Читать книгу Mutters Wahn - Martin Goyk - Страница 9
1.1.2 Von „Spinnstuben“ und einer Comtesse
ОглавлениеZum Glück hält unsere Kränkung meist nicht lange an. So ging es auch Elvira. Ohne Blick für die Schönheit der Kaskaden stürzte sie vom Oberteich zum Schlossteich hinunter. Rief wiederholt: „Dieser Esel, dieser Esel..!“ Bekommt ein hübsches Hühnchen serviert und mäkelt 'rum! Ein „Professor“, dass ich nicht lache. Sexuelle N i e d e r u n g e n! Sollten es nicht die H ö h e n menschlicher Begegnung sein? Die i-Tüpfelchen im trostlosen Einerlei? Freilich war es nicht so einfach, dahinter zu kommen, stellte Elvira etwas traurig, aber wieder ruhiger fest. Ob Mutter und Vater es noch miteinander taten? Bestimmt nicht. Am Abend vom Hausbau erschöpft. Oft schliefen sie in der Hütte, die Vater auf dem Balliether Grundstück neben dem Rohbau des Hauses eigentlich für Werkzeug und Baumaterial errichtet hatte. Nur ihr Bruder Rudolph kam dann noch in ihre Sackheimer Wohnung, wenn er nicht bei seiner Freundin schlief.
Elviras Traurigkeit wechselte in den nächsten Tagen und Wochen oft mit Heiterkeit und spontanen Unternehmungen. Ihr an sich frohes Gemüt war aus dem Gleichgewicht geraten. Aber sie empfand auch Erleichterung dabei. War es nicht tatsächlich ein bisschen verrückt, bei der ersten persönlichen Begegnung sofortige Vollendung zu erhoffen? fragte sie sich. Wäre die Enttäuschung nicht vorprogrammiert gewesen? Im Büro im Gewerkschaftshaus, wo sie als Stenotypistin arbeitete, war sie flink und fröhlich wie immer. Ja, sie hatte das Gefühl, dass sie noch etwas aufmerksamer und flotter Versammlungen, Reden protokollierte, stenografierte, in die Schreibmaschine übertrug. Ihre Freundin Ellen hatte sie mit großen fragenden Augen angeschaut und Elvira hatte nur den Kopf geschüttelt. Du Arme! drückte Ellens Mimik aus. Doch obwohl die Begegnung mit Isakess Elvira verstört hatte, sie hatte sie auch in eine Art Bann versetzt. So sprach sonst keiner mit ihr: weder so ebenbürtig, noch so ehrlich und inbrünstig, noch über solche Inhalte! Die „Niederungen“ hatten ihn offensichtlich mehr erregt als sie. Wahrscheinlich meinte er damit auch Gedankenlosigkeit, Kaltherzigkeit, Ausgrenzung. Während des Medizinstudiums hatte er als Famulus im Städtischen Krankenhaus am Hinterrossgarten gearbeitet. Teils ansehnliche Pavillons. Aber die Geisteskranken der Universitätspsychiatrie hatte man in den „Spinnstuben“ zusammengepfercht, in uralten baufälligen Räumen. Elviras Gewerkschaftshaus lag am Vorderrossgarten mit schönem anliegendem Garten zum Schlossteich hin, war also nur Schritte davon entfernt. Gleich am Folgetag ihrer Begegnung mit Isakess war sie hinübergelaufen: Wo hatte dieser eselige Professor famuliert? War an Spinnrädern gearbeitet oder nur in den Köpfen „gesponnen“ worden? Aber derlei erniedrigende Begriffe vermied Isakess. Wie er überhaupt lieber „Geistesgestörte“ als „Geisteskranke“ sagte. Vielleicht hat er deren Ausgrenzung so schlimm empfunden, weil die Juden auch immer ausgegrenzt waren? überlegte Elvira. Seit Jahren waren die Kranken inzwischen in einer neuen Klinik weit draußen an der Alten Pillauer Landstraße stationiert.
