Читать книгу Mutters Wahn - Martin Goyk - Страница 8
1.1.1 Liebesdrang
ОглавлениеDie junge Frau, die an diesem Sommertag leicht und behende die Treppen neben den Kaskaden der Springbrunnen emporlief, zog die Blicke vieler Spaziergänger auf sich. Sofern sie es nicht so eilig hatten wie sie. Doch das trog wiederum. Denn mitunter verweilte die junge Dame plötzlich an dem quicklebendigen Bächlein, das über felsiges Gestein herabsprudelte, benetzte sich ihr Gesicht, als müsse sie eine innere Glut kühlen. Über ihren Wangenknochen zeigte sich in dem blassen feinen Gesicht eine zarte Röte. Die dunklen Augen strahlten vor Eifer oder Erregung. Hin und wieder trank sie ein Schlückchen des mit ihrer hohlen Hand aufgefangenen Wassers. Mein Gott, fast siebenhundert Jahre muss es her sein, dass die Ordensritter Oberteich und Schlossteich anlegten, dachte sie. An denen wir uns nun vergnügen! Die Kaskade zwischen den Teichen wie ein Idyll und doch Sinnbild ihrer Nutzung.
In ihrem dunklen geblümten Sommerkleid, das ihren zierlichen Körper ein wenig zeichnete, wirkte die Frau noch geradezu mädchenhaft. Sie war etwa zwanzig Jahre alt. Das halblange schwarze Haar umwirbelte keck ihr Gesicht, da sie nicht nur hinauf, sondern auch wieder hinab lief, hüpfte und sprang, Pirouetten tanzte. Nach diesem Verhalten und ihrer jugendlichen Körperlichkeit hätte man sie wohl siebzehn, achtzehn schätzen können – wenn es nicht durch Momente plötzlichen Innehaltens, eine nachdenkliche Ernsthaftigkeit oder ein genussvolles Schauen der Natur abgelöst worden wäre, was sie älter erscheinen ließ. Nun, als Eingeweihte dürfen wir etwas indiskret versichern: Sie war tatsächlich noch ein Mädchen. Und auf der Suche nach ihrem Ritter!
Mit zwanzig ist es an der Zeit, sagte sich Elvira. Wir kennen sie schon. Aber noch nicht ihre Herkunft. Weder die Przyworrasche noch ihren Anschluss an die Mattulkes. Nicht ihre Leidenschaften, Überzeugungen. Elviras Freundin und Arbeitskollegin Ellen, schon „ritterlich beglückt“ von einem „Tölpel und Maulhelden“, wie sie freimütig gestand, wusste als Einzige von Elviras erhitztem Streben. Spornte sie einerseits an, warnte sie andererseits: „Aber er ist mehr als zwanzig Jahre älter als du – und ein Jud!“
„Na und?“ hatte Elvira erwidert. „ Ich kann mit den Jüngelchen in unserem Alter nichts anfangen. Und ein Jud ist gerade gut!“ Dann kicherten die beiden noch ein bisschen, ob die Beschneidung der Juden für diese Sache eigentlich gut oder nicht so gut sei?
Jetzt fiel Elvira ihre Familie ein. Sie hatte viele Vorbehalte gegenüber ihrem Vater – dass er unbedingt noch ein Haus bauen musste! Wo viele schon wieder vom Krieg redeten. Dass er seine Frau Anja, von Tochter Elvira hingebungsvoll geliebt, bis zur Erschöpfung dabei einspannte. Auch Elviras drei Jahre älteren Bruder Rudolph, der als Zimmermann des Vaters Maurerfertigkeiten sehr zweckmäßig ergänzte. Elvira entzog sich weitestgehend diesem Treiben, schützte meist ihre Büroarbeit im Gewerkschaftshaus vor. Was der politisch wie auch sein Sohn der SPD nahestehende Kurt Przyworra schweigend, aber grimmig akzeptierte. So ein Hausbau brauchte jede Hand! Elvira empfand zwar Mitleid mit ihrer Mutter, blieb in diesem Punkte aber stur und egoistisch. Sie wollte sich nicht für eine Sache verschleißen lassen, die sie für einen Irrweg hielt. Ein Haus wie eine Burg! Womöglich ein Leben lang zerstritten auf einem Schuldenberg sitzen! Konnte nicht allein die Liebe ein sicheres Bollwerk schaffen?
