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VORSPIEL – Katharsis – doch wovon?
ОглавлениеIn jüngeren Jahren hätte ich diese Geschichte nicht schreiben können, zu sehr war ich in ihr selbst gefangen. Ja, sie riss mich in eine Krise, aus der ich glaubte, mich nicht mehr aufrichten zu können. Sehnsüchtig erinnerte ich Zeiten, da ich meinte, das Leben könnte mir nichts Niedriges, nichts Verwerfliches anhaben und es würde ewig dauern. Die Jahre vorgerückter Kindheit und der Jugend. Der kindlichen Liebeleien, obwohl ich nicht der Typ war, der Mädchen anzog. Sehr hager, blauäugig und blondig-rothaarig, „der Dichter mit der großen Nase“, da ich damals gelegentlich Gedichte schrieb – Worte eines mir gewogenen Jungen, dessen Familie aus Kroatien stammte, wo ein Poet mit markanter Nase eine Berühmtheit war. Vor allem jedoch die Jahre des Studiums, der Freude, Arzt zu werden, der Unbeschwertheit trotz ständiger Geldnot... Aber dann gab es eben die Zeit, da fühlte ich manchmal einen Hass in mir, wie ich ihn bisher nicht gekannt hatte. Der mich selbst erschreckte. Wie ein böser, aus archaischer Tiefe kommender Antrieb, ein triebhaftes aggressives Begehren... - und mich selbst zu vernichten, körperlich zu malträtieren.
Doch diese Gelüste nach Quälen und eigener genüsslicher körperlicher Qual legten sich gottlob. Ich bin und wäre dazu nie fähig gewesen, glaube ich. Marternde Tagträume! Geblieben war die seelische Qual. Ich lief jedoch nicht mehr wie ein Automat zur Arbeit. Ich fragte mich sogar, ob das aus meiner Sicht Gemeine und Verwerfliche nicht eines anderen Anstoß war, sein aus den Fugen geratenes Leben zu retten? Ja, sein vermeintlich entflohenes Glück zurückzuerobern? Ich zweifelte sogar an meinen Hassgefühlen, da mir Hass immer mit Liebe nicht vereinbar und als etwas Widerwärtiges erschienen war: hatte mich also vielmehr ein Bündel aus Zorn, Trauer, Hilf- und Hoffnungslosigkeit, ein tiefes Gefühl des Unglücks erfasst? Im zweiten Frühling nach jenem Einheitsjahr, das auf die sogenannte „Wende“ in Deutschland folgte. Aber diese Wende war nicht schuld. Das ist eine andere Geschichte. Sie lag ferner als jene, die mir auf der Seele brannte. Den Geist ausdörrte. Mich zuweilen lähmte. Zu der ein Kollege mir riet: Schreib sie nieder – Katharsis bedeutet innere Reinigung.