Eines war ihr immerhin klar geworden. Er hatte sie nicht kränken wollen. Sie war noch ein unbeschriebenes Blatt für ihn. Trotzdem fühlte sie sich einsam. Nicht angenommen von dem Erwählten. Wirkte sie zu zerbrechlich? Mit einer Brennschere hatte sie sich Wellen in ihr Haar onduliert, weil ihr ihre natülichen zu wenig schienen. Ein bisschen sah sie wohl wie eine liebestolle Soubrette aus. Vielleicht hatte ihn das abgeschreckt? Also nur noch Natur! Sie selbst wollte sie sein. Aber auch diesbezüglich hatte ja der Professor Bedenken. Alle Welt schien an ihr interessiert, lächelte ihr zu, wenn sie durch die Stadt schlenderte. Ihr erwidertes Lächeln hatte schon Zudringlichkeiten beiderlei Geschlechts ausgelöst. Sodass sie sich jetzt mitunter verschloss. Obwohl sie ja das Gegenteil wünschte. Eine ältere Dame, ganz in Schwarz, „keine Trauer, meine Marotte“ versicherte sie Elvira sogleich, hatte ihr in einem Kaufhaus beim Anschauen von Kleidern zugesehen. Eines stach Elvira besonders ins Auge: es schmeichelte ihrem zierlichen femininen Körper, am Hals ein runder Ausschnitt, in der Taille vorn ein Bindegürtel als einziger Schmuck. Hinten ein Reißverschluss. Die Farbe ein leuchtendes Mandarine! „Man nennt mich Comtesse Leila“, sagte die Dame, „aber wenn ich sie in dem Kleid ins Café einladen darf – wird man S i e für die Comtesse halten und nicht mich altes Schrapnell!“ Sie wollte Elvira das Kleid und auch noch Schmuck dazu schenken. „Gold steht ihrer zarten Haut vortrefflich, Mädchen. Oder auch diese farbige Achatkette, kombiniert mit edlen Perlen.“ Elvira war unsicher, wie sie sich verhalten sollte. Einerseits fand sie die alte Dame sehr nett, andererseits hatte sie Angst, sich in Abhängigkeit zu begeben. Inwiefern war die Comtesse an ihr interessiert? Sie als Unbekannte derart zu beschenken! Doch Elvira fragte sich auch, ob sie Gespenster sehe? Neulich hatte sie Ellen erzählt, wie sie sich beim Tennistraining von einem jungen Mädchen, zumindest jünger als sie, beim Umkleiden beobachtet, ständig angestarrt gefühlt hatte. Dann dessen Suche nach Nähe und Körperkontakt unangenehm registrierte, zumal das Mädchen sich an ihr wie versehentlich mehrfach schubberte, sie anhimmelte. „Ach, Elvira!“ hatte Ellen ausgerufen. „Dass du demnächst nicht ein schmusendes Kätzchen als erotischen Angriff empfindest! Du bist einfach zu geladen! Wie ein voller Akku, der der Entladung harrt. Ich will das Bild ja nicht umkehren, wie es auch stimmt, aber vielleicht ein bisschen zu frech ist.“ Elvira hatte lange überlegt, was Ellen mit dem umgekehrten Bild meinte – als sie schließlich darauf gekommen war, sagte sie zu sich: Ja, es ist gut, Ellen, der erste Teil reicht schon. Für Derbheiten und Obszönitäten bin ich nicht empfänglich. Obwohl natürlich auch Elvira solche „verbotenen“ Gedanken in den Sinn kamen.
Sie nahm sich vor, nicht mehr so oft hinüber zu den „Spinnstuben“ zu laufen; Ellen meinte, das stecke an. Ein wenig abergläubisch war Elvira. Und ich bin einfach zu dumm. Zu naiv! Ihr Biologielehrer hatte in ihrer Klasse einmal gesagt: „Bis elf, zwölf ist die sexuelle Entwicklung, die wir einschlagen, völlig offen!“ Nach einem Sturm der Entrüstung von Eltern musste er seinen Dienst quittieren. Elvira wäre nie auf die Idee gekommen, ihren Eltern von dieser Äußerung zu berichten. Vielleicht ihrer Mama? Aber nach diesem Eklat natürlich nicht. Sie hatte versucht, ihre Neigungen für und gegen Mädchen und Jungen zu erkunden. Kam jedoch zu keinem gültigen Ergebnis. Weil ihr „Akku“ in jenem frühen Alter noch leer oder zu wenig geladen war? Oder eben die Polung noch unentschieden?
Wodurch erfolgte sie? Elvira wusste keine Antwort darauf, glaubte aber, sich über die Richtung sicher zu sein. Sie hatte die Einladung der Comtesse ins Café dankend angenommen – insgeheim gehofft, sich beim Plausch über ihre Wünsche klarer zu werden. Sie waren in ein Café in der Französischen Straße gegangen, gegenüber vom Schloss. Ein bisschen unheimlich war ihr die Comtesse. Trotz ihrer Komplimente empfand sich Elvira neben ihr wie eine graue Maus. Ein dunkles Rot hatte die Comtesse auf ihre Lippen aufgetragen, das mit großen roten Ohrclips korrespondierte. Auf der kräftigen, leicht gekrümmten Nase saß eine dunkle Hornbrille. Das schwarz gefärbte Haar trug sie ganz glatt nach hinten gekämmt. Was ihr eine strenge, fast männliche Note gab. Sehr feminin wiederum die schwarzen Netzhandschuhe und ein weißer Zierkragen. Sie aßen Quarksahnetorte. „Sie können zu mir Leila sagen“, meinte die Comtesse. „Der Titel ist mehr ein Namensrelikt, eine Art Künstlername. Ich bin Grafikerin. Eigentlich steht mir der Adel gar nicht mehr recht zu, aber meine Vorfahren hatten es sehr damit. Einer war Bürgermeister in der Altstadt, königlicher Rat, wurde Erbherr auf einem ihm vom Kurfürsten für einen Batzen Gulden verpfändeten Gut. Nannte sich nun Lupkus von Rosenkau. Ein anderer stand in herzoglichen Diensten, wurde Gesandter in Wien, vom Kaiser geadelt und später in den Freiherrenstand erhoben. Er starb als Besitzer großer Güter und zweier Schlösser.