Читать книгу Mutters Wahn - Martin Goyk - Страница 6

VORSPIEL – Ein ungewöhnlicher Zugang

Оглавление

Auch damals hatte ich auf Martinshorn und Blaulichtblitze gewartet. Allerdings nicht als Gefangener. Etwas weiter rechts, im südlichen Seitenflügel, meinem heutigen Dienstzimmer, das nachts und an den Wochenenden von dem jeweiligen psychiatrischen Bereitschaftsarzt genutzt wurde. An der Stelle des Glasganges und des Mitteltrakts unserer Forensik befand sich noch der Kindergarten des Klinikums.

Es war einer der strapaziösen, langen Wochenenddienste. Von Sonnabend früh bis Montag früh hütete man das Klinikhaus. Genauer gesagt – die Häuser: dasjenige mit den psychiatrischen Aufnahmestationen der Universität, wo sich auch das Zimmer des Dienstarztes befand, und auf Grund eines Kooperationsvertrages der Universität mit dem Fachkrankenhaus die Häuser in der Nachbarschaft mit den Abteilungen für Neurosen und für Alkohol- und Drogenkranke und für neurologische Patienten. Außer den Neuzugängen waren die Arbeiten auf den Stationen zu erledigen: Untersuchungen, Gespräche, fällige Injektionen. Drei Tage ununterbrochen Dienst, denn der Montag folgte als normaler Arbeitstag.

Ruhig hatte mein Dienst begonnen. Am späten Sonnabendvormittag mit einem Epileptiker, der halt wieder einmal einen Anfall gehabt hatte. Ausgerechnet im Borstädter „Café am Bahnhof“. Wegen seiner reizvollen Kellnerin, einer Mulattin, und ihrer ebenfalls immer noch sehr ansehnlichen Mutter, der Wirtin, nicht nur von Werri und seinen Skatfreunden einst gern besucht, sondern auch von uns Oberschülern. Das dunkelhäutige Mädchen war übrigens ein Zeugnis der nur wenige Tage währenden amerikanischen Besetzung der Stadt. Das Erlebnis unwillkürlich zuckender Gliedmaßen und aus dem Mund quillenden Speichelschaums hatte die Gästeschar aufgeschreckt und die beredte Wirtin (wovon Werri ein Lied singen konnte) den SMH-Arzt davon abgebracht, den Mann nach Hause zu fahren; was vernünftig gewesen wäre. Am Nachmittag hatte ich einen Alkoholpatienten in die Klinik aufgenommen. Rückfall nach vier Jahren der Abstinenz. Innerhalb von fünf Wochen nahezu körperlich und seelisch zerrüttet, wie einst nach zehnjähriger Trinkerkarriere.

Ein Krankenwagen war zur Chirurgie gefahren. Hinter ihm ein Polizeiwagen. Auf einer Trage hatte man jemanden ins Haus gebracht. Dann der Anruf des diensthabenden Kollegen aus der Chirurgie, dass die Krankenträger mir gleich eine Patientin bringen würden: „Wahrscheinlich 'ne Schizophrenie, Herr Kollege. Hab eine kleine Platzwunde links an der Stirn mit einer Naht versorgt. Die Frau ist somnolent. Sicherlich medikamentös bedingt. Alkoholfoetor nicht festzustellen. Schädel röntgenologisch o.B. Für Hirndruck besteht kein Anhalt. Das wär's. Schönen Dienst noch!“

Bald nach dem Anruf waren der Arzt und ein Volkspolizist drüben vors Haus getreten. Der Arzt hatte zu unserer psychiatrischen Aufnahme gezeigt. Der Polizist kam herüber, klinkte an der Haustür, die zum Chefsekretariat und zu Professor Oeser führte und um diese Zeit verschlossen war. Ich wartete einen Moment, bevor ich nach unten ging. Es war immer die gleiche Erwartungsspannung, die ich in der Magengegend spürte. Dieses bange Gefühl vor der noch vagen, sich buchstäblich Meter um Meter nähernden Aufgabe. Die mittlere Eingangstür war offen, und der Volkspolizist betrat durch sie die Station. Als ich auf der Treppe war, klingelte im Dienstzimmer schrill das Telefon. Obwohl ich darauf vorbereitet war, erschrak ich ein wenig.