Dieses schöne jugendliche Ideal gedachte Elvira nicht in Frage zu stellen. Ja eigentlich sah sie es gar nicht als Ideal, sondern als Grundbedingung ihres Lebens. Sie machte sich jedoch keinerlei Gedanken darüber, wie diese im Alltag gefährdet und zu erhalten sei? Das schien zunächst auch nicht nötig. Als schöne junge Frau wurde sie ständig von bewundernden Blicken und Schmeichlern umschwärmt. Letzteren nahm sie allerdings durch ein feines ironisches Lächeln oft schnell den Schneid.
Sie wollte nicht hoch hinaus. Die Welt sollte ihr nicht zu Füßen liegen, aber sie bemerken und ernst nehmen. Und falls der Jud jemals irgendeinen Platz in ihrem Leben einnähme, Vater würde ihn akzeptieren. Dessen war sie sich sicher. Als Freidenker, der in jungen Jahren viel über die Götter der Pruzzen gelesen hatte, meinte Vater: Der Monotheismus der Juden, Christen und Mohammedaner sei in der Tendenz ja ein Atheismus. Also passten die drei Religionen gut zusammen. Und für Przyworra war es unwesentlich, ob seine Tochter ihm einen Juden, einen Moslem oder einen Christen als Bräutigam vorstellte.
Davon war Elvira weit entfernt. An einen Bräutigam dachte sie noch nicht. Er war zudem seit zwei Jahren verheiratet. Und neue Schuld, indem sie in die Ehe eindrang, wollte Elvira in keinem Fall auf sich laden. Sie trug an dem nie ausgesprochenen, stillen Vorwurf ihrer Eltern, besonders ihres Vaters, am Tod ihres fünf Jahre älteren Bruders Jakob schuld zu sein, schwer genug. Sie war in jenem Jahr in die Schule gekommen, hatte viel Freude daran gehabt. Der Pregel war zeitig zugefroren. Das blanke Eis lockte sie zu schlittern. Sie kam nicht weit, brach ein. Jakob rettete sie, zog sie auf festeres Eis, brach selbst ein. Und verschwand. Wie von einem höllischen Sog fortgezogen. Tage später fand man ihn flussabwärts an einer Pregelbrücke. Vaters über alles geliebter erster Sohn war tot. Und als der Krieg begann, von dem wir heute wissen, dass es der erste große war, sagte der ungläubige Przyworra: „Das ist die Strafe für unsere Sünden!“
Ein helles und sensibles Mädchen wie Elvira musste das als Vorwurf empfinden. Zumindest Jahre später, da ihr die Worte nie aus dem Sinn gingen. Przyworra, rechtschaffen und geradezu, hatte daran mit keiner Silbe gedacht. Und sein Haus, an dem er wie ein Besessener arbeitete, hatte für ihn tatsächlich den romantischen Sinn, seinen Lieben eine Trutzburg zu schaffen, die ihn überdauern sollte.