“ Eine Jüdin wird sie nicht sein, dachte Elvira, und eine Hochstaplerin sicher auch nicht. Dazu wirkt sie zu echt. Aber man weiß nie. Sie fasste all ihren Mut zusammen, sagte: „Ich will es doch lieber bei dem Kaffee belassen und auf das hübsche Kleid und den Schmuck verzichten. Ich möchte sie natürlich nicht verletzen, aber meine Familie würde sich über die Geschenke zu sehr wundern.“ - „Nun gut“, antwortete die Comtesse lächelnd. „E i n e n Wunsch müssen Sie mir aber erfüllen.“
Ihre Freundin war erkrankt und fiel am nächsten Tag als ihre Begleiterin für einen Opernbesuch aus. Elvira war noch nie in einer Oper gewesen, sagte aber zu. Sie hatte sich für den Sommer extra für Festlichkeiten einen Zweiteiler genäht. Aus einem hängenden, in Taillenhöhe frei endenden Oberteil mit schmalen Trägern und einem enganliegenden Rock. In der Farbe beige. Dazu wählte sie ähnlich der Comtesse korallenrote Ohrclips... In einem Sessel im Foyer wartete die Comtesse schon auf sie. Wieder ganz in Schwarz, im langen Abendkleid und mit langen schwarzen Handschuhen. Der weiße Zierkragen wie ein Erkennungszeichen. „Glamourös!“ rief sie bei Elviras Anblick aus und schlug die Hände zusammen. Dann hakte sie sich bei ihr unter und sie gingen langsam zu ihren Plätzen im vorderen Parkett. Elvira hatte das Gefühl, dass man über sie tuschelte. Manche verneigten sich zum Gruß leicht vor der Comtesse. „Man wird uns für Mutter und Tochter halten“, sagte sie amüsiert. Und mit einem verschmitzten Unterton: „Oder auch für mehr?“ Elvira glühte vor innerer Hitze. Alles war furchtbar aufregend für sie. Die Kronleuchter, ihre glitzernden Kristalle. Die vielen schön gekleideten Menschen. Das Rumoren der Menge. Das Stadttheater, in dem man Opern und Schauspiele aufführte, war völlig ausverkauft. Regisseur und Kapellmeister neu besetzt. Sie galten als modern und engagiert. Nach dem Beifall für Dirigent und Orchester Stille. Kein Räuspern, kein Knistern. Elvira wagte kaum zu atmen. Mit den ersten Klängen der Musik war sie wie gefangen. Im Nachhinein kam es ihr vor, als sei sie wie in Trance gewesen, habe um sich herum nichts mehr wahrgenommen. Wie fixiert von dem Geschehen auf der Bühne, von Gesang und Musik. Ein Student verliebt sich in eine bildschöne Kurtisane, aber der Vater des Studenten lässt die Verbindung nicht zu, fordert von der Frau, die ihr bisheriges Leben aufgab, von seinem Sohn abzulassen. Was sie tut. Erkrankt lebt sie nur noch von der Erinnerung. Die Liebenden finden noch einmal zusammen. Aber als der Vater nichts mehr gegen ihre Verbindung hat – stirbt die Frau.
Erschüttert fühlte Elvira die große Leidenschaft und die große Trauer. Sie bebte bei dem kraftvollen Gesang, als sei sie es, die dort vorn litt. Vor Glück! Vor Schmach! Am Ende umhalste sie die Comtesse mit Tränen der Dankbarkeit. Doch den ausbrechenden Tumult, das Beifallsgetöse hielt sie nicht aus. Als gelten sie nicht der Kunst der Sänger und Musiker, sondern höhnten der Leidenschaft, dem Unglück. Sie drängte hinaus. Immer noch weinend lief sie durch den Königsgarten, über den Paradeplatz, am Schloss vorbei Richtung Sackheim. Auf der Wiese am Pregelufer streckte sie sich lang aus. Schaute in den Himmel, dachte: Warum verhinderst du solches Unglück nicht, lieber Gott? Am Tag konnte sie durch ihr Fenster die Enten oder auch Badende, spielende Kinder hier beobachten. Wie sie selbst hier oft gespielt hatte. Bin ich nun schon in einem Alter, wo aus Spiel Ernst wird? Manche erzählten von Kinder- oder Jugendlieben. Das kannte sie nicht. Sie hatte Jungen gemocht, aber irgendwie passte es nie. Wenn sie lieber Himmbeeren von Mund zu Mund wandern ließ, wollte er an ihr Oberteil. Wenn für sie Zärtlichkeiten das Äußerste waren, wollte er mehr. War sie deshalb jetzt so närrisch, alles zu erfahren? Weil sie Angst hatte, etwas zu verpassen? Oder weil es an der Zeit war? An i h r e r Zeit? Fünfzig Schritte waren es bis zu ihrem Haus. Es tat ihr jetzt leid, dass sie sich von der Comtesse nicht richtig verabschiedet hatte. Ihre Kunstakademie sollte in Meisterateliers umgewandelt werden. Eine fremde, geheimnisvolle Welt, dachte Elvira.