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1.1.7 Judenschlingel

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Fast zwei Jahre blieb Isakess in Berlin. Seine Frau pendelte in dieser Zeit ein paarmal zwischen der deutschen und der ostpreußischen Hauptstadt. Und jedes Mal fürchtete Isakess, sie könnte Elvira aufsuchen und zur Rede stellen. Er hatte keinen Grund es anzunehmen, Solveigs Verlässlichkeit, ja ihr Versprechen anzuzweifeln. Doch sie musste spüren, dass ihm diese Frau nicht aus dem Kopf ging. Obwohl er selbst nicht wusste, ob er den Kontakt wieder aufnehmen würde. Ob Elvira ein Glückssteinchen oder ein Stolperstein für ihn war? Immerhin baute er sich kleine Brücken. Jesus sagte in seiner Bergpredigt: „Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen.“ Solveig hatte ihm grünes Licht gegeben, wenn auch dieses nicht genauer definiert. Für Elvira war er wohl bisher der einzige Mann. Waren seine Gewissensbisse nicht überflüssig? Eine Jeanne d'Arc war Elvira nicht. Sie spürte keine Mission. Sie war ganz sie selbst, Natur pur. Causa sui! Isakess entwickelte den Hang, mit wissenschaftlichen und halbwissenschaftlichen Thesen das eigentliche Problem zu umgehen. Er hielt es für legitim, sich an das Ungewisse heranzutasten. In der wissenshungrigen Elvira fand er dafür dankbare Aufnahme. Ja, je mehr Isakess sie in seinen spärlichen Briefen in ein Geflecht von Gedanken und Vorstellungen führte, die ihr fremd waren, umso mehr fühlte sie sich zu ihm hingezogen. Sie hätte ihm gern jede Woche, jeden Tag einen Brief geschrieben, wollte jedoch weder ihn noch seine Frau, von deren Besuchen bei ihm sie wusste, derart bedrängen. M i c h hat er noch nie nach Berlin eingeladen! empörte sie sich innerlich. Machte sich aber sofort ihre Stellung bewusst, sodass eher Schuld als Protest in ihr dominierten. In diesem Denken, mit rationalen Überlegungen gefühlsmäßige Erfahrungen zu verdrängen, war sie Isakess nicht ungleich. Obwohl es bei ihm, dem Wissenschaftler, geübt Ursachen zu finden und Zusammenhänge herzustellen, eine ganz andere Dimension besaß. Elvira reagierte auch diesbezüglich natürlich, locker, jugendlich: Ich kann und will ja gar nicht seine Frau sein!

Isakess war sich unsicher geworden, ob er überhaupt ein Problem hatte. Er war Jude: ein Problem, das in jüngster Zeit wieder gefährlich und vielstimmig anklopfte. Und sonst? Als Arzt und Professor hatte er auch noch in Jahren wirtschaftlicher Talfahrt halbwegs sein Auskommen. Bescheiden und strebsam wie Solveig und er lebten. Das Schicksal fragte freilich nicht nach ethischen Werten. Aber Isakess hatte für sich ja das Spielchen entwickelt, sich mit philosophischen und religiösen Fragen zu beschäftigen, um sich über sich klarer zu werden. Unerwartet war dabei der begeisterte Zuspruch Elviras, sofern er sie einweihte. Er hatte sich in Berlin mit einem Kollegen beraten: seines Alters, ein renommierter Fachmann, Begründer eines bekannten Entspannungsverfahrens, Vertreter einer nichtpsychoanalytischen Psychotherapie. Isakess hielt das Gespräch mit ihm geheim. Aus Scham, sich Spott auszusetzen. Auch zu dem Kollegen war er nicht sehr gesprächig gewesen, sodass dieser ihm eine Selbstanalyse empfahl. Um gegebenenfalls innere Blockaden zu lösen, ihren Ursachen auf die Spur zu kommen. Oder um sich überhaupt erst einmal zu vergewissern, was ihn bedrücke? Womöglich sei er ja nur verliebt?