„Innere Reinigung“ - wovon? frage ich mich. Für vertraute Ohren sicher eine befremdliche Frage. Denn ich bin Psychiater. Fragen zur Überwindung innerer Spannungen und Qualen gehören zu meinem Alltag. Freilich weiß jeder, dass es Grenzen gibt. Für ertragbares menschliches Leid. Für professionelle Hilfe. Für Zeiten und Räume in unserem Leben. Glückliche wie unglückliche. Für verwundbare wie für robuste. Ein Unglück öffnet dem anderen die Tür, sagt ein Sprichwort. Ein Mensch stirbt. Einer wird krank. Ich hätte nie für möglich gehalten, Ziel einer Geiselnahme zu werden. Selbst in dieser Klinik nicht. Zu durchdacht waren die Vorkehrungen. Zu sicher fühlte ich mich im Umgang mit den uns eingewiesenen Patienten. Ich hätte auch nie für möglich gehalten, dass meine Mutter einen Geliebten haben könnte. „Mamachen“, wie ich als Erwachsener sie oft zärtlich nannte. Sie liebte uns, ihre Kinder mit einer solchen Hingabe, dass ich ihr Herz für restlos besetzt hielt. Dabei war sie eine sehr schöne Frau. Was ich als Kind nicht wahrgenommen hatte. Oder es hatte doch keine Bedeutung für mich. Schön war ihre Seele. Auf ihre äußere Schönheit wurde ich das erste Mal zu meinem Abiturball aufmerksam gemacht. Meine hübsche blonde Balldame aus der Nachbarklasse sagte: „Mein Gott, ist deine Mutter schön! Sie ist bestimmt die Schönste hier im Saal.“ Ich sah das Mädchen erstaunt an. Angesichts der vielen anwesenden hübschen Frauen und Mädchen hielt ich das für maßlos übertrieben, fragte mich wohl auch, ob meine Dame vielleicht nur den Kontrast zu mir meinte? Mutter war immerhin schon einundfünfzig Jahre alt. Sie trug ein schlichtes selbstgenähtes Kleid. Man würde wohl heute „ein kleines Schwarzes“ sagen. Das ihr zugegeben vortrefflich zu ihrem noch schwarzen Haar und zu ihrer noch jugendlich wirkenden eher zierlichen Figur stand. Sie fiel also nicht wie andere Frauen durch üppige Formen auf. Für mich waren es mehr die Natürlichkeit und Freundlichkeit in ihren Bewegungen und Reden. Wenn sie lachte, ihre schönen Zähne zeigte und ihre großen dunklen Augen glänzten. Die schwarzen Augenbrauen wie schmale schützende Wälle. Mutter kam so gut wie ohne Make-up aus. Höchstens ein zartes Rouge auf den Lippen. Ihr volles Haar wirkte aus der Ferne wie ein dichter langhaariger Pelz, der das linke Ohr halb bedeckte, das rechte freiließ, locker und leicht wellig in den Nacken fiel und die Stirn halbrund umgrenzte. Die Nase ein bisschen stupsnäsig. Die aufgeworfenen Lippen fast ein wenig spöttisch und aufmüpfig. Ach Gott, Mamachen von wegen aufmüpfig! Sie reagierte still, zog sich zurück, wenn sie sich gekränkt fühlte. Eine Schwäche, die wir Kinder von ihr übernommen haben, zumindest ich und meine Schwester Sonja. Werri, mein Bruder, hat mehr die draufgängerische Art von unserem Großvater Mattulke. Für den sein älterer Sohn Wilhelm, unser Vater, immer zu unentschieden, zu weich und zu wenig durchsetzungsfähig war. Worunter wohl auch unsere sanfte Mutter litt. Was nur Sonja gewahr wurde, wie ich mir heute sage.
Dass unsere Mutter auf äußere Korrekturen nicht angewiesen war, machte mich natürlich stolz. Es war aber auch noch keine Zeit, in der man sich wie heutzutage überall aufbessern wollte und konnte. Weder am Geist noch am Körper. Weder mit Medikamenten noch mit dem Messer. Und ich sah wohl die gefälligen Blicke der Männer, auch der Frauen auf unsere Mutter gerichtet – ahnte damals jedoch in keiner Weise, was für ein Feuer Mutter in einem mir fremden Mann entfacht hatte und zu welcher Leidenschaft sie selbst fähig war.
