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1.2.2 Mattulkes Traumerfüllung
ОглавлениеWährend Sonja zu Hause aufatmend ihrem Bruder entgegenlief, saß der alte Mattulke im Jagdzimmer des Barons von Budkus. Sonja befreite sich von ihrem Trauma in überstürzter Rede. In Mattulke war die Spannung des Bittstellers. Sie machte ihn steif, ein wenig servil.
Werri ärgerte sich. Frech hatten ihm die Plötzen den Teig vom Haken gefressen. Derweil wurden über die Danziger Straße Armeen verlegt. Sonja musste ihr Erlebnis unbedingt auch ihrer Großmutter Maria mitteilen. Die antwortete: „Ach, Sonny, mein Kindchen: Es ist Krieg, da verrohen die Sitten.“ – „Was ist Sitten?“, fragte Sonja. „Ehrlichkeit, Anstand“, sagte die Großmutter. Aber als das Mädchen weiterfragen wollte, hatte sie Eile. Das war ein zu schwieriges Thema für sie.
Dem Baron klangen noch die Vorwürfe seiner Frau im Ohr. Er empfing Mattulke mit einer Frage, die schon seine Erwiderung auf die mögliche Antwort enthielt: „Er will mir doch nicht wieder ein Grundstück schmackhaft machen?“ In diesen Zeiten verkauft man besser, dachte er für sich. Russland ist nicht Tschechien oder das Baltikum. In seinen politischen Überlegungen bemühte sich der Baron um Realismus.
„Nein, nein“, sagte Mattulke verwirrt. „Es ist diesmal der Art ...“ Die ironische Eröffnung des Barons hatte sein Konzept durcheinandergebracht. Mattulke stand leicht vornübergebeugt. Die Arme lang am Körper. In der linken Hand seinen grauen Filzhut. Mattulke war nie beim Militär gewesen, aber er hatte immer schon für militärische Haltung und Disziplin etwas übrig gehabt.
„I c h will kaufen, Herr Major.“
„Ach!...“ Der Baron hatte seine Uniformjacke geöffnet und kratzte sich ungeniert den runden Bauch. Einen Kredit brauchte dieser Schlauberger! Er wusste, dass Mattulke durch einen seiner Söhne, Kanzlist beim Gericht, Einblick in die Grundbücher besaß. Zweimal hatte der Alte ihm zu günstigen Käufen verholfen. Mit Vergnügen entsann sich der Baron an die fassungslose Miene seiner Frau, als er ihr mitteilte, er sei soeben Besitzer eines Gasthofes geworden. Dann der Erwerb eines respektablen Mietshauses! Seine Frau hatte ihm nie Geschäfte zugetraut. Sie und ihr Oberinspektor verwalteten das Gut. Budkus hatte weder den Ehrgeiz zur Führung, noch war das Vermögen, das er eingebracht hatte, ausreichend genug, um Ansprüche geltend zu machen. Wohl hatte sein Vater bei Graudenz ein großes Gut besessen. Als Mitfünfziger das gesegnete Leben eines Bauern jedoch plötzlich aufgegeben, um bis zu seinem frühzeitigen biologischen Ende mit einer jungen Schauspielerin durch die Welt zu reisen. Der junge Budkus, der Landwirtschaft weniger als dem Auslegen von Aalschnüren und der Jagd zugetan, hatte zur rechten Zeit seine Frau kennengelernt. Sie war sechs Jahre älter als er und nicht so jung und verführerisch, wie er sich seine Frau unter anderen Umständen gewünscht hätte. Dafür war sie eine geborene Gravenhagen. Diese Familie, Hauptaktionär eines Kaufhauskonzerns, nannte ein halbes Dutzend Güter und sich weit ausdehnende Ländereien zwischen Weichsel und Memel ihr Eigen. Seit Jahrzehnten hatten die Gravenhagens darauf Wert gelegt, ihre Sprösse zur Leitung ihrer Betriebe zu befähigen. Dieser