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1.1.6 Grüner Gürtel und grünes Licht

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Elvira puzzelte weiter an ihrem Glück. Verheißungsvoll stieg die Sonne auf. Ein warmer Tag, um sich die Spannung von der Seele zu laufen, in Frohsinn zu wandeln. Wie schnell würde das Jahr ausklingen über einen womöglich barschen nassen Herbst und einen rauen Winter. Sie wollte ihr kleines bescheidenes Glück festhalten, wenn möglich mehren. Ohne Zukunft? Für den verheirateten Isakess war die Ehe eine bedingungslose und dauerhafte totale Lebensgemeinschaft! wie er sagte. Daran wollte auch Elvira nichts ändern. War ihr Glück also eines auf Zeit? Warum nicht? dachte sie sich. Lieben und Geliebt-werden! Waren Isakess' kurze Unbeherrschtheiten nicht auch ein Ausdruck von Leidenschaftlichkeit?

Sie war dicht an seinem Haus vorbeigegangen. In der Hoffnung, vielleicht doch noch einen Blick von ihm zu erhaschen. Aber Isakess saß längst im Zug nach Berlin. Sie lief auf der Auguste-Viktoria-Allee bis zum nördlichen Oberteichufer. Die Natur erschien ihr so herrlich grün wie im Frühling. In Maraunenhof, eine Villenkolonie, befand sich die Stadtgärtnerei. Sie lieferte nicht nur Pflanzen für die städtischen Anlagen, sondern hatte auch ihren Botanikunterricht in der Schule unter anderem mit Gift- und Heilpflanzen bereichert. Vor gut einem Dutzend Jahren war hier oben am östlichen Oberteichufer die erste Schrebergartenkolonie Königsbergs entstanden. Der Grüngürtel zog sich vom Kupferteich am Pregel hinter dem Sackheimer Tor im Südosten, über den Wall mit Königstor zum Rossgärter Tor und weiter um den Oberteich in westlicher Richtung bis zum Nordbahnhof, neben Cranzer und Samlandbahnhof hin. Elvira wollte den ganzen Tag verbummeln. Die Sonne schien heftig, aber es wehte ein leichter Wind, und da sie das Meer sehr liebte, hatte sie immer den Eindruck, dass er den Geruch von Tang und frischem Meersalz zu ihr trug. Alte Kirch- und Friedhöfe waren kleine grüne Oasen, der Tiergarten eine große. Elvira umging ihn, lief durch die reizvolle Grabenschlucht oberhalb der Hufenallee, wollte unbedingt auch in ihrem Lieblingspark Luisenwahl spazieren. Darin bewunderte sie immer wieder des Bildhauers Rauch schöne Büste der Königin Luise.

Elvira dachte: Ich habe zwar noch nicht so viele Städte gesehen, wie mein Jakob-Jüdchen, aber selbst wenn es nur diese eine bliebe, ich glaube, ich würde nichts vermissen? Zu guter Letzt wollte sie allerdings noch zum Hafen – das Tor zur Welt wenigstens als Traum! lächelte sie vor sich hin. Sie sah plötzlich ihren Jakob ganz bildhaft vor sich: verlegen wie ein Bub, nicht wie ein Mann, der ihr Schmerzliches angetan. Sollte ich ihn besser mein “Garstig-Jud“ nennen? Jüdchen verharmloste. Es machte ihr den Professor jedoch besser handhabbar, holte ihn auf Augenhöhe. Und hatte sie nicht bei allen Juden immer ein bisschen ein widersprüchliches Gefühl gehabt: die Reichsten, Schlauesten und die Ärmsten, Gedemütigtsten, Getriebenen. Hochachtung neben Mitleid? Hatte er das womöglich gespürt? So wie sie manchmal einen sehr hochmütigen Zug um seinen Mund wahrnahm?