„Mein Jud“, wie die kluge Elvira ihren Auserwählten in Gedanken nannte, hat ja nur eine schlichte Mission. Damit lade ich keine Schuld auf mich. Denn dabei soll es bleiben, dachte sie. Weder Ellen, noch Vater oder Mutter hatten Grund zur Sorge. Er war ein hochgewachsener schlanker Mann. Oberhalb der Stirn lichtete sich etwas das dunkle Haar. Zweiundvierzig Jahre war er erst alt und schon Professor. Elvira hatte ihre Heimatstadt noch nie verlassen. E r hatte schon in Heidelberg und München gearbeitet. Bei einem Lehrer, von dem er wie von einem kleinen Gott sprach. Elvira hatte den Namen vergessen, „Krebel“ oder „Kräpel“; weshalb sie sich „Kräppelchen“merkte, die ihre Cousine Isabella gerne und vorzüglich buk. Er war Psychiater. Das war für Elvira ein bisschen wunderlich – wie auch seine blauen Augen als Jude. Von seiner ganzen Person ging für sie eine Faszination aus. Wenn er ihr beim Tennis gefällig zuschaute, und sie spielte nicht sonderlich gut, fühlte sie sich wie durchleuchtet. An einem Wochenende war ihr Club mit dem Zug von Königsberg nach Cranz an die Ostsee gefahren. Für zwei Tage zum Training. In einer Pause waren sie alle ein Stück in die Dünen der Kuhrischen Nehrung hineingegangen. Gedankenverloren hatte sie mit ihrem nackten Fuß einen Bogen in den leicht feuchten Sand gezogen. Als er es sah, zog er seinerseits einen Gegenbogen, sodass die Linien sich hinten kreuzten und eine elliptische Figur, ähnlich einem Fisch entstand. Auf Elviras fragenden Blick antwortete er: „Ichthys! Ein urchristliches Symbol, wahrscheinlich ein Erkennungszeichen? Ich heiße zwar Jakob, bin aber Judenchrist!“
„Judenchrist“, was war das nun wieder? dachte Elvira. Und passten seine blauen Augen überhaupt zu einem Juden? Der Name Jakob elektrisierte sie. In diesem Moment war ihr wohl klar, dass e r es sein sollte! Diese eigenwillige, stolze junge Frau verband damit allerdings einzig den biologischen Akt, wie sie glaubte. Man könnte ihn selbst vornehmen, wenn er nicht persönliche Würde verletzte und mit Neugier und Sehnsüchten gepaart wäre. Doch gerade das war es bei Elvira in hohem Maße. Sie gierte geradezu nach dieser Erfahrung. Sie hatte sich zurückgehalten. Sie war meist Klassenerste gewesen, in dieser Sache aber offenbar die Letzte. Ideale gehörten nicht hierher, redete sie sich ein. Ein biologischer Akt – ein würdiger Mann nur sollte es sein!
Derart mit Widersprüchen beladen, eilte Elvira die restlichen Stufen hinauf. Heftig schlug ihr Herz. Schnell lief sie über die Wrangelstraße. Verweilte kurz auf der anderen Seite, wo man zwischen Dohna- und Wrangelturm der alten Befestigungsanlagen einen schönen Blick über den Oberteich hatte. Rechts im Osten neben dem Dohnaturm das Rossgärter Tor mit der nach Norden führenden Cranzer Allee, links, an der Westseite eine Badeanstalt und vom Wrangelturm ausgehend die Cäcilienallee. In ihr, freie Sicht zum Oberteich, befanden sich die Häuser der bekanntesten Universitätsprofessoren der Stadt. Das Domizil ihres Professors lag eine Parallelstraße dahinter in der Wartenburgstraße, die südlich am Wrangelturm in die Cäcilienstraße einbog. Zwei Generäle flankieren die Professoren, dachte Elvira. Von dem großen Krieg vor über zehn Jahren hatte sie noch nicht viel mitbekommen. Aber durch ihres Vaters pazifistische Haltung eine tiefe Abneigung gegenüber jeglicher Gewalt und kriegerischen Auseinandersetzungen. Sie ging in dem Viertel noch eine kleine Runde, um ihre Atmung zu beruhigen. Sie las Namen wie Tauroggen, Caub, Probstheida, Schlachtorte der Befreiungskriege, wie ihr der Professor erklärt hatte. War es eigenlich noch ziemlich, ihn Professor zu nennen – bei ihrem Anliegen? Er wusste davon nichts. Er hatte sie zum Tee eingeladen, weil sie mit seiner Bezeichnung als „Judenchrist“ nichts anfangen konnte. Ich werde ihm meine Wünsche auch niemals darlegen, wenn er sie nicht selbst erkennt, nahm sie sich vor. Sie hatte zwar einen Augenblick lang den kühnen Gedanken gehabt, sich nackt auszuziehen, während er den Tee bereitete. Aber sie verwarf den Gedanken wieder. Ich will zu ihm offen, doch nicht zu aufdringlich sein. Damit stoße ich ihn womöglich ab.