Tradition fühlte sich auch die jungvermählte Baronin verpflichtet; das Gut in Frohstadt wurde gewissermaßen ihre Aussteuer und ihr Bewährungsfeld. Budkus war es recht gewesen. Er war ein Schwärmer, kein Ökonom. Er wollte sorglos leben und meinte, dass sich in i h m der spät entdeckte Drang seines Vaters nach Freiheit und Unstetigkeit eben schon in der Jugend manifestiert habe. Dabei war er nie etwa ein Raufbold oder ein Mädchenheld gewesen. Ein nahezu bescheidener Müßiggang, der sich in sich selbst genügte, prägte sein Leben. In größeren Abständen fuhr er nach Königsberg, nahm sich eine Frau. Aber er setzte sich nicht in Bars, wo die Mädchen mit gewerblichem Blick ihre Verehrer taxierten. Er fühlte sich unwohl zwischen den affig zurechtgeschniegelten Kerlen, die gelangweilt Billard spielten. Oder zwischen den seriösen Herren, die uninteressiert zu den Damen schauten, bis der Alkohol ihren Blick entschleierte, ihre Hände schweißig machte. Schlankweg ging er in eines der gelobten Häuser, suchte sich eine fröhliche, dralle Maid. Dort trank er ein, zwei Tage lang Sekt und Burgunder. Schlenderte schließlich durch Hafenkneipen. Setzte geringe Summen beim Pferderennen. Vertrieb sich die Zeit bei harmlosen Jahrmarktsspäßen unter lustigem Volk. Dann zog es ihn wieder nach Hause, wo er sich bereitwillig in seine Rolle als belächelter Romantiker und Sonderling schickte. Freilich hatte der Baron eine Wunde. Er verbarg sie hinter scheinbarem Gleichmut. Doch von Zeit zu Zeit brach sie auf und quälte ihn: Er litt unter der Missachtung durch seine Frau. Er war kein Dummkopf. Zu Beginn ihrer Ehe hatte er die Arroganz und Prüderie seiner Frau als Schutzschild gegen ihre unbefriedigte und zu spät genossene Wollust angesehen. Er hatte seine Frau zu erobern versucht. Doch auf die Dauer wurde es ihm zu anstrengend. Sie konnte sich nicht gehenlassen. Er hatte sich um die Wirtschaft gekümmert. Das wünschte sie nicht, obwohl sie ihm im nächsten Moment sein Desinteresse vorwarf. Sie lud sich den Pfarrer, irgendwelche Professoren und heroenmalende Künstler ein und sagte zu ihrem Mann: „Nicht wahr, du gehst wohl wieder zur Jagd, Lieber.“
Die Aussicht auf goldenen Tee und rosige Heldengesichter lockte den Baron tatsächlich nicht. In der Regel bevorzugte er den doppelt gebrannten Korn, der in dieser Gegend produziert wurde. Von Kunst verstand er nicht viel. Die Museumsausflüge in seiner Gymnasiastenzeit hatten ihn stets gelangweilt. Er liebte die Gartenkunst. Und er bastelte an seiner eigenen Lebensphilosophie. Er gab dem Tier bei der Jagd eine Chance. Nur dem Räuber unter den Tieren musste man räuberisch kommen. Die hysterischen Sprüche seiner Frau interessierten ihn nicht: „Gewalt ist schrecklich! Aber wie soll man, meine Herren, der chaotischen, Kultur und Traditionen penetrierenden Gewalt der Roten anders als mit Gewalt begegnen!“
Der Baron warf seine Uniformjacke über einen Stuhl. Er bat Mattulke Platz zu nehmen und ging in das Bibliothekszimmer hinüber. Es war wie das Jagdzimmer ein großer, schöner Raum. An der Decke feine Stuckornamente. Glänzender heller Parkettfußboden. In der Mitte ein barocker Sekretär. Zur Parkseite hohe Fenster und eine verglaste Tür, die auf eine Veranda hinausführte.