„Innere Reinigung“ aus Not? Aus Verzweiflung? Rechercheur der Familie in eigener Sache, nicht aus Neugier und Stolz, sondern aus einem inneren Zwang zum Überleben? Eigentlich bin ich ein eher ängstlicher Mensch. Obwohl ich nur drei angstauslösende Situationen aus meiner Kindheit erinnere: Auf dem Bauernhof in Adelau bei Tilsit, wohin Mutter im Frühjahr 1944 mit uns drei Kindern wegen drohender Luftangriffe auf Königsberg evakuiert worden war. Ein Truthahn flog auf meinen Kopf. Aber Angst machten mir erst Mamas angstvoll schreiende Augen am Fenster. Dann unsere erste Zufluchtstätte in Sachsen. Erneut ein Bauernhof. Im Februar des darauffolgenden Jahres. Wir waren wegen des Flugzeuglärms alle auf den Hof gelaufen. Mama rief: „Seht nur die Christbäume über Chemnitz!“ Die junge Bäuerin bitter: „Damit der Herrgott diesen Halunken besser zeigt, wohin sie ihre Bomben werfen sollen!“ Mama hatte noch versucht, mir mit ihren Händen die Ohren zuzuhalten. Ein paar Wochen danach. Wir hatten uns in einem Stall versteckt, konnten durch den Türspalt auf den Hof sehen. Ich als Kleinster saß auf Mamas Schoß. Ein Soldat war durchs Tor auf den Hof getreten, rief etwas zum Wohnhaus hin. Ich spürte Mamas heftigen Herzschlag in meinem Rücken. Ich glaube, ich dachte: Papa? Heute weiß ich, es muss ein amerikanischer Soldat gewesen sein. Die Russen kamen später. Am Abend sahen wir einen amerikanischen Panzer auf der Dorfstraße. Ich huschte mit Sonja ans Schlafzimmerfenster. Eine kurze Maschinengewehrsalve in die Wand neben dem Fenster ließ uns zurückschrecken.
Als Geisel hatte ich keine Angst. Ich war wie betäubt, teils wie abwesend. Hunderte innere Bilder flogen vorbei, als wollte meine Seele vor dem Ende Bilanz ziehen. Angst und Hass kamen erst auf, als alles längst vorbei war. Der Hass saß nicht unter der Angst, wie bei Menschen, die fürchteten, ihre Aggressivität nicht beherrschen zu können. Er saß auf ihr. Ich glaubte, mein Leben sei zerstört - und ich hatte auch den Schuldigen. Es war ein furchtbar irrationaler Gedanke.
Mutter war eine liebende Frau gewesen. Ob sie auch gehasst hatte? Liebe kann wehtun, wenn sie einem anderen gilt. In diesem Fall nicht uns und unserem Vater. Warum sollte man nicht zwei Männer lieben können? Oder zwei Frauen? Als Vater oder Mutter liebt man doch auch mehrere Kinder! Hasserfüllt habe ich Mutter nie erlebt, aber einmal sehr wütend. Es war vor ihrer ersten Krankenhauseinweisung. Nach Sonnys allzu frühem Tod. Noch Wochen zuvor hatte mir Sonja einen ganz munteren Brief geschrieben.
„Mein liebster Andrew“, ihre Koseform für Andreas seit sie in England lebte. „London ist eine schöne Stadt, aber besser geht es mir hier auch nicht. Vielleicht ist es ein Glück, dass ich noch nicht verheiratet bin, so kann ich immer aussteigen und mir einen süßen Andrew als Mann suchen (mein Gott, als wenn es den zweimal gäbe oder Inzest nicht verboten wäre – hihi -, bin ich zu frech?). Alex scheint derlei Dinge ziemlich locker zu sehen, jedenfalls habe ich manchmal den Eindruck, er hätte nichts dagegen, wenn ich gut zu seinen Freunden wäre? Mag sein, dass er Schuldgefühle hat. Bei inzwischen 170 Kilo von einst schlanken 90 ist der Trieb wohl ganz aufs Essen verschoben. Das macht mir aber nichts. Ansonsten hat er nur seine Bankzahlen im Kopf, Gewinn- und Verlustmargen... 