Nein, verliebt bin ich nicht, sagte sich Isakess. Konnte er überhaupt lieben? Oder war er zu dröge und zwanghaft dafür? Liebte er Solveig, obwohl er oft an eine andere dachte? Seit seinem Fehlverhalten stellte Isakess all sein bisheriges Tun und Denken in Frage. Glaubte er noch an Gott?Den er bisher als einen Angelpunkt seines Lebens bezeichnet hatte? Wenn ja, an welchen? Auch die Juden kannten einen alten und einen jungen kriegerischen. Im Alten Testament hieß es: Der Geist Gottes schwebte über dem Wasser. Der Messias? Oder war es ein Hinweis für die Dreifaltigkeit der Christen? Nannte er sich Judenchrist, um sich nicht festlegen zu müssen? Assimilation in beide Richtungen? Er fühlte sich als Jude, aber lebte wie jedermann. Er dachte als Christ, hielt Jesus für einen Messias, akzeptierte aber auch die Gewissheit seiner orthodoxen Brüder, dass I h r Messias noch komme. Oder dass man Jude stets nur in religiös-ethnischer Einheit sei. Unter Fehlverhalten verstand er entgegen Elvira, die nur die kurzen brutalen Auswüchse meinte, auch seine Annäherung an sie generell. Sie selbst war ja dankbar für seine Zuneigung, störte sich eben nur an ihrer groben Vollendung. Ein Aspekt, der ihm auf geheimnisvolle Weise abhandengekommen zu sein schien. Sie hatte ihn darauf aufmerksam gemacht. Und d a r a n entsann er sich. Aber nicht an die Sache selbst. Ein dunkler Fleck, der ihn tief beunruhigte, den er immer wieder als Irrtum, als Einbildung verwarf – und doch eigentlich der Grund, weshalb er so flugs nach Berlin aufgebrochen war, weg aus Elviras Reichweite. Konnte man Dinge tun, die man hernach nicht wusste? Einer sensiblen, jungen lebenssüchtigen Frau – ein bisschen provokativ, aber in keiner Weise verletzend oder gar selbst verletzenswürdig!

Aus diesem unbestimmten Schuldgefühl heraus hatte er als gläubiger Mensch ihr in einem Brief die Gretchenfrage gestellt; noch erinnernd, dass sie von ihrem schwankenden Glauben berichtet hatte. Er verband damit die Vorstellung, dass sie vor Gott Einvernehmen erzielen und alles Getane getilgt werden könne. Sie antwortete sofort: „Ja, ich bin religiös! Wenn ich in den Himmel schaue, mir das Weltall vorstelle, die unfassbare Unendlichkeit, dann empfinde ich Demut und Dankbarkeit. Ist das nicht ein religiöses Gefühl?“ Er war verblüfft. Schrieb ihr, dass er es auch so sehe, holte aber seinerseits noch etwas aus: „In dieser uns von der Natur eingegebenen Religiosität sollen wir eine Empfänglichkeit für ein Gottesbewusstsein entwickeln. Meint ein Theologe namens Schleiermacher. Jesus habe uns dafür vorbereitet. Und der romantische Philosoph Schelling sieht die Natur überhaupt als eine gottbeseelte. Aber Kierkegaard, ein dänischer Theologe und Philosoph, sagt uns, dass jeder Einzelne erst durch seine innere Hinwendung an Gott, durch Glauben u n d Handeln sich verwirklichen kann. Unser Sein sei existenzielle Lebenskunst. Nicht einfach Versenkung, sondern Aneignung!“

Elvira antwortete: „Ich habe bei mir im Gewerkschaftshaus einen Kollegen gefragt, was wir philosophisch unter 'Sein' zu verstehen haben, wenn es nicht unser normales Alltagsleben ist? - Er sagte: 'Nach Hegel bestimmt unser Bewusstsein das Sein. Nach Marx das Sein unser Bewusstsein. Doch unser Alltagsleben werden schon beide dabei auch im Sinn gehabt haben.' Übrigens ist mir Schleiermacher im Moment am liebsten: da darf ich wohl auch ein bisschen gottlos sein und bin trotzdem noch religiös.“

Isakess erwiderte: „Manche sagen, wir Menschen der Neuzeit seien gar nicht mehr religiös, sondern nur spirituell eingestellt. Wir hätten den Wunsch nach einer ganzheitlichen Welt oder nach einer Verschmelzung mit dem 'Anderen'.“ Er selbst halte es mehr mit Kierkegaard.

Isakess meditierte wieder öfter, nicht allein, um jenes obskure Gefühl loszuwerden, diese vermeintliche oder tatsächliche Blockade seiner Besonnenheit, sondern weil es zu seiner bisherigen Lebensführung gehört hatte, von ihm nur etwas vernachlässigt worden war. So gingen die Wochen und Monate dahin, ohne dass ihn eine grundsätzlich neue Erfahrung erfreut oder aufgeschreckt hätte. Wie gewohnt wurde er auch von seinen Berliner Kollegen für seine klinische Arbeit, seine Ideen geschätzt. Ein kleines Forschungsprojekt zur Schlafkurbehandlung bei schizophrenen Erkrankungen hatten sie abgeschlossen. Kontakte hielt er in Grenzen. In Berlin lebten die meisten deutschen Juden. Inzwischen viele Ostjuden. Es hatte auch schon gewaltsame Ausschreitungen gegen sie gegeben. Bekannt war, dass der neue Politstern am deutschen Himmel den Juden die deutsche Staatsbürgerschaft verweigern wollte. Die Arbeitslosenzahlen und die Wahlerfolge seiner Partei stiegen. Isakess hatte schon an seine Heimkehr gedacht, als ihn in seinem zweiten Berliner Winter ein Traum verstörte. Und bald darauf ein Erlebnis. So blieb er noch, als wenn in der Ferne das mögliche Rätsel besser zu lösen sei.