„Hat er gar keine Angst vor den Russen, Mattulke?“ rief der Baron. Rasch trank er ein Glas Kornbrannt, verschloss den Sekretär.
„Doch, Herr Major! Denke mir nur, tausend sibirische Knüppel können nicht ein deutsches Maschinengewehr erledigen!“
Budkus war froh, dass ihm die Beziehungen seines Schwiegervaters zu einem ruhigen Posten im sicheren Hinterland verholfen hatten. Er taugte nicht zum Soldaten. Feige war er nicht. Und natürlich beileibe kein Freund der Kommunisten. Ihn dünkte, ihre Ideen seien schlecht entworfene Märchen. Gib jemandem kostenlos Brot. Über kurz oder lang wird er sich auf dem Feld lümmeln, statt zu säen. Sag einem, es seien fortan s e i n e Maschinen, an denen er zu arbeiten, die er zu pflegen habe. Alsbald wird er sich jemanden suchen, um selbst die Aufsicht zu führen.
Nein, für den Baron übten die Sowjets ein untaugliches Experiment. Sie würden sich an ihrem eigenen Ideal ruinieren.
Ehrfurchtsvoll blickte Mattulke ringsum auf die kostbaren Jagdtrophäen. Die Wände waren mit gelbbraunem Teakholz getäfelt. Der Kronleuchter aus zwei mächtigen Geweihen montiert. Wie ein examinierter Schüler saß der alte Mann auf dem hochlehnigen lederbezogenen Stuhl. Aufrecht. Die knochigen Hände auf den Knien.
„So, so“, sagte der Baron. „Er h a t aber kein Maschinengewehr! Dabei erzählt man, dass die Jugend ihren Schabernack mit ihm treibt. Was will er machen, wenn eine Horde mit Peitschen und Steinen über sein Grundstück herfällt?“
„Ich räucher sie aus!“ antwortete Mattulke unerwartet poltrig.
Der Baron stutzte. Offenbar spürte er, dass der Alte seine Worte nicht so einfältig meinte, wie sie sich anhörten.
Fünftausend Mark benötigte Mattulke. Er wollte ein Haus kaufen. Ein solides Gebäude auf mittlerer Höhe des Schulbergs. Ein Stockwerk. Trockene Kellerräume und ein stabiler, ausbaufähiger Boden. Hypotheken und Schulden belasteten das Grundstück nicht. Eine einmalige Gelegenheit. Besitz eines Kriegsopfers. Als einziger Erbe in einem Stift von Königsberg ein Greis, mit dem sich Mattulke einig war.
Der Baron wünschte die Ausfertigung einer Briefhypothek. Ob Mattulke daran denke, Sohn und Schwiegertochter zu sich zu nehmen? Eine hübsche Frau. Doch, doch. Nein, Mattulke genügte der eine Sohn im Haus. Wehrunfähig, nun ja, wenngleich nützlich. Der andere war gottlob untergebracht. Erwartete gerade wieder Nachwuchs. Die Mattulkes sorgten halt vor!
Das Lachen des Barons klang etwas zu jovial. Es schmerzte ihn immer noch, dass i h m eine Vaterschaft versagt geblieben war. Auch seine Frau hatte in den ersten Jahren ihrer Ehe ein Kind ersehnt. Manchmal hatte der Baron den Eindruck gehabt, sie nur deswegen zu der wenig geliebten Prozedur bewegen zu können.