Im Hafen waren mit dem Aufschwung des Handels zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts große Speicher errichtet, der Holsteinische Treideldamm bis zum Haff verlängert und die Pregelmündung ausgebaggert worden. Doch Zölle, russische Einfuhrverbote und die nicht aufzuhaltende Verlagerung des Welthandels von der Ost- in die Nordsee machten den Königsbergern die Konkurrenz schwer. Erleichterung schaffte die Übernahme der Verwaltung des Hafens durch den preußischen Staat und die Senkung der Gebühren. Nach und nach wurde der Innenhafen ausgebaut. Steinmauern ersetzten hölzerne Bohlwerke, der Pregel wurde weiter vertieft, die Ufer begradigt, elektrisch betriebene Kräne aufgestellt, Zuführungsgleise verlegt. Schon im Kriegsjahr 1915 hatte man mit dem Bau des Außenhafens begonnen. Festen Baugrund fand man erst unter einer zehn Meter dicken Schlamm- und Torfschicht. Auf Tausenden von Pfählen aus bayrischen Lärchen und polnischen Kiefern baute man die Kais und Speicher. Eisbrecher hielten im Winter die Fahrrinne nach Pillau offen. Im Sommer verkehrten Vergnügungsdampfer von Pillau nach Swinemünde, Travemünde und Helsinki.

Elviras Beine waren vom Tagesmarsch noch nicht müde. Überall wohin sie durfte, setzte sie ihre flinken Füße. Alles war hier interessant, aufregend. Die Arbeit der Sackträger, der Kranführer, die Zurufe der Steuersleute und Matrosen. Offenbar war für sie alle auch der Sonntag nicht unbedingt ein Ruhetag. Elviras Cousine Isabella hatte einmal einen Schiffsingenieur als Freund, der ihr – nicht zu Isabellas Unwillen – statt Blumen stets Säckchen mit Linsen brachte, die Isabella in die Familie weiterreichte. Elvira und Isabella hatten sich darüber sehr amüsiert. Und die burschikose Isabella witzelte, der Herr Ingenieur wisse gar nicht, wie viel Luft er ihr damit geschenkt habe. Der Geheimrat Goethe solle ja in seiner Sterbestunde auch um mehr Luft gebeten haben. Seitdem wusste Elvira immerhin, dass Königsberg einmal Welthandelsplatz für Linsen war. Derlei Informationen war sie sehr zugetan. Sie dachte immer, was erzähle ich bloß einmal meinen Kindern über ihre Heimatstadt, wenn Vater nicht mehr da ist? Den traurigen Gedanken, sie könnte keine Kinder bekommen, verdrängte sie schnell. Erst gestern hatte sie wieder gestaunt, zufällig gehört, während sie mit Mutter den Pflaumenkuchen aufschnitt, wie Vater zu Rudolph sagte: „Keine zweihundert Meter östlich unserer Wohnung hinter dem Sackheimer Tor hat man eines der grüßten Gräberfelder entdeckt: Bauern und Fischer vom prußischen Stamm der Samen, brandbestattet. Ihre Beigaben erzählen uns viel. Schwerter kannten sie noch nicht. Messer und Tüllenäxte waren ihre Waffen.“