'Das macht mir aber nichts' ist nicht ganz aufrichtig, Andrewchen, überlege ich mir gerade. Und du bist ja inzwischen Nervenarzt, mein Brüderchen, da darf ich offener sein. Auf Walter hatte ich manchmal richtig Wut, wenn er so lethargisch war. Bin ich ihm nicht anziehend genug? dachte ich und suchte mir immer wieder neue Negligés aus, Höschen, Hemdchen, einmal sogar Strapse, ganz neckisch, fand ich – aber es passierte nicht víel. Dabei wollte ich die beste Ehefrau der Welt sein!.. Dann mein Alex, der schöne Banker: Ich wurde zwar anfangs etwas mehr als Frau wahrgenommen, aber er war verwöhnt, schien mir, bezeichnete meine feine Wäsche als 'Fummelkram' – 'ran und fertig; darf ich es so schreiben, Brüderchen? Aber ich habe sonst keinen mit dem ich über solch heikle Dinge reden könnte! Alex' Art war also auch nicht so gut, vor allem nachdem ich das Gefühl hatte, er würde mich auch als Geschenk weiterreichen. Ganz verrückt wurde es, als ich vermutete, dass er eine starke homosexuelle Neigung habe, weil er mit seinen Freunden oft zärtlicher umging als mit mir. Es machte mich derart verrückt, dass ich an mir selbst zweifelte. Störte mich womöglich an Alex, was ich an m i r nicht leiden konnte und verborgen hielt? Ein, zwei Frauen von Alex Freunden sprachen ziemlich unverhohlen über solche Neigung, wenn wir Frauen unter uns waren. Mit einer ließ ich mich ein: Es war nicht direkt unangenehm, aber ich merkte, dass es nicht die Rettung aus meinem Gefühlschaos bedeutete. Ich war sehr unglücklich, wahrscheinlich depressiv, was Alex stutzig machte, da er ja sonst nur eine heitere Sonny kannte. Ich offenbarte mich ihm etwa so wie Dir jetzt. Er hielt das für völlig in Ordnung, sah für sich jedoch keinerlei Konsequenzen, außer vielleicht etwas mehr Aufmerksamkeit mir gegenüber. Und jeder müsse ja auch sich selbst ein Stück leben. Wenn er den Grund für unsere Auswahl von Bloomsbury als unseren Londoner Wohnstandort bedenke, so frage er sich allerdings, ob ich nicht einen Elektrakonflikt habe?.. Ist das nicht gemein, Andrewlein? Unsere M u t t e r soll schuld sein! wie ich sogleich nachgelesen habe. Nicht Ödipus, sondern Elektra. Superschöne und superschlaue Mütter könnten ihre Töchter erdrücken. Mag ja sein, aber Mutter ist doch nicht s u p e r b ö s e! Alex will manchmal superschlau reden und dann kommt Stuss heraus, finde ich. Ich könnte auch darüber hinweggehen und hätte es Dir womöglich gar nicht geschrieben, Andrew, wenn da nicht noch eine Episode wäre, die mich seit Jahren regelrecht verfolgt – im Traum! Ich war etwa sechs Jahre alt. Es war schon Krieg. Ich lief vom Oberländer See, wo Werri noch angelte, zu den Großeltern nach Frohstadt hinein. Plötzlich Krawall. Türen und Fenster flogen. Zwei Soldaten kamen, eine junge hübsche Frau in ihrer Mitte umarmend, lachend aus dem Haus. Oben am Fenster ein weinender alter Mann... Und nun das eigentlich Schreckliche: Die Traumhübsche hat oft Mutters Gesicht! Dabei habe ich unsere Mama außer mit Papa nie mit einem anderen Soldaten gesehen! Vielleicht schäkerte sie mit Baron von Budkus manchmal ein