Sein Traum: Sie waren irgendwo in den Dünen der Kuhrischen Nehrung. Er, sein Vater und ein Dienstmädchen, das Elvira sehr ähnlich sah. Zumindest war es so schlank und schön wie sie. Ihn verwirrte, dass ihr Haar wiederholt seine Farbe wechselte. Von Schwarz zu Blond zu Rot. Auch ihr langes seidiges Kleid, das ihr bis zu den Füßen reichte, wechselte mitunter die Farbe von Dunkel zu Hell, sodass es dann wie durchscheinend wirkte. Im Wind flatterte es anschmiegend um ihren Leib. Er hatte das Gefühl, dass Vater hinter dem Dienstmädchen her war, was ihn grämte, da er es auch sehr mochte. Sie flüsterte ihm zu: Verrat es nicht! Er tötet mich sonst! Sie lief vor ihm weg, versteckte sich zwischen den Dünen und forderte auch ihn dazu auf. Er sah Vater immer nur als Schatten, der um die Dünen flog, die sie mit Holzschaufeln weg- und umschippten, weil es so eine Anordnung war. Aber das Meer schwemmte alles immer wieder ducheinander. Und sie mussten von vorn beginnen...

Isakess erinnerte sich, dass er als Student zusammen mit Kommilitonen einmal in einem Königsberger Speicher Korn umgeschaufelt hatte. Von einer Seite auf die andere. Immer wieder. Damit es sich nicht entzündete. Ihm fiel auch ein, dass sie tatsächlich eine Zeit lang ein Diestmädchen im Hause hatten. Er war wohl so acht oder zehn Jahre alt. Es war eine derbe Frau vom Lande, die schon in mehreren Haushalten gearbeitet hatte. Vater hatte sie wohl mehr für ihn als Gouvernante angestellt, die ihm Ordnung beibringen sollte. Er hatte gesagt: „Sie mag uns Juden zwar nicht, aber ist fleißig und billig.“

Mehr konnte Isakess mit dem Traum zunächst nicht anfangen. Im Winter fuhr er einmal in Berlins Peripherie, wo mancherorts kleine Märkte abgehalten wurden, die für Städter zu erschwinglichen Preisen Obst, Gemüse, eingewecktes Fleisch und dergleichen anboten. Es war grimmig kalt und manche Frauen hatten sich unter ihren Schemel einen Topf mit glühenden Kohlen gestellt, dämmten den Wärmeverlust rundum durch ihre weiten, dicken dunklen Röcke. Das kannte er aus Ostpreußen. Ihre Dienstfrau trug ebensolche Röcke. Ihm fiel jetzt sogar ihr Name wieder ein. Mit ihrer Hausarbeit war sie immer schnell fertig. Setzte sich dann zu ihm, um ihm bei den Hausaufgaben zu helfen. Einmal strich sie ihm übers Haar und sagte: „Na, du kleiner Judenschlingel – hast du überhaupt schon 'nen Pimmel?“ Sie öffnete seine Hose und streichelte ihn, kommentierte: „Na ja, een Bleistiftchen!“ Ein andermal schlug sie vor, Versteck zu spielen, drückte ihn kraftvoll nieder und schlug ihre Röcke über ihn. Ob er denn schon wüsste, was man mit so einem Bleistiftchen macht? Er wusste nicht mehr, ob er neugierig oder einfach überrumpelt war? Heiß, wie glühende Kohlen kam es ihm jedoch vor, als sie plötzlich sein Gesicht gegen ihre Scham drückte. So heftig, dass er fürchtete zu ersticken. Das wiederholte sich in den Monaten darauf noch zwei-, dreimal.

Isakess fragte sich, warum ihm das alles nicht schon eher eingefallen war? Aber auch, ob es überhaupt eine Erklärung war für sein Verhalten? Und für welches? Die Frau hatte wohl auch tatsächlich gesagt: Verrat es nicht! Von Tötung keine Rede, kein Gedanke. Oder doch? Hatte e r womöglich gedacht oder geträumt?: Vater müsste sie töten! Sie hasst uns! Judenschlingel!