Es war ein kleines Häuschen, hatte im ersten Stock durch den Dachansatz bereits schräge Wände. Und der Tee war schon zubereitet. Professor Jakob Isakess, so hieß er mit vollem Namen, führte sie über einen schmalen Flur in einen kleinen salonartigen Raum mit zwei Sesseln, einem Sofa, alles mit rotem Samt bezogen, einem runden Tisch mit zwei Polsterstühlen, einem nussbraunen Klavier und einer Vitrine mit allerhand Gläschen, Porzellanvasen und -tässchen. Wie sehr Elvira mit ihrem Begehr beschäftigt war, sehen wir daran, dass sie beim Anblick des samtroten Sofas, sich ihren nackten Leib darauf vorstellte. Was sie für den Moment jedoch nicht vergnüglicher oder entschlossener machte. Er mag ein honoriger Mensch sein, sagte sie sich. Aber ich kenne ihn nur vom Tennis.
Als hätte Isakess ihre Gedanken erraten, sagte er: „Durch Ihre Natürlichkeit und Neugier haben Sie auch eine große Neugier in mir erweckt, Fräulein Elvira. Eigentlich höre ich lieber zu. Fühle mich wohl in der zweiten Reihe. In der Klinik und auch hier. Vorn in der Cäcilienstraße wohnen die Herren Ordinarien. Außerdem steht man als Jude sowieso besser hintenan!“ Er wies mit seinem Arm durch das Fenster und über den kleinen Garten hinweg zum Oberteich, dessen silbrige Wasserfläche sich zwischen zwei Häusern der Cäcilienstraße spiegelte. „Der Genügsame kommt überall auf seine Kosten“, sagte er. „Aber die erste Reihe hat mich schon auch hin und wieder gelockt.“
Er hatte in Heidelberg gearbeitet, in München bei Kraepelin (dem deutschen Psychiatriepapst aus dem mecklenburgischen Neustrelitz – Elviras „Kräppelchen“). Zurück in Königsberg habilitierte er sich mit gerade erst 29 Jahren. Im Kriege war er Chefarzt eines Lazaretts für Hirnverletzte. O ja, er hatte auch schon in der ersten Reihe gestanden. Doch nun war er unschlüssig. Sich unsicher, wie er dieser jungen Schönheit begegnen sollte. Was sie zu ihm zog? Gewiss, die Verehrung der strebsamen Jugend für den Arrivierten könnte es sein? Ihre Ungeduld, die flüchtigen Halt an Ufern suchte. Gegenüber Frauen fühlte er sich leicht als ein Tölpel. Ohne Charme und Witz, rational, wo die Frauen Gefühle erwarteten. Er hatte die erste Frau genommen, die sich ihm sympathisch zeigte: seine Solveig, ebenfalls Jüdin. Kinder würden sie wohl keine haben können. Das störte ihn nicht. Es wäre vor allem kein Grund zur Trennung. Solveig war so verlässlich und fleißig wie er, achtete überdies sehr auf Ordnung, was ihm etwas schwerer fiel. Das Körperliche stand niemals an erster Stelle. Und es könnte noch hundert Jahre so weitergehen, sagte er sich.