bisschen, aber sonst..? Hast Du eine Erklärung dafür?.. Wären wir in Hamburg geblieben, fühlte ich mich wenigstens nicht so einsam. Jedenfalls möchte ich nicht allein bleiben, würde ganz gern noch einmal heiraten. Die Ehe mit Walter war durch seinen Unfalltod einfach zu kurz. Da bleibt das Glück mit auf der Strecke. Übrigens, Andrewchen: Wir wohnen ja hier in Bloomsbury. Alex war es eigentlich egal, ist nur bisschen teurer als anderswo. Mir war es wegen Mutter wichtig, da hat Alex recht. Von Tante Isabella wusste ich (ganz geheim!), dass Mutters ominöser 'Bekannter', wie Mutter sagte, in den vierziger Jahren hier gewohnt hatte. In der Nähe des 'British Museum'. Dort soll er gern hineingegangen sein. Mutter interessierte sich aber nicht dafür, meinte, Isabella habe wohl etwas falsch verstanden. Ein Bekannter habe ihr nach dem Krieg einmal von der Fülle und Einzigartigkeit der dortigen Museen berichtet. Mutter fragte nur immer, wie es mir gehe. Nach Isabella soll der Bekannte ein schlanker stattlicher Mann gewesen sei. Mit schwarzem Schopf und großen weißen Pferdezähnen. 'Ein Jud!' meinte Isabella, aber nicht abschätzig, sondern in Papas humorig-warmherziger Art. Papas Eltern und Großeltern haben ja in Ostpreußen viel mit Juden zu tun gehabt. Wie sie mit Vieh gehandelt. Wenn ich meine gebogene Nase anschaue, frage ich mich auch manchmal, ob ich nicht ein bisschen Jüdchen bin?..“
Zwanzig Jahre später las ich Sonnys Brief ganz anders. Wie eine verschlüsselte Botschaft. Einst hatte mich vor allem Sonnys Nähe zu mir, ihre liebevolle Art gerührt. Ich antwortete ihr wohl, dass Träume manchmal eben doch Schäume seien und keine Fortsetzung unseres aktiven Taglebens. Sonnys Tod riss mir ein Stück aus dem Herzen. Aber wusste Sonny mehr als wir? Als Werri und ich? Was ahnte, vermutete sie womöglich? Uns Brüdern hatte sie manchmal vorgeworfen, Mutter in den Himmel zu heben. „Na ja, die lieben Söhnchen!“ Dabei hing sie auch sehr an unserer Mutter. Aber sie sah sie kritischer. Wenn wir mit Mutter zärtelten, umhalste sie demonstrativ unseren Vater. Was unsere Eltern amüsierte. Mit ihren blonden Haaren und braunen Augen war sie auch ganz Vaters Abbild. Etwas größer als Mama und von Statur auch etwas stärker. Doch so aufregend proportioniert, wie man sich als Junge sein Mädchen vorstellt...
Ich habe in meiner Klinik gesagt, dass ich ein paar Tage Urlaub nehmen wolle, um nach London zu fahren. Eigentlich mehr an Hans, meinen Stellvertreter und Duzfreund gewandt. Er hatte während meiner Krankheit die Klinik kommissarisch geleitet und mich auch angeregt, die Geschichte aufzuschreiben. Wobei er die Geschehnisse um die Geiselnahme meinte.
Sie war für uns auch äußerlich nicht ohne Folgen geblieben. Der durchsichtige Polycarbonatzaun um das Kliniksgelände war von drei auf fünf Meter erhöht worden, oben mit nach innen gerichteten Metallstäben und Stacheldrahtverhau versehen. Wir sind eine Klinik für Forensische Psychiatrie, in der drogen- und alkoholabhängige Straffällige behandelt werden.
Eine junge psychologische Kollegin war mir kess ins Wort gefallen: „Ooch, London! Nehmen Sie mich mit! Ich war auch noch nie dort!“ Alle hatten gelacht und es schien damit erledigt zu sein.