Elvira ging langsam von den großen Hafenbecken zur Stadt zurück. Über die Grüne Brücke zur Kneiphofinsel mit dem Dom, die vom Pregel umflossen wurde. Der Alte Hafen mit seiner Lastadie, seinen Lastkähnen, Dampfern und Segelschiffen wirkte auf sie immer sehr beschaulich. Manchmal lief sie um den Dom, an der Synagoge vorbei zum Schloss. Diesmal über die Krämerbrücke zur Hauptpost und weiter zum Paradeplatz. An der Neuen Universität mit ihren langen Rundbogenfenstern und Arkaden und am Kantdenkmal schlenderte sie vorbei. Von Mal zu Mal konnte sich ihr Weg leicht ändern. Aber Schloss, Schlossteich, Paradeplatz und Kneiphof waren doch immer dabei. In gehobener Stimmung wie heute ließ sie sich wochentags gern von der dichten Menschenmenge treiben, störte sich nicht an etwas aufdringlichen oder sich ruppig-derb Platz schaffenden Leibern. Sie genoss ihre Stadt. Gab es eine schönere? Zum Sonntag war es etwas friedlicher. Aber in der Woche wimmelte es auf den Straßen ums Schloss, auf dem Kaiser-Wilhelm-Platz mitunter schwarz vor Menschen. Die Straßenbahnen quietschten überladen um die Kurven. Zwanzig Jahre lang hatte eine Pferdebahn den Transport übernommen. Vor der kleinen Parkanlage warteten noch Pferdedroschken. Alte Männer und Frauen hatten sich auf die Bänke am Geländer ums Bismarck-Denkmal zurückgezogen... Über die Nöte all dieser Menschen, die auch bald die Ihren werden würden, machte sich Elvira dank ihrer Jugend keine Gedanken. Nicht über Versailler Vertrag und durch den Staat geborgtes Geld. Die Handelskrise schwelte im Verborgenen. Die Landwirtschaft, Ostpreußens Rückgrat, zerbrach nach und nach. Konkurse häuften sich. Elvira, zwar im Gewerkschaftshaus angestellt, war entgegen Bruder und Vater, ein relativ unpolitischer Mensch. Einer Bezeichnung als „Romantikerin“ hätte sie zugestimmt.

Über die Altstädtische Langgasse und die Lutherstraße machte sie sich am Abend wieder auf zum Sackheim. Sie mochte nichts mehr essen, nur noch gehörig trinken, Wasser, Saft – und fiel todmüde ins Bett.

Indessen suchte Professor Isakess im Zug nach Berlin für sich ebenfalls nach einer Sinngebung. Er hätte sich der jungen Frau verschließen können. Er hatte es nicht nur nicht getan, sondern seine Gedanken weilten auch jetzt wiederholt bei ihr, während er zu seiner Ehefrau unterwegs war. Seine Auffassung von der Ehe hatte er nicht nur Elvira, sondern auch seinen Studenten oft kundgetan. Und er gedachte auch nicht, davon abzurücken. Obwohl der entstandene Riss, der sich mitten durch seine Aussage und sein Verhalten zog, unleugbar war. Zum ersten Mal hatte er über Kants Vernunft gegen Neigung nicht parliert, sondern einen Kampf ausgefochten – und verloren. Der Mensch ist unvollendet und nicht vollendbar, besänftigte er sich. Unser Leben ein verschwindendes Dasein zwischen Gott und unserer Existenz, unserem eigentlichen Selbstsein. Er brauchte philosophische Gedanken zu seiner Rechtfertigung, die er doch nicht fand.

Die Jugend hat ihre eigene Philosophie. Die Intelligenten unter ihnen wollen sich nicht anpassen, den Zeitgeist herausfordern, ganz selbstbestimmend sein; was immer sie darunter verstehen. Für ihn selbst war Anpassung stets eine Hauptbedingung seines Vorankommens gewesen. Issakar!: Gott gibt Lohn! hieß es im Hebräischen. Nun, Isakess hatte ein bisschen Lohn erhalten, aber vor allem dank seines Fleißes, seiner Genügsamkeit und Unterordnung. Auch dank seiner Grenzen. Und da kam eine Jeanne d'Arc, um sie kraft ihrer Jugend und ihres Zaubers zu sprengen? Zwanzig Jahre jünger, mir fünfzig voraus? Nein, unsere Grenzen sind unsere über Jahrhunderte von den Deinigen angelegten Fesseln! Dem hässlichen Menschenstamm mit den plumpen Füßen. Mal tolpatschig, mal keck, meist unterwürfig. Eine Gemeinschaft von Krämern und Maklern, ein paar glücklosen Akademikern. Sich selbsterziehend zur Nähe zu Sachsen und Schwaben. Aber stets als Fremdkörper missachtet. Glaubst du etwa, liebe Elvira, dass „Kräppelchen“ mich geliebt hat für die Verteidigung seiner Größe? Du bist die Ausnahme, die auch den Gedemütigten lieben kann, als wärst du eine von uns. Kant hatte seine Vorurteile gegenüber „Nathan“. Die Zionisten schämten sich nicht, ihren zweiten Weltkongress mit der „Tannhäuser“-Ouvertüre ihres Meisterhassers einzuläuten. I c h habe zwar manches Psychoanalytikers akribische Forschung bewundert, aber sie getadelt – der hierarchischen Ordnung halber. Der Naturwissenschaft gebührt das Primat in der Medizin! Die deutschen Intellektuellen pervertierten sich derweil im Kriegsjubel. Ein Schock, der mich vom nationaldeutschen Juden wieder zum kulturdeutschen tendieren ließ. Doch womöglich stehen uns schlimmere Zeiten bevor, Elvira, wenn nicht mehr die Religion als das Trennende gilt, sondern die Rasse.