Monate später, schon wieder in Königsberg, erfuhr Isakess, dass sie einen kleinen Posten in der Ortsgruppe der NS-Frauenschaft innehatte. Seine Gedanken kreisten wieder oft um sie. Nach und nach lichteten sich Erinnerungsbilder. Als heranwachsender Mann hatte er bei sexuellen Themen meist weggehört. Über die Reize der Mädchen sprach er weder begierig noch abfällig. Er schwieg, war für beide Urteile anderer Jungen jedoch sehr empfänglich. Er entsann sich auch, dass in seinen Träumen ihr Dienstmädchen oft eine Rolle gespielt hatte. Als böse Fee und auch als begehrliche Prinzessin. Ihm schien jedoch der Schluss voreilig, dass seine Kindheitserlebnisse seine distanzierte Haltung zur Sexualität und sein eher abständiges Sexualleben mit Solveig beeinflusst hätten.

In einem Brief hatte er Elvira seine Rückkehr nach Königsberg angekündigt. Ihr gleichzeitig geschrieben, dass es ihm gegenwärtig gewagt und nicht ratsam erscheine, dass sie sich mit einem Juden treffe. Was Elvira kränkte. Sie wusste schließlich selbst, was sie zu tun hatte! In seiner Abwesenheit war sie ihrer Freundin Ellen wieder nähergerückt. Sie war mit ihr auch zweimal wieder in einer Oper gewesen. Für Elvira neuerlich wunderbare Klang- und Spielerlebnisse, mehr als für Ellen. Gern plauschten sie nach der Arbeit in Cafés oder beim Bummel am Schlossteich. Isakess seinerseits wollte seine Frau nicht aufs Neue kränken. Und Elvira hatte in den zwei Jahren nicht selten an den langen Blondschopf Wilhelm gedacht: Wäre es nicht eine vernünftige Lösung?

Elvira und Isakess strebten also nicht direkt zueinander, aber ihre Kreise berührten sich nicht zufällig. Was halfen Vorsätze, wenn ihrer beider Geschichte noch nicht ausgestanden war, es noch etwas zu begleichen gab? könnte man meinen. Isakess lief jetzt abends oft am Pregel entlang, auf den Sackheim zu. Und Elvira wieder zum Oberteich hinauf. Mit häufigen Blicken zum Wrangelturm. In Isakess Überlegungen spielte Vernunft neuerdings mit einem anderen Akzent eine Rolle: Der Mensch konnte sehr wohl mit rationalen Argumenten seine Gefühle zudecken. Aber hatte nicht der große Kant sie schon gelehrt, dass die sinnliche Wahrnehmung der begrifflichen Erfassung bedürfe, um Erkenntnis zu sein? Stieg Verdrängtes irgendwann aus der Versenkung auf – oder nur, wenn es mit unserem Leben kollidierte?

Die inneren Ängste der beiden waren noch nicht überwunden. Bei Elvira die Furcht vor Gewalt. Bei Isakess vor einem Blackout. Die äußeren Ängste wehrten sich. Elvira schaute sich ein paarmal um, wenn sie um den Wrangelturm zu seinem Haus und zurück ging. Er prüfte, ob er beobachtet oder verfolgt werde, je mehr er sich ihrem Mietshaus am Pregel näherte. In der Regel bog er in seine Richtung nach Norden ab, bevor er es sah. Als er es einmal nicht tat, stand sie plötzlich am Pregelufer vor ihm. Sie sahen sich lange an. Ungewissheit und Ängstlichkeit in beider Blick. Dann warf sich Elvira an seine Brust, klammerte sich fest, als wollte sie ihn nicht wieder loslassen.

Sie verabredeten sich für die Woche darauf. Brauchten wohl eine letzte Besinnungspause? Elvira war entschieden. Isakess zögerte noch... Zwei Stunden später, wenn tiefe Dunkelheit sie umfing, sollte es sein. Er ging wie ein Einbrecher zu ihrem Haus. Nur auf den Außenballen der Füße, um keine Geräusche zu verursachen. Elvira erwartete ihn schon in der Haustür. Oben zogen sie einander langsam aus. Ein bisschen ungelenk, wie zwei Pennäler. In der Art eines formelhaften Vorsatzes sagte er sich: Ich darf ihr nicht wehtun, was auch immer passiert! Elvira wirkte entspannt, frei von Angst. Er genoss ihre Schönheit. Mit seinen Augen, Händen, Lippen. Sie seine zärtliche Zuwendung. Und als sie beide in höchster Lust erbebt waren, sagte er sich, „kopfgesteuert“, wie er sich bisweilen bezeichnete: Zuviel Gedanken gemacht, Jakob!

