Читать книгу Mutters Wahn - Martin Goyk - Страница 15
1.1.8 Zwei Dinge
ОглавлениеEs war in den Wochen vor der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten. Eine Art Galgenhumor erfasste die beiden Liebenden. Besonders Isakess. Beglückung durch Elvira, Existenzbedrohung angsichts der politischen Lage. Ja, zuweilen fragte er sich auf Grund seines Lebenswandels: Ist meine Bestrafung schon in Vorbereitung? So sehr er sich innerlich von einer Last befreit fühlte, so wenig war er doch mit sich im Reinen. Zumal nicht nur seine persönliche, sondern auch seine wissenschaftliche Welt ins Wanken geriet. Und er floh wieder in eine Geistigkeit, die Elvira faszinierte, jedoch auch erschreckte.
„Weißt du, was Augustinus seinem Freund entsetzt zugerufen hat?“ trug er eines Tages Elvira mit Eifer vor. „'Ungebildete stehen auf und reißen den Himmel an sich! Und wir mit unserer Bildung ohne Herz wälzen uns in Fleisch und Blut!' Augustinus hatte Frau und Kind. Gefühle von Liebe und Kränkung kannte er nicht. Er schickte die Frau zurück nach Afrika, wo er in Karthago studiert hatte. 'Ich will nur Gott und die Seele verstehen, sonst nichts!' gestand er. Als hätte unsere Seele nichts mit Liebe zu tun! Worte von Paulus sollen ihn dann bekehrt haben: 'Lasset uns ehrbar wandeln. Nicht in Fressen und Saufen, nicht in Schlafkammern und Unzucht,...pflegt nicht das Fleisch zur Erregung Eurer Lüste.'“
Er legte sich neben die halbnackte Elvira aufs Bett, die ihre Blöße instinktiv etwas bedeckt hatte. Ihr war wie Weinen und Lachen. Zärtlich strich Isakess ihr süßsaures Lächeln hinweg. Sie schnappte mit ihren Lippen nach seiner Hand. „'Keine Gier auf Fleischeslust, auf Wissen, um des Wissens willen, auf Macht und Einfluss!'“ fuhr Isakess fort. „Diesen inneren Streit zwischen Leidenschaft und Gottessuche hat Augustinus mit schwerem Asthma und anhaltender Aphonie bezahlt. Die Stimme versagte ihm, er konnte nur noch flüstern!..“
Nun lachte Elvira, zunächst zögernd, erleichtert, dann herzhaft auf. Sie warf ihr Zudeck von sich und krabbelte wie ein Kätzchen auf den lang neben ihr ausgestreckten nackten Isakess. „Die Wahrheit liegt also in der Mitte - nicht wahr, Herr Professor?“ sagte sie.
„Ich weiß es nicht“, antwortete er, sah ihr in die Augen, lächelte und strich mit seinem Zeigefinger sanft über ihre Oberlider. Er dachte: Für dich bestimmt, mein Liebes. Vor ein paar Monaten hätte ich noch nicht für möglich gehalten, dass subjektives Erleben mehr als deskriptive und pathoplastische Bedeutung hat. Nun bin ich fast überzeugt: Asthma und Aphonie hätten Augustinus den w a h r e n Weg zum Grund seiner Seele weisen können. Elvira sagte, als hätte sie mit ihm mitgedacht: „Die Liebe zu Jesus bringt vielen Menschen ihre Welt in Ordnung. Ist für mich aber ein bisschen zu weit weg...“
Als immer mehr Deutsche einem irdischen Führer zujubelten, bekamen ihre Zusammenkünfte hektische Züge. Isakess glaubte jedes Mal, es könnte ihre letzte Begegnung sein. Elvira spürte seine Unruhe. Mit jeder innigen Stunde fühlte sie ihre Schuld anwachsen. Als Eindringling. Und Isakess ging es in Bezug auf Solveig nicht besser.
In diesen Tagen brachte einmal eine junge Kollegin im Gewerkschaftshaus Elvira eine Zettel: „Von einem vornehmen Herrn vor der Tür rasch hingekritzelt“, erklärte sie. Darauf stand: „Heute Abend 19Uhr im Dom schönes Konzert. Würde mich freuen, wenn Sie kommen.I.“
Vor Freude hätte Elvira die Kollegin am liebsten umhalst. Dann wollte sie ihm hinterherlaufen. Ließ es aber. Ihr Liebster lud sie zu einem Konzert ein! Es war für Elvira so ein Glückssteinchen, das sie für ihr Mosaik brauchte. Vor Aufregung war sie bis zum Dienstschluss kaum noch zu anderen Gedanken fähig. Sie zog ihr schönstes Kleid an, sah wieder sehr verführerisch aus. Manchmal wollte sie etwas gegen eine solche Wirkung tun. Schönheit zieht an, Charakter hält fest, sagte man. Der Busen musste nicht auffallen, ihre Taille nicht betont werden. Dunkle Schatten unter den Augen hatten vielleicht etwas Abweisendes oder Verwerfliches? Aber sie wollte ja gar nicht festgehalten werden! beschwichtigte sie sich dann wieder. Und im Dom war es sicherlich kühl, sodass sie ihren Mantel sowieso anbehalten würde. Was sie vom Dom wusste, wusste sie vor allem von Isakess. Aus der Schulzeit war ihr bekannt, dass er 600 Jahre alt war. Isakess als Kantianer hatte wiederholt über den bitteren Umgang der Stadt mit ihrem größten Sohn gewettert. Erst 100 Jahre nach seinem Tod besann man sich auf ihn. Gedenktafeln und Statuen wanderten umher. Seine Gebeine aus der Professorengruft am Dom in die Stoa Kantiana, eine Wandelhalle für Studenten. Weiter in eine neugotische Kapelle. Vorläufiger Schlusspunkt: ein Grabmal aus rotem Sandstein, modern gestaltet mit den gotischen Formen des Doms.