Er erhob sich und geleitete Mattulke hinaus. Der Alte ergriff seinen neben die Tür gelehnten Krückstock. Er gab ihm Sicherheit. Ja, ein Gefühl von Stolz und Würde empfand jetzt Mattulke, als er über den spiegelblanken marmornen Boden der Vorhalle schritt. Breite Treppen, ebenfalls aus hellem Marmor, führten zu beiden Seiten zu den Wohn- und Schlafgemächern hinauf. In die Wände und über die Türen im Obergeschoss waren flache Nischen mit Reliefs eingearbeitet. Ein Lüster, glitzernd von Gold und Kristall, hing aus einer reich mit Stuck verzierten Kuppel herab. Die Treppen wurden förmlich emporgestemmt von wuchtigen Pfeilern, zwischen denen sich elliptische Bögen ausspannten. Durchgänge zu Nebengelassen. Geradeaus unter einem Kugelgewölbe der Zutritt zum Speisesalon. In den Seitenwänden der Halle zwei halbrunde Nischen: Anmutige Nymphen auf prunkvoll geschmücktem Sockel. Über dem Ausgang ein steinernes Kriegerhaupt.
Noch nie hatte Mattulke die überladene Pracht dieser Innenausstattung so intensiv wahrgenommen. Buchstäblich in diesem Moment erlebte er, welche Macht von Besitz ausging. Benommen trat er ins Freie. Er atmete tief durch, als müsse er sich auf die Wirklichkeit besinnen. Aber er wurde den Taumel nicht los. Oh, er war glücklich. Er war am Ziel.
Mit einer leichten Verbeugung verabschiedete er sich von dem Baron. Mattulke musste sich zügeln, um nicht wie ein Harlekin davonzutänzeln. Würdevoll schritt er auf dem feinen weißen Kies aus. Eine hohe Eibenbuschhecke warf kühlenden Schatten. Kegelig zugeschnittene Lebensbaumzypressen säumten ein längliches Rondell, in dem fußhoher Buchsbaum einen harmonischen Wirrwarr von Kreisen, Bögen, Spiralen und Schwingen bildete. Dazwischen üppig bunt und scheinbar wahllos kleine Inseln aus roten und weißen Begonien, hellrosenroten Zwergmandelbüschchen, lilafarbenen Schwertlilien, gelben und roten Rosen. In der Mitte ein flaches, kreisrundes Wasserbecken: Silberspiegel in der Nachmittagssonne.
Der alte Mattulke lauschte dem Widerhall seiner Schritte. Vornehmheit und Eleganz ging von allem aus. Selbst sein Schritt klang hier anders als in der tristen Silbergasse.
Wieder jubelte es in Mattulke. All das würde nun auch er haben! Nun, nicht in diesem Überfluss. Der Baron hatte Muße und einen Gärtner. Aber ein paar Beete hinter dem Haus mit etwas Gemüse und Blumen.
Mattulke blickte sich um. Der Baron stand noch auf der Freitreppe vor seinem Haus. Klein und gedrungen, dunkler Haarschopf auf bäurischem Schädel. Halb zum Gehen gewandt, als sei er unschlüssig, ob er diesen aufgekratzten alten Springinsfeld schon aus den Augen lassen könne. Zehn glatte, schmucklose Säulen strebten von der Höhe des Plateaus der Freitreppe zum Dach empor und teilten die Fassade in gleich große Flächen. Einförmige Fensterreihen ohne irgendeine Verzierung. Auf dem Dach blauschwarzer Schieferbelag ... Diese äußere Schlichtheit des Baus setzte sich in dem englischen Garten fort. Denn außerhalb des Zufahrtsweges zum Herrschaftshaus, der hinter der Eibenhecke um den Barockgarten herumführte, folgten Wiesen, Buchen und Birken, Kiefern und Buschwerk in loser Ordnung. Eine hohe Findlingsmauer schloss das Gelände ab. Zur Rückseite des Herrschaftshauses hin befand sich der flächenmäßig kleinere Wirtschaftskomplex. Stallungen, Gesindehaus und Verwaltungsgebäude, zusammen mit dem Wohnsitz der Baronenfamilie ein Karree bildend.