Seine liberale und nationale Haltung hatte Isakess in jungen Jahren von seinem Vater erworben, der ein Kenner und Verteidiger der großen Aufklärer war. Eine wuchtige Gestalt, so hochgewachsen wie der Sohn, mit weißem Haarkranz und weißem Bart. Als Viehhändler und Mohel im Osten, im Grenzgebiet zu Litauern lange unterwegs. Tausende Knaben hatte er beschnitten. Als seine Frau Sarah starb, zog er nach Königsberg, heiratete ein zweites Mal. Ein Jahr später gebar ihm Ethel ihren Sohn Jakob. Die Eltern sagten sich, dass es der „wahre Jakob“ sei und kein „billiger Jakob“ werden solle, sparten für ihn, um ihm ein Studium zu ermöglichen. Das war Jakobs Glück. Sein zweites Steinchen dafür fand er als Student: in Solveig, seiner Frau, einer Textilverkäuferin. Sie führten ein stilles und einander treues Leben. Solveig wartete mehrfach geduldig auf ihn, wenn er für seine Wissenschaft unterwegs war. Kinder stellten sich nicht ein. Was sie mit Bedauern, aber als Schicksal hinnahmen. Ein Einschnitt bedeutete Elvira.

Solveig, bescheiden und geduldig, doch weder unattraktiv noch von schlichter Auffassung, hatte gespürt, dass ihr Mann sie mit scheinbar harmlosen, ja gutmeinenden Manövern außer Haus wünschte. Sie ging darauf ein. Von der zweiten Begegnung mit der fremden Frau berichtete er ihr. Von der dritten wusste sie noch nichts, ahnte sie aber. Ihr Mann schilderte die Frau als Verehrerin; was ihm jedoch mehr Bürde als Freude bereite. Solveig wusste, wen er meinte. Sie hatte die junge Frau auf dem Tennisplatz in seiner Nähe gesehen. Ihr weiblicher Instinkt sagte ihr, dass kein Mann dieser natürlichen Schönheit widerstehen könne. Sie selbst aber gewiss einem Mann – wenn überhaupt, nur selten ja sage. Auf ihren Jakob gemünzt, hieß das: Er könnte ihrer Wahl entsprechen. Sie hatte sich nicht getäuscht.

Ihr Intimleben sah Solveig kritisch, doch nicht problematisch. Sollte sie lebhafter agieren? Oder er? Sie genügten sich, wie sie beide einander mehrfach versichert hatten. Ihr körperliches Verlangen war nicht sehr groß. So hatte sie ihm grünes Licht gegeben für diese Beziehung. Er müsse selbst wissen, wie weit er gehen wolle, falls das zur Entscheidung stehe? Wichtig sei für sie allein, dass er stets heimkehre, sie ihn nicht verliere. Jakob hatte sie umhalst wie selten, als dankte er ihr. Dabei versichert, dass er nicht den kleinsten Grund liefern werde, dass solche Befürchtungen einträfen. Da er Gleiches wünsche wie sie.

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