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1.1.5 Liebesreiz

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Elvira drehte ihr Gesicht dem Wind zu. Sie liebte es, wenn er ihr ins Haar fuhr, es ihr über Augen und Mund blies, es aufblähte. Sie wollte es wieder etwas länger wachsen lassen. Einige bunte Laubblätter tanzten vor ihr her. Vermutlich sahen Elvira und Wilhelm sich im gleichen Augenblick. Sie freute sich, dem langen „Blondschöpfchen“, wie sie für sich sagte, wieder einmal zu begegnen. Sie war eine Zeit nicht mehr über den Wall gegangen. Gedanklich zu sehr mit Isakess beschäftigt. Doch der hatte nichts von sich hören lassen. Hat der unbeabsichtigte Körperkontakt seine Prinzipien verletzt? fragte sich Elvira. Oder hielt er es für möglich, dass sie das Courbetbild gesehen hatte und schämte sich? Sie war aus seinem Arbeitszimmer gestürzt, hatte wohl dabei die Tür etwas weiter aufgestoßen. Jedenfalls hatte er sie heute vor dem Gewerkschaftshaus abgepasst und für morgen in sein Haus gebeten.

Wilhelm war überglücklich, Elvira wiederzusehen, nannte sie seinen Traumengel, den ihm der Himmel geschickt hatte. Wie flink und geschmeidig sie ihre schönen Beine setzte, als sie jetzt die letzten Meter auf ihn zugelaufen kam, sich bei ihm unterhakte. Er fand sich tolpatschig und ungelenk. Wäre jetzt aber am liebsten mit ihr im Wind in die weiße Wolkenburg überm Wall abgehoben. Mit seinem Kopf deutete er auf ihren bei ihm eingehakten Arm und sagte: „Was würde dein Liebster dazu sagen?“ Statt einer Antwort legte sie seinen langen Arm um ihre Hüfte, meinte: „Er müsste von der anderen Seite zufassen!“

Sie dachte in diesem Moment tatsächlich: Besser zwei als keinen! Aber waren ihre Plätze für Liebster und Freund schon sicher verteilt? Sie sagte zu Wilhelm: „Kannst mich ruhig fester umfassen. Sonst trägt der Sturm mich Würmchen noch davon!“ Er ist verliebt und er ist frei, was suche ich mehr! sagte sie sich. S u c h t e sie denn schon? Sie fürchtete die Einsamkeit sicher mehr als er. Er hatte seine Bücher. Sie ihr Gewerkschaftsbüro. Beim Tennis fühlte sie sich mehr als Gast. Außerdem hatte sie mit dem Professor noch etwas auszufechten. Sie wollte ihn fragen, was für „gefühlsbetonte Vorstellungen, Traumen“ er denn meine? Deren Deutung er ablehne oder anzweifle? Wilhelm erzählte aus einem Buch, das er bei sich trug. Sie schaute zu ihm auf. Er sprach leise. Fast in der Geräuschstärke des vor ihnen sacht treibenden Laubes. Er will sich nicht aufdrängen. Was er auch redet, er will nicht stören. Keinem wehtun? Gibt es das? Könnte ich das aushalten?..

Am nächsten Tag ging Elvira gleich nachmittags vom Büro zu Isakess. Sie hatte sich morgens etwas leichter und feiner bekleidet, als der Arbeitstag und die Temperaturen es eigentlich verlangten. Eine zarte Bluse, als ein „Hauch von Asien“ im Karstadt-Kaufhaus beworben, Rosé mit Grau, ein Schmetterlingsmuster. Dazu ein dunkler Rock. Sie trug gern Figurbetontes. Irgendwann werde ich es nicht mehr können, dachte sie, obwohl auch ihre Mutter immer noch sehr schlank war und sich schick kleidete. Elvira machte sich frisch. Über Vorder- und Hinterrossgarten ging's hurtig zum Oberteich hinauf.