Ein Reich, dachte Mattulke, als das schwere schmiedeeiserne Tor hinter ihm ins Schloss schlug. Aber du hast jetzt das Deinige.
Die lange Pappelstraße lag vor ihm. Herrschaftliche Anfahrtstrecke zum Budkusschen Gut. Scheu und ohne Hoffnung war er hier vor zwei Stunden entlanggekommen. Jetzt wandte er sich sogleich nach Osten. Mit schnellen Schritten eilte er querfeldein. Die Straße war für das Gesinde bestimmt, das zu seinem Herrn wollte. Der alte Mann stürmte über Wiesen und Raine. Wild und feurig schlug sein Herz. Erst jenseits der Hügelkette, wie eine Wehr zwischen Gut und nordöstlichem Teil der Stadt gelegen, blieb er zufrieden stehen und verschnaufte. Hinter ihm die Kronen der sich majestätisch über die Hügelkuppen reckenden Pappeln. Vor ihm seine Vaterstadt.
Die Sonne tauchte gerade hinter die Gipfel des Waldes und spiegelte sich im Oberländer See. Ein Fischreiher kreiste über dem nördlichen Teil des Sees, der hier an das Budkussche Land grenzte. Friedlich streckte sich die Stadt zwischen den beiden Anhöhen, auf denen die Kirche und die Schule errichtet waren, dahin. Selten hatte Mattulke einen Blick für solche Bilder gehabt. Ein zärtliches Gefühl für seine Heimat regte sich in ihm. Wie Symbole für Beständigkeit und Gedeih flankierten Kirche und Schule die Stadt. Verwurzelung in sittlicher Ordnung und Schöpfertum. Mattulke war kein Kirchgänger wie seine Frau. Aber er respektierte die Kirche. Respekt bot Gewähr für Fortgang und Erhalt. Respekt der Jugend gegenüber den Alten, des einfachen Mannes gegenüber Gott.
Ein Tugendapostel war Mattulke nie gewesen. das konnte er sich nicht leisten. Im Leben galt es, voranzukommen. Er hatte eine brave, arbeitsame Frau. Aber sie war zu weich. Früher hatten ihn ihr sanfter Blick, ihr schwermütige Sprache zur Tollheit getrieben. Später in die Arme von Elisa. Jetzt reizte seine Frau nur noch seinen Unmut.
Herrgott, Elisa, dachte Mattulke. Wie lange war es her, dass ihm das Blut kochte? Elisa hatte ihn auf den Dreh mit dem Grundstücksschacher gebracht. Sie hörte viel, kannte Käufer, Verkäufer. Und e r kassierte von beiden Parteien die Provision.
Mattulke lachte frei heraus. Ein knattriges, hämisches Lachen. Siebentausend Mark hatte er in den letzten Jahren zusammengetragen. Nun griff er selbst zu. Fort aus Öde und Dunkelheit der Stadt. Aus einem Haus wie eine Kate, mit einem Irren als Nachbarn! „Herr General!“ kommandierte Mattulke und salutierte: „Zack, zack! Auf zum Schulberg!“ Wieder lachte er.
Dann stellte er sich vor, wie er morgens ans Fenster treten würde, um auf die Stadt zu sehen. Ein rotbraunes, freundliches Dächergewölk, als sei er auf einem anderen Planeten. Im Westen der Kirchberg. Das klare, graublaue Wasser des Oberländer Sees. Im Norden der Baronsbesitz. Und ringsum das bebaute Land, die dichten Wälder seiner Heimat. Zum zweiten Mal dachte Mattulke dieses Wort, das ihm bisher immer etwas fremd geklungen hatte. Dankbarkeit gegenüber dem Baron mischte sich in dieses Gefühl. Mattulke konnte es noch nicht fassen, was geschehen war.
