst. Und ich war froh, dass ich sie mitgenommen hatte. Dass ich ihre Begleitung genießen konnte. Obwohl ich in mir noch erhebliche Blockaden spürte. Außerdem wäre mir gegenwärtig nichts nachteiliger gewesen als eine Affäre mit einer jungen Kollegin. Der Boulevard hatte mich in dem Geiseldrama nicht ungeschoren gelassen. „Der Chef ein Sexgangster?“ hatte eine Zeitung getitelt. Am liebsten wäre ich nach Unbekannt fortgezogen. Doch Stolz und Sturheit sind mitunter gute Partner. Aus Stolz wegziehen, weil man glaubt, die Unterstellungen und Gemeinheiten nicht mehr ertragen zu können? Aus Stuheit durchhalten, sonst siehst du wie ein Schuldiger aus.

Sonny hatte zu viel Stolz und zu wenig Sturheit. Alex wollte aus ihr einen Vamp machen, der wie die Ekberg mit weit geöffnetem Haar durch den Trevi-Brunnen durch die Schar seiner Männergäste stolzierte. Sie erregte und womöglich auch demütigte. Ob Geschäftsmann, ob Liebhaber. Einmal schrieb mir Sonny: „Alex küsst die Männer, wie ich nicht einmal Dich oder Mutter geküsst hätte! Bin ich komisch? Oder zu prüde?“ Unser Bruder Werri hatte eine Antwort parat. Sein Kommentar aus Stralsund nach Sonnys Tod lautete: „Für unsere liebe Schwester war der Kapitalismus ein paar Nummern zu groß! Zu frei! Zu verworren und heimtückisch!“

Sonny hatte die Suche nach Mutters Bekanntem bald aufgegeben. Mutter ließ ja auch kein Interesse erkennen. „A German?“ - „In the war?“ - „Unknown!“ bekam Sonny zu hören. Wer sollte sich fast dreißig Jahre nach dem Krieg noch an einen deutschen Emigranten erinnern? Zumal die Deutschen immer noch verhasst waren.

Inzwischen waren nochmals zwanzig Jahre ins Land gegangen. Bloomsbury im dreizehnten Jahrhundert durch einen Herrn Blemond, woher sich wohl sein Name ableitete, mit einem Rittergut begründet – übersetzte ich für mich gern mit „Blumengrab“. Es galt als Ort der Dichter und Intellektuellen, der Universitäten und Bibliotheken. Das British Museum war 250 Jahre alt. Sonny fand es furchtbar mit seinen Moorleichen und Totenköpfen. „Einmal und nie wieder!“ Mutters Bekannter hatte dort angeblich Tage, Wochen, Monate verbracht. War es Isakess? Der Greis aus Hamburg? In jungen Jahren ein Sportsmann, Tennisfreund. Ein Mediziner, wie ich Psychiater. Ein Wissenschaftler durch und durch. Der das Gehirn besser kannte als Museen und archäologische Schätze. Mein Bild von ihm wollte zu Mutters rätselhaftem Bloomsbury-Bekannten nicht recht passen. Aber seine Bedeutung war für mich enorm gestiegen. In Mutters Reden uns Kindern gegenüber hatten beide keine Rolle gespielt. Aber wer war ihr Geliebter gewesen?

Unser kleiner Vorteil gegenüber Sonny war die Hausnummer: 22. Die Häuser waren hier einfacher als am Bedford-Square. Schmaler, mit Souterrain, Erd- und zwei Obergeschosse. Auf einem niedrigen Mansardgeschoss kaminartige Aufbauten mit neun bis zehn Entlüftungs- und Abgasröhren wie Orgelpfeifen. Eine kleine korpulente Frau öffnete uns. Sie war altersmäßig schwer zu schätzen. Das schwarzgefärbte Haar hatte sie mit Spangen und Klemmen akkurat befestigt. Hinter runden Brillengläsern schauten uns lebhafte Augen neugierig und misstrauisch an. Als sie unser Anliegen hörte, schüttelte sie den Kopf, wollte die Tür schon schließen: „Unknown!“ Uschi hatte die Idee zu sagen: „A Jew! With a jewish nose!“ Mit leicht geschwungener Handbewegung deutete sie die gekrümmte jüdische Nase an und streckte sich dann, um ebenfalls mit der Hand zu zeigen, dass er mich noch um einen Kopf überragte. Im Eifer drückte sie sich mit ihrem Oberkörper gegen meine Schulter, hielt sich mit der freien Hand an mir fest.

