Читать книгу Mutters Wahn - Martin Goyk - Страница 20
1.2.4 Überraschung für Marie
ОглавлениеMarie wusste, dass ihr Mann an Tagen nach guten Geschäftsabschlüssen ein kräftiges Essen wünschte. Er aß gern Fisch. Sieben bis neun Pfennige kosteten die Matjes- und die Matfullheringe das Stück. Das war etwas Kräftiges. Die Matjes für besondere Tage. Zu Kartoffeln gereicht kam Marie mit dreißig Pfennigen für ein Mittagessen aus. Zum Frühstück mochte Mattulke gebratenes Bauchstück. In süß-saurer Soße war es für ihn ein Leckerbissen. Aber für gewöhnlich kaufte Marie nur etwas Grützwurst. Zu Feiertagen einmal eine Räucherflunder. Mittags kochte sie oft Wruken mit Hammeltalg. Hin und wieder gab sie etwas Schöpsenfleisch oder Spannrippe hinzu. Kaufte sie einmal für eine ganze Woche zehn Heringe, dann bekam sie den elften gratis. Neuerdings musste sie für den elften ein Paket Papier abliefern. Wenn doch im Krieg nur Holz verbrannte! dachte Marie.
Das Wirtschaften hatte Marie jedenfalls gelernt. Mattulke ließ ihr freie Hand. Sie führte das Haushaltsbuch. Am Monatsende wollte ihr Mann ein Plus sehen. Anfangs hatte Marie dieser Zwang zum Sparen oft krank gemacht. Sie fürchtete ihren Mann. Sie fürchtete diesen Tag der Abrechnung und Mattulkes donnernde Stimme. Doch mit den Jahren konnte sie nun auch diese Schmach ertragen.
In Glück hatten sie nicht lange gelebt. „Nimm ihn, Marie, er wird dich glücklich machen. Ein Leidender erspart den anderen Leid.“ So hatte ihr gütiger Vater gesagt, der ein Leben lang für den Gutsherrn Schafe gehütet hatte; vielleicht war es so bei Schafen. Ihre Mutter, die einstige Magd, hatte genickt, und Marie hatte zugestimmt. Sie bereute es nicht mehr. Auch sie war eine Magd geworden. Diejenige von Mattulke. „Jeder muss sein Los tragen“, hatte ihr Vater prophezeit, „und bedenke, er ist Angestellter, und er hat Ehrgeiz.“ Hierin hatte sich ihr Vater nicht getäuscht. Ihr Mann war sehr ehrgeizig. Manchmal ging er ins „Goldene Herz“, um Skat zu spielen. Dann trank er. Doch wenn er viel trank, hatte er viel gewonnen. Er war ein schlechter Verlierer. Mitunter verdiente er nebenbei Geld. Er gab ihr fast alles.
Früher hatte Marie in einsamer Stunde einmal erwogen, ihrem Mann davonzulaufen. Sie ahnte, was er mit Frauen trieb. Man konnte ja manche billig haben. Seit vielen Jahren vermisste sie ihn nicht mehr. Sie waren durch ihre Kinder und das sorgsam geführte Haushaltsbuch aneinander gekettet. So manche Mark hatten ihre Söhne erhalten. Reinhard würde wohl zeitlebens bei ihnen bleiben. Er war zu kränklich. Von Geburt an durch seinen Klumpfuß behindert. Und auf dem Gericht hörte er nichts Gutes. Wilhelm hatte seine Chance in Lyck vertan. Wenn er nur heil den Krieg überstand. Wilhelms Plus war seine Frau.
„Wir werden ein Haus kaufen“, hatte ihr Mann nun gestern überraschend gesagt. „Ein Grundstück behält seinen Wert.“
Ein nicht mehr erwartetes Glücksgefühl wühlte Marie auf. Als habe sich der Sinn ihrer Ehe nun doch noch erfüllt. Als würden auf einmal all die Jahre der Entbehrung, des Leids und der eisernen Sparsamkeit belohnt.