Der alte Mann schloss die Augen und faltete zum Dank die Hände. Dann überkam ihn wieder Heiterkeit. „Sieh an, sie an, dieser Schlumig! Die Schwiegertochter ist ihm aufgefallen!“
Mattulke überlegte, ob es sich bei einem solchen Anlass gezieme, im Herrengässchen bei Elisa vorbeizuschauen? Er sah an sich herab, überprüfte seine Kleidung. Seine Frau hatte die Sachen gut gehütet, sodass man ihnen die Jahre nicht ansah. Der dunkle Anzug war noch Friedensware, fest und weich. Die Bügelfalte akkurat. Das Hemd gestärkt, die Ärmel neu bestutzt. Darin verstand sich Marie. Er wischte sich mit einem Grasbüschel über die hohen Maßschuhe. Sein einziger Binder trug die Farben des Kaiserreichs, wie Przyworra witzelte. Es störte Mattulke nicht. Politik interessierte ihn in ihrem Alltagswert. Er war nicht wie Przyworra von Ideen besessen, die Welt umzukehren.
Er nahm seinen Taschenspiegel zur Hand und kämmte sich sorgfältig sein Haar. Den Scheitel trug er rechts wie sein Vater. Die dreiundsechzig Jahre hatten das Haar ergraut, aber es an den Schläfen nur wenig gelichtet. Es machte ihn stolz. Diese Eitelkeit gestand er sich zu. S c h ö n war er weiß Gott nie gewesen. Daran hatte er sich schon in jungen Jahren gewöhnen müssen. Das linke Auge stierte ein bisschen. Die Nase groß und fleischig. Schmaler Mund und borstige, dunkle Brauen. Über der rechten die sternförmige Narbe, Resultat eines Steinwurfs. Er hatte zuerst geworfen. Damals, als er die Last des kranken Beines zu spüren begann. Die ihn von den wilden Aktionen der Gleichaltrigen trennte. Ihm auf die Brust drückte, wenn die Mädchen sich von ihm abwandten. Diese narbenumwirkte Knochenstütze war sein Schicksal. Er hätte es weiter gebracht.
„Und dennoch!“ Triumphierend schlug er mit seinem Krückstock in die Luft.
Auf einem Umweg gelangte er über die Danziger Straße in die Stadt. Dann und wann rasten noch ein Kommandeursjeep oder ein zurückgebliebenes Fahrzeug vorüber. Die Menschen tummelten sich wieder in der Stadt. Auch Mattulke hatte am Mittag eine Weile zugesehen. Seine Begeisterung für Märsche und Militär war ein Ausdruck seiner Sehnsucht nach Vollkommenheit. Aber die Hochstimmung der Menschen hatte sich gelegt. Vom Blitzkrieg war keine Rede mehr.
Eine Schar Jungen kamen die Holbeinstraße heraufgelaufen. Mattulke machte kehrt. Er mochte Kinder nicht sonderlich. Die Jungen tollten hinter ihm über die Straße. Einer rief: „Seht mal, der alte Mattulke! – Tul – tul – tul – Mattulke!“ Die Meute stimmte ein.
Mattulke versuchte fortzukommen. Er war heute nicht in der Verfassung, sich mit Kindern anzulegen, die keinen Respekt besaßen. Doch die Jungen holten ihn ein. Jemand flüsterte:
„Zwei, drei“, und sie schrien im Chor:
„Herrengässchen, Männerspäßchen,
Frohstadt ist ‘ne goldne Stadt.
Mecker-Trine, Titten-Lisa,
ob Mattulke einen hat?“
Mattulke zuckte zusammen. Er fasste seinen Krückstock fester. Das war zu viel! Mit einem Ruck drehte er sich um. Einen Moment lang sah er in die hellen Augen eines langen, schmalen Burschen. Er schlug ihm mit der Krücke gegen den Hals. Sein zweiter Hieb traf hart die rechte Wade. Die Jungen flitzten auseinander wie Hasen.
„Nein, so nicht“, schnaufte Mattulke. „Auch an solch einem Tage nicht!“