Der alten Dame schien ein Licht aufzugehen. Ihre Eltern hätten einmal einen Juden und seine Frau für einige Zeit in Logis gehabt. Sie las viel. Er ging sooft wie möglich ins British Museum, um die Ecke. Es waren feine Leute, die sie gern behalten hätten. Aber ihm war das British Museum wohl nicht genug, er wollte auch noch ins Museum of London. Jedenfalls zogen sie nach Cloth Fair in ein sehr altes schönes Haus zu einem Dichter, den er im Museum kennengelernt hatte. Die Leute erzählten sich alle möglichen Geschichten, weil in dem Haus und in den naheliegenden Restaurants Schriftsteller, Maler, Professoren ein und aus gingen. Die meisten gut anzusehen. Wie auch der Jude. Und hübsche Frauen! Die alte Dame lächelte verstehend. Nicht vorwurfsvoll, fast ein wenig wehmütig.

Wir bedankten uns sehr, nahmen die U-Bahn nach Barbican. Die Dichterstraße war ein elisabethanisches Kleinod. Aber an vielen Stellen in der Stadt entdeckten wir Prunk und maßvolle Schönheit. Unsere Spur führte in einen Pub, der schon vor dem Krieg existiert hatte und von Prominenz aus Kunst und Wissenschaft gern besucht wurde. Die derzeitigen Besitzer beriefen sich auf diese Tradition. An den Wänden waren eine Fülle von Fotografien angebracht. Manche Bilder waren ohne Text oder nur mit Namen versehen, andere hatten ausführliche kleinschriftige Angaben zu Personen und deren Bedeutung. Wir verstanden nicht alles. Natürlich aber die Worte „Ménage á trois“, der einen Maler mit Virginia Woolfs Schwester und einem Schriftsteller zeigte. Virginia Woolf selbst war auch zu sehen. Bertrand Russell in einer Runde. Von bisexuellen Verbindungen war die Rede, wie sie auch Virginia gepflegt haben soll. Von ungestümer Sexualität als Affront gegen die viktorianische Doppelmoral der Zeit.

Eine Fotografie zeigte einen Dichter mit Freunden, einem hochgewachsenen schlanken Mann mit schwarzem Vollbart und einer hübschen jungen Frau. Unser gesuchtes Ehepaar? Professor Isakess konnte ich in dem Mann nicht wiedererkennen; seine Frau war bei meinem Hamburger Besuch schon verstorben. Mutters Konterfei war hier nicht zu erwarten. Trotzdem war mir mulmig zumute. Was für Freunde waren es, die sich um Mutter bemüht hatten? Um eine Schönheit – freilich wie viele andere hier. Was war das Gemeinsame? Die Leichtigkeit des Lebens? Das Unkonventionelle? Auch Virginia Woolf hatte psychotische Episoden. Die Nähe von Genius und Psychose?

„Zu dritt – mit zwei Männern oder einer zweiten Frau könnte ich nicht leben“, sagte Uschi, als wir am nächsten Tag zum Tower unterwegs waren. „Da bin ich altmodisch.“ Drinnen stellten wir uns vor, wo man die beiden Prinzen gemeuchelt und verscharrt hatte. Uschi wollte gern die Kronjuwelen sehen, an denen man auf Förderbändern vorbeigeführt wurde. Oben auf der Towerbrigde bevorzugten wir beide, mehr am Rand statt in der Mitte des Glasfußbodens zu laufen, wo schwindelerregend in der Tiefe die Themse gurgelte. Doch am anderen Ende der Brücke legte sich Uschi mutig rücklings mittenhin auf den Fußboden, belächelte meinen verdutzten Blick, ja spitzte leicht die Lippen, als wollte sie sagen: Na komm schon! Doppelt feig sein ist nicht erlaubt!