Der Polizist sagte in gemütlichem Sächsisch: „Wissen Se, Doktor. Ich will eischentlich nur wissen, ob se – ich meine die Bürscherin – durchgedreht hat oder ne Provokateurin is? Ob se also in Ihre oder in unsre Zelle muss?“

„Krankheit schließt Fehlhandlungen nicht aus“, antwortete ich etwas schulmeisterlich, um meine innere Ruhe wiederzugewinnen. „Die Frage ist nur die Rangordnung und die Verantwortlichkeit.“

„Ähm“, sagte der Polizist. „Wer Schotter in de Fenster von Eigenheimen ballert, die Türn und frischverputzten Fassaden dämoliert, der is in mein Augen e anarchistischer Idiot oder e verrückter Häuserstürmer, der unsere Wohnungsbaupolitik attackiert. Im harmlosesten Fall e ausgeflippter Neidhammel.“

„Gibt es Augenzeugen?“ fragte ich.

„Een Mütterchen, Doktor. Es is kurz zuvor der Frau begeschnet, die ihr schon nicht ganz 'sauber' vorgekommen war, weil sie ihren Gruß nicht erwidert hatte und 'wie weg' gewesen is. Dann hörte die Großmutter hinter sich Steine purzeln. Die Frau, die sie von irgendwelchen Amtswegen zum Rathaus flüchtig kannte, war auf den Schotterhaufen am Wege gestürzt. Bald darauf begann de Wurfkanonade. Ungezielt, wahllos. Nur immer droff off de scheenen Häuser. Bei größerer Genauigkeit hätte allerdings weit mehr zerteppert werden könn.“

„Hat die Patientin Familienangehörige?“

„Unsere Genossen überprüfen das gerade. Die Identität der Bürscherin ist noch nicht genau festgestellt. Durch Zufall war eem Genossen aus unserem Einsatzwagen bekannt, dass sie am Wochenende von einer Reise in Westen zurückgekehrt is. Womöschlich is se gedopt!“

Für einen Augenblick vernahm ich in meinen Ohren einen zunächst feinen, hohen, dann mehr dumpfen Ton, als pfeife und schnalze ein winziges Belzebübchen in meinem Gehörgang. Ich hatte das Gefühl, sogleich in den Knien einzuknicken und stützte mich rücklings mit den Armen am Ordinationstisch ab.

Der Volkspolizist sagte: „Doktor, uns interessiert also einfach die Zuständigkeit. Sie oder wir? Oder erst sie und dann wir? Oder umgekehrt?“

Die Krankenträger grinsten ungehörig. Sie hoben die Trage mit der Patientin über ihre Schultern empor, als sie die Stufen zum Stationszimmer heraufkamen, um zu demonstrieren, dass sie ein Leichtgewicht brächten.

Ich hatte mich wieder gesammelt und meinen Kreislauf unter Kontrolle. Ein einziger Blick vom Stationszimmer zur Treppe bestätigte mir meine Befürchtung. Das schmale Haupt mit dem schwarzen Haar, das sie seit einigen Jahren färben ließ, um das Stigma des Alterns zu überdecken, aber das sie noch leicht wellig wie in ihrer Jugend trug, nur etwas kürzer. Fremde schätzten sie gut zehn Jahre jünger. In den fünfzigern. Sie hatte die Augen geschlossen und schlief offenbar. Der SMH-Arzt hatte ihr zwei Ampullen Diazepam injiziert.

Großer Gott! dachte ich. Wie sehr muss sie in diesen Tagen gelitten haben? Dass es so weit kommen konnte! Mit uns. Mit ihr. Ich hielt sie immer für so stark. Wie ein zartes Bäumchen: doch auch im ärgsten Orkan unzerbrechlich und unentwurzelbar.

Der Polizist stand auf der anderen Seite neben der Trage und wartete auf eine Entscheidung.

Ich sagte förmlich: „Es ist meine Mutter. Elvira Mattulke. Geboren 1908. Wohnhaft Borstädt, Lindenstraße 6. Ihre Tochter ist vorletzte Woche in London tödlich verunglückt.“

Beim vertrauten Klang der Worte hatte meine Mutter aufgemerkt. Die Diazepamwirkung ließ wohl doch schon nach. Sie öffnete die Augen und sagte zu mir ohne ein Zeichen von Überraschung: „Nein, Junge! Man hat deine Schwester umgebracht. Die Noblesse hat sie umgebracht! Und sie wird auch dich umbringen, uns alle wird sie umbringen!“

Ihre Stimme wirkte schwach. Und doch war in ihr ein fanatisches Feuer, als gelte es, den Kampf zu führen gegen eine ungerechte, scheinheilige vornehme Welt.