Elvira nippte an ihrem Tee. Sie schlug die Beine übereinander, mal nach links, mal nach rechts. Sonst verriet nichts ihre Ungeduld. Die Augen groß und wach, spielte ein sanftes Lächeln um ihren Mund. Hatte sie ihr Anliegen bereits aufgegeben? Oder inzwischen als unsinnig empfunden? Freimütig und ungeduldig hatte Isakess sie allerdings schon kennengelernt: An den Wochenenden ihres Tennisclubs in Cranz. Abends nach dem Training beim Seebad. Sie hatten sich in den Dünen umgekleidet, Männer und Frauen etwa 50 Schritte voneinander entfernt. Elviras Stimme war unüberhörbar. Sie schlug den Damen ein Nacktbad vor. Spornte die Zögerlichen lachend an, sodass fast alle schließlich ebenfalls lachend und tollend ihrem Beispiel folgten - den lebhaft anrollenden Wellen der Ostsee entgegenstürmten, anfangs die Gischtkämme zu überspringen versuchten und sich dann aufjuchend ins Wasser warfen. Ein Bild, das sich die Männer aus der Distanz nicht entgehen ließen, die aber selbst brav in Badehosen ins Wasser schritten... Wochen später eine ähnliche Situation – doch diesmal mit irritierendem Ablauf. Am gleichen Ort, am Meer in den Dünen von Cranz. Fast die gleiche Sportlergruppe. Vermutlich warteten die Damen von Elviras Tennisclub auf ihr neuerliches Kommando. Einige begannen sich auszuziehen. Doch Elvira rief plötzlich mit ernst erhobener Stimme: „Als Judenchristin will ich heute Buße tun. Ich habe meinen Bruder Jakob auf dem Gewissen!“ Sie trat mit nackten Füßen ans Wasser, entkleidete sich langsam. Stück für Stück ihrer Kleidung schlug sie mehrmals in den Wind, ließ es dann auf den Strand treiben. Dazu rief sie, jetzt eher heiter: „Alles muss gereinigt werden – auch ich!“ Und ganz nackt warf sie sich in das kalte Wasser und schwamm ins Meer hinaus. Isakess und einige weitere Männer hatten inzwischen ihre Badekleidung angelegt, auch einige Frauen. Allen war die Sorge um Elvira anzumerken. Doch diese kehrte schon wieder um, schritt erleichtert lächelnd aus dem Wasser und zog sich ein offensichtlich vorbereitetes, fußlanges schneeweißes Tüllkleid über, das vom nassen Körper freilich mehr zur Ansicht freigab als verhüllte. Mancher glaubte nun wohl, kein religiöses Ritual erlebt, sondern einer Show aufgesessen zu haben. Wir haben Grund, für Elvira beides anzunehmen. Zwei Frauen hatten ihre Kleidungsstücke aufgesammelt, hakten Elvira unter und gingen mit ihr von dannen. Die anderen Frauen und die Männer folgten. Nur einer blieb stehen, weil er rundum scheele Blicke als vermeintlicher Verursacher der Szenerie zu spüren glaubte: Jakob Isakess, der Jud. Und obwohl schuldlos und ohne irgendeine missionarische Ambition, empfand er doch Schuld: War er zu weit gegangen? fragte er sich. Als er der ihn neugierig bedrängenden Elvira unlängst zum Tennisnachmittag von diesem Ritual erzählt hatte - und dass im Talmud zu lesen sei, dass Maria ein Flittchen war und Jesus in der Hölle in seinen Exkrementen schmore. Warum hatte er diese völlig unnötigen verleumderischen Worte ihr überhaupt offenbart? Die junge Dame war regelrecht erschüttert gewesen. Ihm war nichts anderes eingefallen, als hinzuzufügen, dass Juden ja eben Buße tun, sich von ihren Sünden reinigen könnten. Sie seien dann zwar nicht getilgt, aber Gott führe sie nicht mehr im „Buch des Lebens“. Und sie müssten auch nicht, wie Augustinus meinte, darauf warten, dass Gott sie bekehre... Isakess nannte fortan diese kleine Episode am Meer für sich Elviras „Augustinuskoller“. Aber als sie ganz in Weiß, so rein wie eine Heilige, mit den Frauen davongegangen war, hatte ihn eine panische Angst erfasst, wie er es bisher noch nicht erlebt hatte.
Am nächsten Tag war beim Tennis keine Rede mehr von der Geschichte. Elvira, fröhlich und lebhaft wie meist, wurde nur einmal von einer älteren Dame in feinem Sonntagsstaat mit hellem breitkrempigen Hut an den Zaun des Tennisplatzes gewunken: „Schämen Sie sich nicht, Sie junges Mädchen, so reizend wie Sie aussehen – aber in kurzen Hosen!“ Elvira verneinte laut lachend. Sie lief jedoch nicht weg, sondern kam mit der Dame ins Gespräch, wohl über die Vorzüge der noch ungewohnten Sportbekleidung, sodass Isakess mit Verblüffung feststellte, wie die Damen sich offenbar einigten und freundlich auseinandergingen.