Isakess begrüßte sie wie immer sehr freundlich. Er war wieder korrekt gekleidet mit Anzug, Fliege und Weste, was Elvira von ihrem Vater nur zu Feier- oder hin und wieder zu Sonntagen kannte. Ein Fläschchen Sekt und zwei Gläser standen bereit. Isakess wollte mit ihr auf ein Wissenschaftsjubiläum anstoßen, das ihm einst auch die außerordentliche Professur eingebracht hatte. Elvira bastelte gedanklich ihrerseits an einer Überraschung. Ein Teufelsplan, wie sie sich eingestand. Entweder sie schlossen einen Pakt! Oder es war alles vorbei! Aber sie wollte sich nicht mehr mit klugen Sprüchen in geheuchelte Niederungen verdammen lassen. Der Sekt kam ihr zu Hilfe. Sie hatte das Glas noch nicht ganz geleert – fühlte sich selig beschwipst. Er ging in sein Arbeitszimmer. Wollte er womöglich das Bild holen? Elvira kam ihm zuvor. Blitzschnell zog sie sich splitternackt aus, verschüttete dabei den Rest des Sektes, legte sich auf das samtrote Sofa. Nicht in Courbet-Position, aber doch so, dass man sah, worauf sie anspielte.

Er hatte nur einen vorbereiteten Teller mit belegten Broten herüberholen wollen. Stand vor ihr, den Teller in den Händen. Sein faszinierter Blick verriet nicht, ob er dachte: Was für ein Teufelsweib, womit habe ich dieses Glück verdient? Oder: Großer Gott, wo soll das hinführen!

Er stellte den Teller ab und fragte: „Sie haben das Bild also gesehen?“ Elvira nickte. Er hielt sich die Hände vor die Augen. Dann nahm er eine Decke, legte sie über Elvira und zog sich langsam aus. „Ich kann Ihnen nur eine Teilerklärung geben. Weil sich die ganze Wahrheit mir auch verschließt. Für uns Kantianer, Naturwissenschaftler war das Bild ein Aufschrei! Gegen die unsäglichen Phantastereien der Psychoanalytiker. Zumal das Original in deren Kreisen kursierte.“

Er legte sich zu ihr, schloss die Augen – und Elvira genoss es, wie seine große warme Hand über ihren Körper glitt. Dann musste sie nur kurz und tief aufatmen – sah Augenblicke später, dass etwas Blut geflossen war. War's das schon? dachte sie. Er hielt inne. Was sie seinem Zartgefühl und seiner Rücksichtnahme zuschrieb, obwohl sie noch einen sanften Ansturm vertragen hätte, wie sie glaubte. Sie ahnte nicht, was kam. Er stand auf, trat ans Fenster, sah in des Nachbars Garten, der vom noch dichten Blattwerk der Bäume recht dunkel wirkte. Langsam drehte er sich wieder zu ihr um, maß sie mit einem Blick, der durch sie hindurchging. Sodass sie nun selbst die Decke über sich ziehen wollte – als er sich keuchend auf sie stürzte. Sie wollte schreien, hämmerte mit ihren Fäusten gegen seine Brust, da er ihr sehr wehtat... Endlich gab er nach. Vor Schmerz hatte sie sich im Bettzeug verkrallt – er ließ sich schlaff zur Seite fallen... Sie hielt s i c h für schuldig, streichelte sein Gesicht, seine Brust. Krabbelte längs auf ihn, um ihn ganz zu spüren und verharrte still wie ein Kätzchen, dachte: Ach, mein liebster Jakob-Jud, nun gehören wir wohl ein bisschen zusammen! Liebkosend drückte sie ihr Gesicht an seinen Hals. Er atmete schwer.

Er wartete täglich vor dem Gewerkschaftshaus auf sie. Seine Frau war für ein paar Tage zu einer Freundin nach Berlin gefahren. Elvira entdeckte ihn meist schon bei einem suchenden Blick durchs Fenster, freute sich. Sie führte ihn auf verschlungenen Wegen durch die Stadt zum Sackheim. Den Wall mied sie, weil sie Wilhelm nicht unbedingt begegnen wollte. Sie hatte sich nichts vorzuwerfen. Es war i h r e Rücksichtnahme, wie sie sich sagte. Nach zwei Tagen ging sie wieder mit zu Isakess. Und nach weiteren zwei Tagen nochmals. Mit Einschränkungen lief es immer ähnlich ab. Das heißt, Isakess war zunächst ein einfühlsamer zärtlicher Liebhaber, der nach einer abrupt selbstgewählten Pause sich ihrer rigoros, ja mit einer aggressiven Note bemächtigte. Was Elvira jedes Mal wieder verschreckte. Zumal Isakess ihr dann verändert schien – kälter, strenger, mitleidslos. Wenn sie ihn auf diese Diskrepanz in seinem Verhalten ansprach, zuckte er mit den Schultern. Als verstehe er nicht recht, was sie meinte.