In aller Frühe hatte sie begonnen, ihre Wohnung zu säubern. Wieder und wieder fuhr sie mit dem Staublappen über die Möbel. Alles war blank. Die Dielen in den zwei kleinen Zimmern und in dem Kämmerchen, wo Reinhard sich einrichtete, wenn die Enkel zu Besuch kamen, glänzten. Was kann man in so einem Winkel von Zimmer schon aufräumen? dachte Marie. Sie ordnete Reinhards Wäsche in den Schrankfächern neu. Eine Frau würde er wohl nicht mehr kriegen. In dem neuen Haus brauchte er wenigstens nicht mehr wie ein Vagabund auf dem Boden oder in diesem Kabüffchen zu wohnen. Die noblen Herrschaften ließen einen eben doch nicht im Stich. Eine feine, gesittete Dame wie die Baronin, zu der eigentlich ein Herr wie ihr kulanter Oberinspektor besser passte als ihr drolliger kleiner Mann.
Marie strich sich über ihre erhitzten Wangen. Zusätzliche Anschaffungen würden sie nicht machen können. Reinhards Bett musste natürlich mit. Es war aus stabilen Metallrohren gefertigt. Marie schmunzelte versonnen. Sie erinnerte die erste Nacht mit ihrem Mann. Sie hatten noch kein Bett, nur eine Liege mit zu schwachen Beinen. Damals war ihr Mann noch zärtlich. Marie nannte er sie seit dieser Zeit statt Maria.
Sie hielt sich die Hand vor den Mund, als müsse sie sich ihrer Gedanken schämen. Faltete flüchtig ihre Hände, ergriff wieder den Staublappen und wischte über den Rauchtisch. Auch der musste mit, Reinhards Stühle, das Vertiko aus der Stube natürlich, die Couch. Sie war schon etwas durchgelegen, aber Wilhelm schlief immer wieder gern darauf, wenn er sie besuchte. Selten genug geschah es. Das Rückenpolster war noch straff. Marie putzte den verschnörkelten Holzrand und die Seitenlehnen, die wie Zöpfe aussahen. Neu beziehen lassen mussten sie die Couch, vielleicht diesmal rot, anstelle von grün. Der Küchenschrank musste mit, auch die große Holztruhe, die sie noch von ihren Eltern hatte. Wie alt mochte die Truhe sein? Kriegerszenen waren daraufgemalt. Marie gruselte beim Anblick der nackten Leiber und all der Mordwaffen. Ihre Betten mussten mit, die würden sie überdauern. Wie in einer Schaukel aus Federn hatte sich Marie das erste Mal darin gefühlt. Nie zuvor hatte sie so weich gelegen. Die hohen Holzwände am Fuß- und Kopfende lenkten den Blick nach oben. Aber dort oben befand sich keine griesgraue Zimmerdecke, sondern der Himmel. Marie hatte sich vorgestellt, in einer Federschaukel unter blauem Himmel zu liegen.
Was musste eigentlich nicht mit? Alles muss mit, überlegte Marie. Der Wäscheschrank, die kleine Kommode mit den zart geschwungenen Beinen und den dunklen, blanken Knöpfen auf dem feingeäderten hellbraunen Holz, ihr Lieblingsstück. Sie strich noch einmal mit dem Lappen behutsam darüber. Der Kleiderschrank natürlich, Büffet, Tisch und Stühle aus der Küche, auch wenn sie schon etwas blankgescheuert waren, Spiegel, Regulator.
Was wische und wische ich nur über die Möbel, ich einfältiges Weib. Ich wische und spinne. Ich sollte ein paar Salate bereiten. Heringssalat, Fleischsalat, die mag Wilhelm. Bier ist genug da. Aber bestimmt gehen sie heute Abend ins „Goldene Herz“. Dann bin ich wieder allein.