Isakess' Bedenken indes waren geblieben. Er fühlte sich als Ehrenmann, was immer das bedeutete. Jedenfalls als einer, der auch mit jungen Damen ehrenhaft umging, die ohne Bedenken in sein Haus kamen. Sogar wenn die Dame des Hauses außer Haus war. Was Isakess so eingerichtet hatte und was vielleicht das einzige winzige Unehrenhafte an seinem Verhalten war. Denn unehrenhafte, wilde, ja für ihn verbotene Gedanken verdrängte er sofort gründlich. Ganz im Gegesatz zu Elvira, die sie mitunter nicht ohne Vergnügen zuließ. Sie fragte sich zwar, woher sie es habe? Von ihrer Mutter Anja, der Sanften, Gutmeinenden gewiss nicht. Ellen redete frei und unbekümmert, ohne eigene innere Zensur. Da war sie selbst doch vorsichtiger. War es die Zeit? Die Menschen mochten Hunger haben, weswegen sie sich schlugen, aber d e n Hunger klammerten sie in ihren Reden aus oder witzelten darüber, um ihn insgeheim womöglich gieriger zu stillen als in satten Zeiten.
Manche nahmen ihn kaum wahr. Wie Isakess. Er hatte sich erhoben, um Elvira Tee einzugießen. Hätte sie es für ihn tun sollen? überlegte sie. Er nahm sich zwei Stück Zucker und Sahne. Er war ungeheuer groß, fast ein bisschen zu hager, hatte aber durch das Tennisspiel doch muskulöse Schultern, Arme, Brust. Sie hatte gar nicht mehr recht an ihr ursprüngliches Anliegen gedacht, fragte sich aber nun: Ob er ein guter Liebhaber ist? Die Nase war groß, leicht gekrümmt. Die Lippen wulstig. Das schwarze Haar nur in der hinteren Kopfhälfte noch lang und dicht. Was weiß ich von gut oder schlecht? dachte Elvira. Und vielleicht kriege ich es ja nie zu erfahren?
Gütige, aber auch ein wenig zweifelnde, traurige Augen musterten sie, als er sagte: „Als ganz junger Arzt, nur ein paar Jahre älter als sie jetzt, habe ich gegen einen in der Psychiatrie aufkommenden 'Gehirnmythos' gewettert. Dass seelische Krankheiten H i r n krankheiten seien! Also alle unsere seelischen Regungen letztlich durch unser Gehirn erklärbar. Heutzutage macht sich ein nicht weniger gefährlicher Gegenstrom breit, die sogenannte Psychoanalyse. Im Grunde nur eine neue verheerende Ideologie. Was nach langer geistiger Entwicklung die Menschheit, ehrenhafte Leute zu der uns möglichen Höhe an Selbstreflexion brachte, glaubt sie, durch Schürfen in menschlichen Niederungen, sexuellen Begehrlichkeiten aufdecken und uns vermitteln zu können. Im Allzumenschlichen, von Fesseln befreit, der Mensch zurüchgekehrt zur Natur! heißt es. Aber ist er dann eigentlich noch ein Mensch?..“
Isakess redete sich in Rage. Elvira hörte kaum noch zu. Sie fühlte sich ertappt, gedemütigt. Wie eine schöne Puppe saß sie starr auf dem samtenen Sofa. In ihrer gegenwärtigen Verfassung wirkten Worte wie „sexuell“, „begehrlich“, „allzumenschlich“ auf sie wie Geißelhiebe. Dabei hatte Isakess nicht einen Moment lang an sie gedacht, etwas ganz anderes gemeint, als sie empfand, zumal ihm ihre Gedanken ja auch gar nicht bewusst waren. Er hatte über sich, vor allem auch z u sich gesprochen, weil er in einer Art Trauer zu spüren glaubte, dass ihm in der jungen Frau eine andere Welt gegenübersaß. Ursprünglicher, unvoreingenommener, verlangender, lebenslustiger als die Seinige. Zu allem Überfluss stellte Elvira ihre Tasse so ungelenk ab, dass sie ihren Tee verschüttete. Sie entschuldigte sich mehrmals, als sei das Versehen ein Ausdruck ihrer Schlechtigkeit, wie sie es in diesem Moment tatsächlich empfand, tupfte mit ihrem Taschentuch den verschütteten Tee auf und verabschiedete sich rasch.