Elviras Liebesleben begann für sie also mit sehr widersprüchlichen Empfindungen. Und wie allgemein üblich konnte Widerwärtiges eine Abscheu und Lustvolles ein Verlangen befördern. Sofern das Unangenehme nicht nur von einer Ungewohntheit herrührte und womöglich als unsittlich empfunden wurde, aber bei Einlassen darauf man ihm durchaus lustvolles Zartgefühl und Hingabe abgewinnen konnte. So ging es Elvira mit der sogenannten französischen Art seiner Liebesaktivitäten. Jedenfalls beschloss sie für sich: abzuwarten! Weder Verzicht noch neue Gier erschienen ihr sinnvoll.

Ihr war nun auch klar, welche Traumen nur oder vor allem gemeint sein konnten. Isakess' ablehnende Haltung begriff sie freilich jetzt noch weniger. Er hatte dazu förmlich gesagt: „Wir prüften mit einem üblichen Assoziationsverfahren bestimmte gefühlsbetonte Komplexe. Fanden zwar auch wie andere eine Verlängerung der Reaktionszeit, aber keine Vereinheitlichungen, wie die Freudsche Traumatheorie vorgab.“ Elvira hätte beinahe gelacht, so absurd fand sie die Worte, dachte aber: Kann denn Reden Machen ersetzen? und hatte ihn gefragt, da sie seinen indirekten Vorwurf noch im Kopf hatte: „Bin ich traumatisiert?“

Er war eng an sie herangerückt, umfasste sie mit beiden Armen, küsste sie zärtlich auf Mund, Wangen und Stirn und antwortete in gespielter Ironie: „Zuvor oder jetzt?“, fuhr aber gleich fort: „Du willst nicht zurück zur Natur, wie ich vor ein paar Tagen irrtümlich vermutete. Du bist die Natur selbst, meine Liebe! Hast Hunger auf's Leben. Ich muss aufpassen, dass ich davon noch 'was abbekomme.“

„Danke, mein liebes Jakob-Jüdchen“, hatte sie mutiger und gerührt erwidert – und war alsdann, wie von einer Bö ihres Freundes Wind erfasst, aus dem ihr zeitweise wie ein unheimliches Verlies anmutenden hübschen Professorenhäuschen hinausgeflogen.

Vor dem Wrangelturm hatte sie überlegt, ob sie sich nach links zum Sackheim oder nach rechts zum Tragheim wenden sollte? Sie entschied sich für die Senkrechte nach Norden. Wollte ihre Eltern in Ballieth kurz besuchen. Vater und Mutter und auch Rudolph freuten sich sehr, sie wieder einmal zu sehen. Mutter hatte Pflaumenkuchen gebacken, den Elvira gern aß. Wenn es kühler wurde, wollten die Eltern wieder bei ihr in der Blumenstraße auf dem Sackheim einziehen. Rudolph blieb wahrscheinlich bei seiner Freundin. Der Einzug ins neue Haus, das mit Fenstern und Dach schon recht stattlich aussah, war für nächsten Frühsommer geplant. Der Putz fehlte noch. Vornehmlich der Innenausbau würde den Männern noch viel Arbeit machen. Mutter Anja merkte sehr wohl, dass ihre Tochter nicht so gelöst war wie sonst. Ja, das große Glücksgefühl hatte Elvira nicht erlebt. Kurz klopfte sogar der Gedanke an, nun mit einem Verlust leben zu müssen. Sie dachte an ihr langes Blondschöpfchen Wilhelm, aber auch an ihren Ritter Isakess. Seine Abschiedsworte hatten sie irgendwie versöhnt. Er wollte für gut ein Jahr zu Forschungszwecken nach Berlin gehen, in eine Klinik, mit der seine hiesige kooperierte. Wohnen konnte er zunächst mit bei der Freundin seiner Frau. Elvira empfand seinen Weggang ein bisschen als Flucht vor ihr, in schlimmen Minuten als Verrat. Obwohl sie sich dann zügelte, sich sagte: Das Biologische ist erledigt! Mehr wolltest du nicht! Insofern wäre also auch Erleichterung angebracht. Und wenn er sie liebevoll ansprach, rührte er sie schnell. Das waren Glücksmomente für Elvira. Vielleicht bestand ja das Glück nur aus solchen Momenten? Anja schaute ihrer geliebten Tochter mit Tränen in den Augen nach. Eine erste oder d i e große Liebe? Sie hatte auch nur einen Einzigen geliebt. Ihren Kurt. Irgendwann würde sie es von ihr erfahren.

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