Читать книгу Mutters Wahn - Martin Goyk - Страница 11
1.1.4 Innere Nöte eines Professors
ОглавлениеEine Zeit lang erschien es Elvira, dass aus der Berührung auch diesmal nichts würde. Der Professor war jedoch salopper gekleidet als bei ihrer ersten Begegnung in seinem Heim, trug eine weite helle Hose und einen dunkelblauen sommerlichen Pullover, der seinen muskulösen Oberkörper leicht zeichnete. Sie hatte sich dagegen mit einem dünnen Wollkleid und einem Jäckchen etwas mehr bepackt als unlängst, da ein kühler Wind aufkommen sollte. Es gab wieder Tee mit Plätzchen, die seine Frau gebacken hatte.
Noch wortwörtlich hatte Elvira des Professors emphatische Rede im Kopf, als er jetzt sagte: „Mit so einer jungen Dame wie Sie über Begehrlichkeiten zu reden ist heikel, wirkt schnell abgeschmackt. Aber mir ging es um die wissenschaftliche Seite: Was kann ich und was können andere über mich aussagen? Es heißt, die Menschen unserer Zeit seien Spezialisten ohne Esprit und Genießer ohne Herzlichkeit. Aber wenn der gemeine Mann sich dann doch einmal aufrafft und auf sich selbst besinnt, wird er von der gesellschaftlichen Maschinerie entleerter Arbeit und oberflächlichen Freizeitvergnügens wieder heruntergerissen. Und das soll nun der Arzt, der Psychoanalytiker richten? Niemals! Würden Sie, Fräulein Elvira, sich mit Problemen einem Menschen anvertrauen, bloß weil er meint, Ihnen auf den Grund der Seele schauen zu können? Ich nicht! Meine Selbstaufklärung scheitert oft schon im Ansatz – und da soll ich mich einem Fremden öffnen? Es wäre ein Weg vom selbstkritischen Denken über den Ernst des Lebens in die Bequemlichkeit des Geschwätzes!“
Elvira wagte einzuwenden: „Ich bin zu wenig belesen, aber wenn ein anderer schlauer ist als ich, kann er mir vielleicht auf die Sprünge helfen?“
„Mag sein“, antwortete Isakess, „wenn es etwas biografisch Naheliegendes ist. Aber zu den Tiefen Ihrer Seele haben nur Sie selbst Zugang. Und auch uns bleibt vieles verschlossen – vor Gott.“
Verwundert schaute Elvira auf. Noch halb in Gedanken versunken, kam ihr der Professor in diesem Moment besonders aufrichtig vor. Als er ihren Blick erwiderte, fragte sie: „Glauben Sie sehr fest an Gott? Bei mir ist es sehr schwankend: Manchmal bete ich zu Gott, um seinen Beistand zu erbitten. Manchmal sage ich mir: Ach, es gibt ihn ja doch nicht. Sonst hätte er sich mir bestimmt schon mal gezeigt.“
Isakess nahm einen großen Schluck Tee, aß zwei Plätzchen und sagte lächelnd: „Der Philosoph Nietzsche soll den Dichter Stendhal um einen Witz beneidet haben: 'Die einzige Entschuldigung für Gott ist – dass es ihn nicht gibt.' - Sie können darüber auch nur schmunzeln, wie ich. Augustinus, der große Kirchenlehrer sagte: 'Ich glaube, weil es widersinnig ist.' Ich versuche es auch immer wieder. Gehe aber nur selten in die Synagoge. Und ein religiöses Leben führe ich mit meiner Frau auch nicht. Wahrscheinlich haben die Menschen zu allen Zeiten nach Gottesbeweisen gesucht. Doch Gott lässt sich eben nicht hören, sehen, spüren – nur glauben.“
Isakess bemerkte wohl die Ungeduld seiner Besucherin. An ihrem etwas irrenden Blick. Wieder stellte er sich die Frage, was sie bei ihm suchte? Er wagte, seinen Gedanken nicht zu Ende zu führen. Er hatte die Verabredung selbst gewollt. Fürchtete jedoch nun die Konsequenzen. Sie nickte ihm bestätigend zu, mit einem unsicher-fragenden Augenaufschlag und einem betörend hilflosen Lächeln, das er als Aufforderung nahm, fortzufahren. „Ich bin Wissenschaftler“, sagte er. „Ein Mann der Fakten. Gefühle können irren. Das Faktische nie. Es ist sogar reproduzierbar, sooft man will. Mein Großvater war ein emsiger Viehhändler. Er schwor darauf, am Maul, den Zähnen, der Haut, dem Schweif den Wert eines Pferdes, einer Kuh, eines Schafes zu erkennen. Ich wollte es genauer wissen. Als Student arbeitete ich mehrere Semester im Labor eines Physiologieprofessors. Ich besorgte mir aus unserem Zoo Kröten, Fische. Salamander, Schlangen und maß ihre Körpertemperatur. Verglich sie mit der Temperatur in ihrer Umgebung. Mit und ohne Körperarbeit. Was kam heraus? Der Stoffwechsel der Tiere erzeugt zwar auch Wärme, aber sie konnten sie nicht im Körper speichern. Als Assistenzarzt arbeitete ich mit einer Methode, die der Psychologe Wundt, ein Lehrer meines Lehrers Kraepelin, entwickelt hatte. Anhand von Wörtern prüfte ich die durch sie ausgelösten Gedankenassoziationen bei verschiedenen Patientengruppen. Später befasste ich mich mit Bewegungsabläufen von Patienten, versuchte Besonderheiten zusammenzufassen... Sie sehen, Fräulein Elvira, bei dieser wissenschaftlichen Vorgeschichte musste ich skeptisch gegenüber gefühlsbetonten Vorstellungen und deren Deutung durch die Psychoanalytiker sein – und bin es noch heute.“