Ich beugte mich zu meiner Mutter hinab, fasste sie an den Schultern und fragte: „Was ist passiert?“ Aber ich meinte wohl eigentlich: Was ist mit d i r passiert, Mutter? Was mit Sonja? Ich wusste es selbst nicht genau, was ich meinte; was in dem Wirrwarr aus Krankheit, Verzweiflung und objektiven Fakten für mich Vorrang besaß.

Meine Mutter schlief schon wieder. Der Polizist bedankte sich und verabschiedete sich rücksichtsvoll, indem er nicht weiter fragte. Ich rief Oberarzt Lohmann an, der an diesem Tag Hintergrunddienst hatte, und bat ihn, der besonderen Situation wegen zur Klinik zu kommen, da ich schlechterdings nicht meine eigene Mutter untersuchen könne und wolle.

Zusammen mit der Nachtschwester fuhr ich meine Mutter dann im Bett in einen kleinen Raum neben dem Stationszimmer. Dort harrte ich aus, bis Lohmann eintraf, und auch nach der Untersuchung meiner Mutter durch den Oberarzt die Nacht über. Der stets äußerst geruhsam zu Werke gehende, phlegmatische Lohmann – Eigenschaften, die sich auch in seinem untersetzten Habitus und seiner gemächlichen, leicht wiegenden Gangart widerspiegelten – geriet diesmal in helle Aufregung. Meine zierlich gebaute Mutter machte ihm nämlich am Ende seiner Abhör-, Tast- und Klopfrecherchen arg zu schaffen, sodass er mich eiligst zu seiner Untestützung wieder herbeirief.

Mehrere Schürfwunden und Hämatome hatte meine Mutter an den Gliedmaßen. Eine kleine Wunde am rechten Oberarm war so stark blutunterlaufen, dass ich mich wunderte, wie derb ihr schmächtiger Körper gefallen war. Doch als habe die Untersuchung – die ansonsten nach Lohmanns Aussage erstaunlich gesunde und jugendliche körperliche Verhältnisse ergeben hatte – sie einerseits aus Müdigkeit und Apathie erweckt, andererseits in den Zustand wildverworrenen Erlebens und Denkens noch tiefer hineingestoßen, schlug meine Mutter plötzlich furchtsam um sich: als sähe sie sich ringsum von giftigen Skorpionen und Schlangen bedroht. Sie verkannte Lohmann und mich, beschimpfte uns „Mörder“, „Sadisten“, rief wiederholt Namen, die mir nichts oder nur wenig sagten. Biografisch schienen sie fast ausnahmslos der Vergangenheit zugehörig. „Beatrix“? „Thornberg“? „Rudolph“ hieß der kriegsvermisste Bruder meiner Mutter, „Kopinski“ Sonjas zweiter Mann. „Pillau“ war ein kleiner Ostseehafen in der Nähe meiner Geburtsstadt Königsberg. Nach meinem Vater Wilhelm und meinen Großeltern Przyworra verlangte Mutter wiederholt. Sie entwandt sich uns und wollte fliehen, aus dem Fenster springen, schrie unzusammenhängende Wörter, Sätze, war unfähig, auf Lohmanns und meine Besänftigungen, dass sie sich beruhigen möge, sich täusche, oder auf unsere Aufforderungen, dass sie sich wieder hinlegen solle, einzugehen... Schließlich verfiel sie erneut in eine Art Dämmerzustand: in dem sie scheinbar besonnen reagierte, auf Fragen antwortete, aber sich in einem für uns unverständlichen Erlebniskreis der „Noblesse“ bewegte, von dem vermeintlich tödliche Gefahren ausgingen.

Lohmann vermutete, dass es sich um ein „Durchgangssyndrom mit Wahncharakter“ handelte (er sagte zu mir wohl absichtlich nicht „mit schizophrenem Charakter“, wenngleich es ja nicht bedeutet hätte, dass Mutter an einer „Schizophrenie im eigentlichen Sinne“, also endogener Ursache erkrankt war, welche vielleicht eine ungünstigere Prognose hätte). Sicherlich wollte er einfach aus Feingefühl gegenüber seinem jüngeren Kollegen das Reizwort „schizophren“ vermeiden. Mit großer Wahrscheinlichkeit war aber anzunehmen, dass auch solcherart Wahnerlebnisse eine Rolle gespielt hatten, die man zu den schizophrenen Symptomen zählte. Jedenfalls lag trotz unauffälligen körperlichen Befundes eine organische Ursache auf der Hand; zumal meine Mutter in der Klinik das Krankheitsbild des sogenannten „exogenen Reaktionstyps“ mit eindeutigen Bewusstseinsstörungen geboten hatte. Lohmann ordnete deshalb auch für den folgenden Tag umfangreiche diagnostische Maßnahmen, unter anderem eine Hirnstromableitung an.