In der St.Pauls-Kathedrale verharrten wir lange unten bei einem Orgelspiel. Zur „Flüster-Galerie“ ging es gemächlich hinauf. Wir setzten uns einander gegenüber, also nach dem Kuppeldurchmesser in etwa 30 Meter Entfernung, hatten vereinbart, ein paar Worte gegen die Wand zu sprechen und diese zuvor auf einem Zettel zur Kontrolle des anderen festzuhalten. Uschi flüsterte: „Ich mag dich!“ Ich: „Du bist sehr hübsch!“

So aufgewertet stürmten wir zur „Golden Gallery“ hinauf. Spähten auf der Südseite der Themse unsere nächsten Ziele aus. Ich stand hinter Uschi, stupste mit meiner Nase in ihr Haar und sagte wie vor zwei Tagen am Abend vor unseren Hotelzimmern: „Danke! - Dass Sie mitgekommen sind!“ Sie ließ sich wieder leicht rückwärts gegen mich fallen und entgegnete nach einer Weile: „Ihre Mutter hat einen Juden geliebt, war das nicht gefährlich?“ Korrigierte sich jedoch sogleich: „ Unsinn! Liebe scheut keine Gefahr!“ - „Sie müssen sich schon in den zwanziger Jahren kennengelernt haben. Er war in Königsberg bereits ein bekannter Medizinprofessor. Mutter praktisch noch ein junges Mädchen. Achtzehn oder neunzehn Jahre alt.“

Auf der Southwark-Seite ergatterten wir im Shakespeare-Theater zwei Stehplätze für eine Komödie. Wir gingen jedoch schon nach einer Stunde, aßen zu Abend in einem Restaurant mit schönem Blick auf die Themse. Uschi griff noch einmal das Judenthema auf: „Ich war selbst erstaunt, wie das bloße Wort 'Jew' die Erinnerung der alten Dame wachrief. Manchmal liegt unsere Phantasie wohl sehr nahe an der Wirklichkeit. Jahrhundertelang wurden die Juden gedemütigt, hatten kein Recht auf Rechte. Und heutzutage haben sie sie und vergewaltigen sie fortwährend in ihrem Land! Muss denn des einen Recht zwangsläufig immer mit Unrecht gegenüber anderen verbunden sein?“ Ich hatte gerade gedacht: Wer hilft dir mehr aus deiner Larmoyanz? Diese Frau oder diese wunderbare Stadt? Ich sagte: „Die Shoa stimmt mich immer milde. Wer so entsetzliches Leid erfahren hat, neigt womöglich zu aggressiver Abwehr?“

An den folgenden zwei Tagen bummelten wir durch Covent Garden und Soho. Machten einen Abstecher zu Orwells „Wahrheitsministerium“ von „1984“. Durch das Cockney College, das auch Studenten aufnahm, die nicht der anglikanischen Kirche angehörten, hatte die Londoner Universität sowieso unsere Sympathie. Abends ließen wir uns von dem Strom meist junger Menschen vom Leicester Square zum Piccadilly Circus treiben. Marx' Grab und Freuds letzte Wohnstätte nahmen wir uns für unsere nächste Londonreise vor. Fragten uns aber wohl beide, ob es eine solche geben wird? In der National Gallery bewunderten wir Leonardo da Vincis herrliche unvollendete Zeichnung, die Maria mit Mutter Anna und Jesus mit Johannes dem Täufer als Kinder zeigte. Unbekannt war, ob Jesus und Johannes sich als Kinder tatsächlich trafen? Maria und ihre Mutter Anna waren etwa gleichaltrig dargestellt, was Freud zu einer biografischen Deutung des Meisters veranlasste. Mich erinnerten die weichen Gesichtszüge der Frauen an jene von Mona Lisa.

Bei Speakers Corner im Hyde-Park wollte keiner eine Rede halten. Was Uschi darauf brachte, selbst auf eine Bank zu steigen und eine kleine verschlüsselte Anklage an mich zu richten. Von freien Gedanken und engen Gefühlen war die Rede. Von Selbstquälerei und Ignoranz der Sinne. Und wie zum Beweis vorhandener sinnlicher Kraft hüpfte sie mir von der Bank vor die Füße, sodass ich sie auffangen musste und sich ihr Körper eng an mich presste.

Im Flugzeug ergriff ich ihre Hand. Sie bedankte sich mit einem zarten Wangenkuss und sagte: „Ich hätte auch nicht gern mit jemandem schlafen wollen, der dabei an eine andere denkt.“ Ich antwortete nicht. Uschi schaute mich nicht an, blickte zum Cockpit. Von der Seite sah ich wieder ihr Lächeln, aus halb Verstehen, halb Verführen, als sie fortfuhr: „Man sagt, Sie hätten sie sehr gut gekannt. Womöglich zu gut!“

Mutters Wahn

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