In Mutters Tagebuchnotizen, meist ohne Datum und nur bruchstückhaft, hatte ich zu den vierziger Jahren die Adresse „Bloomsbury Street 22“ gefunden. Ohne jeden Bezug. Sodass ich mich jetzt fragte, ob Mutter etwas Persönliches verheimlichen wollte? Damit Interessierte nicht misstrauisch oder wir Kinder nicht beunruhigt würden? Vielleicht war aber der „Bekannte“ und damit seine mögliche Adresse für sie eben viel weniger bedeutsam als zum Beispiel für Isabella. Unsere liebe, immer zu einem Schwätzchen mit dunklen Andeutungen aufgelegte Tante. Dergleichen war Mutter fremd. Vermutungen, besonders Böses unterstellende Gerüchte über andere Menschen wollte sie gar nicht hören. Und ich eigentlich nicht erfahren. Was also wollte ich in London?
Ein Stück Frieden mit Sonny und meiner Mutter finden? Mutter war bald nach ihrer Rückkehr von Sonnys Totenlager in England das erste Mal in unsere Klinik eingewiesen worden. Damals waren wir unter der Ägide der Universität noch für allgemeine Psychiatrie zuständig. War Mutters Londoner Bekannter eigenlich jener Mann, den ich zwei Jahre vor Sonnys Tod in Hamburg kennengelernt hatte? Nicht durch Mutters Betreiben, sondern durch den zufälligen Hinweis eines namesgleichen ehemaligen Kommilitonen.
Ich merke, ich muss Gedanken erkunden, die Mama nicht aussprach. Ich muss versuchen, ihre nüchternen Tagebuchnotizen mit Leben zu erfüllen, das sie in sich verschloss. Bisher traute ich mich kaum, ihre Notizen zu lesen. Legte die meist losen Blätter ein bisschen verschreckt wieder zurück. Aber ich spürte, dass ich begierig war, mehr zu wissen. Über Mama, ihre Liebschaft, vielleicht ihre Krankheit? Ich fürchte, ich verstehe sie nicht. Weder als Sohn noch als Arzt. Wie könnte sie dann ein Fremder verstehen. Wie soll man plötzlich etwas begreifen, womit man nicht rechnete? Etwas verstehen, was außerhalb der eigenen Vorstellungswelt liegt? Vielleicht muss ich erfinden, wo ich nicht genug finde. Um Lücken zu schließen. Wie ein Erzähler? Nicht wie ein akribischer Chronist? Der ich doch eigentlich sein will und kann. Nie hätte Mama meine kleinen ungelenken Liebesbriefe, die ich schrieb oder erhielt, lesen wollen. Obwohl ich es mir manchmal gewünscht hätte. Sogar noch in Zeiten, als die Natur es besser mit mir meinte. Als angehender Arzt. Als vollziehe sich durch das wachsende Selbstgefühl auch ein körperlicher Wandel. Ich schoss noch ein Stück in die Höhe. Mein Haar wurde dunkler und dunkler. Sodass ich nicht mehr wie eine Leuchtboje durch die Gegend lief. Die Mädchen erwiderten häufiger mein Lächeln. Und meine Liebesbriefe wurden etwas offener und anzüglicher.
Werde ich auch Papas meist hoffnungsvolle Frontbriefe, die er uns schrieb, ernster nehmen müssen als bisher geschehen? Um Spuren von Mama und von uns Kindern zu entdecken? Verhüllte uns seine Hoffnung seine Verzweiflung? Sind meine Erlebnisse mit Werri eine unerforschte Fundgrube? Seine Karten an mich, Briefe waren ihm zu lang, las ich in der Vergangenheit immer amüsiert oder verständnislos. Als die eines geliebten, doch an anderem interessierten und im Wesen anders ausgerichteten Bruders. Hatte Mama mehrere, viele „Bekannte“?
Die junge Kollegin mit Namen Uschi hat noch einmal nachgefragt und ich habe ja gesagt. Zwei Zimmer in einem Hotel in der Great Russel Street in London Bloomsbury gebucht. Die Kollegin meinte, wir könnten ja in London getrennte Wege gehen. Damit jeder das wahrnehme, woran ihm liege. Ich nickte, und sie lächelte unsicher. Als wüsste sie nicht, ob sie mir oder sich selbst damit einen Gefallen tat?