Elvira hatte auf den Lippen „schade“ zu sagen, hielt sich aber zurück, zumal der Professor selbst fortfuhr: „Vielleicht ist das schade? Vielleicht ist es aber ein sinnvoller Schutz? Eine Wissenschaftshaltung wird zur Lebenshaltung! Oder umgekehrt!“
Wieder befiel eine leichte Trauer Elvira. Wahrscheinlich hatte sie sich einfach für den Falschen entschieden? Ob ein Psychoanalytiker der Richtige wäre? Sie kannte keinen. Hatte auch nicht die Absicht einen kennenzulernen. In der Königsberger „Allgemeinen“, die sie und ihre Mutter jahrelang auf dem Sackheim ausgetragen und die sie im Büro noch abonniert hatten, war ihr neulich das Bild eines Berliner Nervenarztes aufgefallen. Durch seinen kahlen Kopf und das breite Gesicht mit großen glasigen Augen sah er ein bisschen wie eine Dogge aus. Überschrieben war der Zeitungsartikel mit: „ Abnormes Bohren im Sexuellen“. Elvira konnte gar nicht sagen, ob die Dogge bohrte oder ob sie das wie Isakess den Psychoanalytikern vorwarf. Sie hatte die Zeitung schnell beiseite gelegt, als eine Kollegin zu ihr trat. Als sexuell besonders neugierig oder gar abartig wollte sie nicht gelten. Sie machte sich schon genug Gedanken über sich selbst. Überlegte, ob sie häufiger zum Tennisspiel gehen und bis zur Erschöpfung trainieren sollte? Zu Zeiten, wo der Professor nicht da sein würde. Außer „Kräppelchen“ musste sie sich nun auch noch dessen Lehrer „Wunde“ merken; Elvira kickerte ein bisschen, weil sie fand, dass solche lustigen Wortassoziationen ihr Gedächtnis ungemein beflügelten. Nämlich: Kraepelin und Wundt. Beim Abschied kam es nun doch noch zu der Berührung – und zu einem gelinden Schock Elviras.
Isakess war in die Garderobe gegangen, um sich eine Jacke überzuziehen, da er Elvira ein Stück begleiten wollte. Die Tür von dem kleinen Empfangssalon zu seinem Arbeitszimmer stand offen. Elvira tat einen Schritt zur Schwelle hin und dann noch zwei ins Zimmer hinein, weil sie sich ein sie irritierendes Bild auf dem Schreibtisch genauer ansehen wollte: Gustave Courbet „Ursprung der Welt“ konnte sie gerade noch lesen. Sie hörte eine Tür zuschlagen, lief zurück und prallte mit Isakess zusammen, der von ihrem Ausflug jedoch nichts bemerkt hatte. So standen sie einen Moment, Leib an Leib, jeder klammerte sich an den anderen, wie im Reflex. Für einen Sekundenbruchteil hatten sie sogar beide die Augen geschlossen, was Elvira erfreut wahrnahm, da sie sie zuerst wieder öffnete. Isakess sagte: „Gehen wir!“ Wie ein Automat lief Elvira neben ihm her. Ein bisschen glücklich, dass sie ihn kurz in ihren Armen hatte – völlig verstört über das Bild.
Das war auch der Grund, weshalb sie sich unter einem Vorwand bald verabschiedete. Wie gern wäre sie mit ihm noch durch halb Königsberg gelaufen. Sie stürmte wieder die Kaskaden zum Schlossteich hinunter. Wo waren die lustigen Fontänen der Springbrunnen? Abgestellt? Oder gab es sie nur in ihrer überhitzten Einbildung? Ein Zettel hatte auf der Bildkopie gelegen. In Isakess' Handschrift: „Le Réalisme!“
Zu Hause schaute Elvira gleich in einem Künstlerlexikon von Rudolph, dann in einem Französisch- und in einem Doktor-Buch nach und kam zu der Überzeugung, dass das Bild besser mit „La Pornographie“ bezeichnet wäre. Sie legte sich auf ihr Bett. Zweifel kamen auf: Warum malte ein großer Künstler eine „Vulva“? wie die Mediziner sagten. Nichts weiter als eine, nein d i e weibliche Scham? War „Ursprung der Welt“ nicht ein bisschen zu hoch gegriffen? Vielleicht „Ursprung des Lebens“ oder eines Lebens? Dieser Gedanke rührte sie an. Sie würde gern ein Kind haben wollen, vielleicht auch mehrere. Unter Frauen hieß es, dass ihre Scham für Männer anziehend sei. Folgte der Künstler womöglich einem triebhaften Rausch? Oder einem Impuls aus Spaß? Einem Auftrag? Warum hatte ein Wissenschaftler, für den es sich hierbei um „menschliche Niederungen“ handelte, ein solches Bild auf seinem Schreibtisch? Isakess Meinung, dass der Mensch nicht alles ergründen könne, versöhnte sie in diesem Moment eigentümlicherweise. Sie schlief ein.