Isakess wartete ein Stück seitwärts des Haupteingangs auf sie. Sie hakte sich sofort bei ihm unter. Ihr kam der Gedanke, dass man sie für eine seiner Studentinnen halten könnte. Es war ihr nicht unrecht. Studenten hatten meist einen rebellischen Geist. Ihre Wandelhalle bei Kant hatten sie sich gegen professorales Philistertum ertrotzt, als die alte Gruft verfiel. Isakess hatte im Dom auch schon Haydns „Schöpfung“ und Bachs „Matthäuspassion“ gehört – für Elvira böhmische Dörfer, er schwärmte davon.
Kraftvoll, doch verhalten setzten Orgel und Gesang ein. Elvira drückte sich leicht an Isakess, ergriff seine Hand. Sie war warm, wie meist sein gesamter Körper. Ihre Hände und Füße waren oft kühl, fand sie. Die ernste Musik und der Gesang beeindruckten sie sehr. Obwohl der Text lateinisch war. Sie schaute kurz zu Isakess auf. Er wirkte ebenfalls berührt. Verstand sicher den Text. Der zweite Teil des Konzerts erschien Elvira froher als der erste. „Italienisch“, flüsterte Isakess. Elvira verstand sogar einiges, da sie in der Volkshochschule einmal einen Italienischkurs besucht hatte. Italien war für viele Menschen Inbegriff von Kultur und Kunst. Sie hörte Dankesworte an den Herrn für „frate sole“, „sora luna e le stelle“, „frate vento“, „sor aqua“, „sora nostra matre terra“... Elvira war ergriffen von der Schönheit des Gesangs und vor allem auch der Worte, in denen die Erscheinungen der Natur zu Mitgliedern unserer Familie gemacht wurden. Sowohl das traurige erste Stück „Stabat mater“ als auch das zweite „Sonnengesang oder Lob der Schöpfung“ schrieben die Historiker den Franziskanern zu. Den „Sonnengesang“ speziell Franz von Assisi. Franziskus hatte ähnlich wie Augustinus, aus gutem Hause kommend, 800 Jahre nach ihm als Soldat in jungen Jahren das süße Leben genossen – bevor er innere Einkehr in Armut, Keuschheit und Gewaltlosigkeit suchte. „Derweil die Kreuzritter noch für ihren Glauben mordeten“, resümierte Isakess. Elvira setzte einen anderen Akzent: „Als hätten Augustinus und Franziskus erst sündigen müssen, bevor sie Heilige werden konnten?..“ - „In der Jugend ist unsere Natur wohl stärker als unsere Kultur“, sagte Isakess.
Sie schlenderten von der Dominsel über die Honigbrücke gegenüber der Neuen Liberalen Synagoge. Über den Pregel in die Hamannstraße. Behielten den Fluss auf ihrem Wege zum Sackheim aber immer etwas im Auge. Elvira klammerte sich regelrecht an Isakess. Noch ganz bewegt von dem eben Erlebten. Sie hatte beide Musikstücke noch nicht gekannt, ja noch nie etwas von ihnen gehört. „Franziskus hat die Frauen wenigstens nicht wie Augustinus missachtet“, sagte sie und hoffte dabei, dass sich ihre innere Erregung etwas legte. „Glaubst du, wir treiben es zu doll?“ setzte sie unsicher hinzu. Sie sprach vor allem für sich. Sie hatte das Gefühl, selbst immerfort an Zärtlichkeit und Liebe zu denken und Isakess vor allem an Gott. Seine Rechtfertigung vor ihm. Bei ihrem letzten Zusammensein war ihr eingefallen, dass sie bei einem Spaziergang an der Quadermauer vom Schloss eine Bronzetafel entdeckt hatte, worauf Kants Worte von den „zwei Dingen“ standen, die immer wieder seine Bewunderung und Ehrfurcht auslösten - „der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“. Isakess hatte dazu gesagt: „Ja, so ist es wohl, Liebes: Gott, die Unendlichkeit und seine Schöpfung. Und unsere Winzigkeit, unsere Lebensspanne ein Windhauch, dem wir wenigstens Ehrbarkeit und Menschlichkeit beigeben sollten.“
Etwas verstört hatte sie wie eine Frage hinzugefügt: „Und Liebe?“
Jetzt küsste er sie, schüttelte den Kopf, sagte: „Nein, wir treiben es nicht zu doll. Vielleicht ist die Liebe in unserer Zeit noch die einzige menschliche Tollheit. Im Genuss wie im Verzicht.“ Sie standen im Schatten der Uferbäume. Er schaute zu Elviras Haus hinüber. Vor dem Eingang rauchten und gestikulierten einige Männer, alle in halb militärischer Kleidung. „Heute werden wir verzichten müssen“, sagte er. Sie wollte einwenden, dass sie alle Männer mit Namen kenne. Aber er hatte sich entschieden.
Oben warf sich Elvira auf ihr Bett, wollte fluchen und weinen in einem. Dann nahm sie die Texte der Konzerte zur Hand, die ihr Isakess gegeben, teils übersetzt hatte. Ich muss sie auswendig lernen, dachte sie. Und wie sie sich in die Worte vertiefte, so schwand ihre Enttäuschung. Hatte Isakess recht?: Bedeuteten sowohl Genuss als auch Verzicht in der Liebe Gewinn?