Doch als er dann aufgestanden war, um etwas Saft für Elvira und sich aus ihrer Küche zu holen -

und zurückkommend sie immer noch sehr gelöst und lustvoll vor ihm lag: da schoss ein irrer Gedanke durch seinen Kopf, ihm entglitt das Glas, er tat einen Schritt nach vorn, wankte, schlug mit seiner Stirn auf der Holzdiele auf, rappelte sich sofort halb benommen wieder hoch und wusste: dass er sich vor zwei Jahren wie in Trance nicht auf sie, sondern auf eine andere gestürzt hatte... Um ihr seine gereifte Manneskraft zu beweisen und sie für erlittene Demütigung selbst leiden zu lassen?.. Jedenfalls mit einer Intensität, die ein Vielfaches des einst Erlebten war.

Besorgt bemühte sich Elvira um ihn, küsste die Schramme an seiner Stirn. Doch er lachte wie befreit, umhalste sie immerzu und bedeckte sie nun seinerseits mit Küssen, Füße, Beine, Leib, ließ nichts aus, liebkoste sie wieder und wieder, sodass sie mehrfach verzückt leise aufschrie. Schmerzhaftes war von so einem fröhlichen und beschwingt-lüsternen Liebhaber nicht mehr zu befürchten.

Es war der Beginn einer Leidenschaft, die sie oft schuldvoll empfanden, doch von der sie nicht lassen konnten. Was in ihm in den zwei Jahren bis zur Stunde vorgegangen war, behielt er für sich. Elvira empfand es später oft als wundersame Wandlung. Ihre Liebe stand vor harten Proben. Sie hätte wohl kaum mehr als Wochen, Monate überdauert, wenn das Einende nur das Erleben lustvoller Körperlichkeit gewesen wäre. Für Isakess bedeutete sie einen Aufbruch nach innen, in sein Selbst. Für Elvira einen Aufbruch nach außen, in eine ihr unbekannte geistige Welt. Oft sagten sie einander aus Angst vor schneller Vergänglichkeit ihrer Zweisamkeit, sie wollten unbedingt – was auch komme – diese Stunde, diesen Tag, da sie zusammen waren, in ihrem Gedächtnis festhalten, da ihnen niemand diese Zeit mehr nehmen könne. Isakess spürte diese Ängste noch stärker als Elvira. Sozusagen hautnah als Jude. Sie hielt seine Befürchtungen oft für überzogen. Er hatte ihr nicht nur nichts über seine Kindheitserlebnisse erzählt, sondern auch Worte wie „Judenschlingel“ vermieden, damit sie nicht womöglich aus Feingefühl von ihrem gelegentlichen zärtlichen „mein lieber Jakob-Jud“ abließ, das ihm sehr von Herzen kam. Da Elviras Eltern und ihr Bruder in das neuerbaute Haus eingezogen waren, trafen sie sich immer spätabends bei Elvira in der kleinen Wohnung am Pregel. Meist ließen sie sich zunächst kaum Zeit für ein paar Worte der Begrüßung, strebten stürmisch danach eins zu sein. Nackt traten sie dann im Dunkeln ans Fenster, umarmten sich, schauten zum Pregel hinunter und zählten die beleuchteten kleinen Fischerboote und Schubkähne, die flussabwärts fuhren. Einmal waren sie im heftigen Verlangen aus dem schmalen Bett auf den harten Dielenfußboden gefallen, zerrten wie im Reflex noch ein Stück Zudeck unter sich – und schliefen schließlich mit einander fest umschlungenen Armen und Beinen ein. Als Elvira erwachte, wagte sie nicht, sich zu räkeln, dachte: Ich will seinen Körperduft atmen. Ich möchte alles von ihm festhalten, nichts hergeben – und muss es doch!.. Isakess wunderte sich nicht wenig über sein neu erwecktes Triebleben. Immer häufiger verging ihnen freilich das Interesse an lustvoll genossenen Tollheiten. Elvira knipste dann das Licht an, ließ die Rollos herab.

Sogenannte Kampfverbände der Parteien marschierten durch die Straßen, auch über den Sackheim. Sie grölten, prügelten sich. Das waren Stunden, in denen Elvira kaum ansprechbar war oder nur depressiven Gedanken nachging und sich von Isakess' Befürchtungen anstecken ließ. Von einem Vorfall wird noch die Rede sein.

Mutters Wahn

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