Beim Abschied sagte er zu mir aufmunternd: „Kopf hoch, junger Mann! Vielleicht hat eine harmlose Gehirnerschütterung durch den Sturz auf den Schotter das Ganze ausgelöst? Wie so oft im Leben ist auch in der Psychiatrie die Dramatik der Ereignisse nicht unbedingt ein verlässlicher Gradmesser für ihre Gewichtigkeit. Dito für die Schwere der Krankheit. Das Ungetüm kommt auf leisen Sohlen.“

Trotz allem bezweifelte ich Lohmanns organische These. Hatte meine Mutter nach Aussage der alten Frau, von der der Polizist berichtet hatte, nicht bereits v o r ihrem Sturz verstört, in sich gekehrt gewirkt. Ich hatte mich schon am Morgen gewundert, als ich im Rathaus angerufen und erfahren hatte, dass meine Mutter unerwartet um Gewährung ihres Haushaltstages gebeten habe. Soweit ich mich erinnerte, war es das erste Mal, dass sie diesen Tag nicht lange vorausplante. Außerdem ging sie, wenn sie sich grämte, lieber zur Arbeit, als zu Hause zu grübeln. Ich hatte mir ihr ungewöhnliches Verhalten mit der Aufregung und der Übermüdung durch die Reise erklärt. Dennoch hätte sich meine Mutter nach mehrtägiger Abwesenheit normalerweise irgendwie, sei es mit einem Telefonat, einer kurzen Nachricht auf Station bei mir gemeldet.

Es war Mutter zu viel geworden. Doch was hieß: „es“?

Meine Auseinandersetzungen mit Cornelia, meiner geschiedenen Frau, deren offene, frische Art sie so sehr mochte? Sie beurteilte unser Zerwürfnis als an Äußerlichkeiten aufgezüngelt. „Wenn die Lebensziele auseinanderdriften, segelt die Liebe auf einem Totenschiff, Mama. Beziehungsweise es gibt sie dann nur noch als sentimentale Floskel.“ - „Ja, das ist das Rigorose, das du von deinen Großvätern hast!“ hatte sie mir erregt entgegnet. „Im Temperament bist du wie dein Vater. Empfindsam, mehr melancholisch als lustig. Im Charakter wie deine Großväter! Hartnäckig bis zur Sturheit! Früher dachte ich, das passe gar nicht zusammen.“

Aus Hamburg waren immer häufiger Briefe von meiner Großmutter Marie und meiner Tante Isabella eingetroffen. Meist schweigend, mit zitternden Händen hatte meine Mutter sie mir zu lesen gegeben. Es ging allen gut, sehr gut. Doch sie machten sich Sorgen um Sonja, Sonny, den „Sonnenschein“. Sie trank zu viel Alkohol. Morgens schon. Dann der Umzug nach London. Es endete mit dem Unglücksfall. Irgendjemanden des „Mordes“ zu bezichtigen, hielt ich für eine phantastische Ausgeburt des kranken Hirns.

Ich erinnerte Nebensächlichkeiten: Geplante Besuche meiner Mutter – ihr abgesagt während betriebsamer Studienzeiten oder aus Bequemlichkeit. Cornelias und meine Entscheidung für eine kleine Dachwohnung im Zentrum von Borstädt; um zehn Minuten Fußweg von meiner Mutter weiter entfernt als eine andere uns wahlweise angebotene Wohnung. Vielleicht hätte sie gern an meiner Approbationsfeier teilgenommen? Einige meiner Studienfreunde einmal näher kennengelernt? Auf meinen Entschluss, am Borstädt nahen Klinikum in Myhlen eine Ausbildung zum Nervenarzt aufzunehmen, hatte sie in einem Brief postwendend „mit unendlicher Freude“ und „Wunder wie stolz“ geantwortet.

Die halbe Nacht über hatte ich meiner Mutter ein sedierendes Medikament infundiert. Gegen Morgen war sie endlich eingeschlafen. Ich hatte eine Schwester gebeten, hin und wieder nach ihr zu schauen, mich rasiert, geduscht, die Injektionen auf den Stationen erledigt. Als ich wieder zu meiner Mutter ins Zimmer trat, war sie schon wach.

Ich küsste sie auf die Stirn und fragte wie am Vortage: „Was ist passiert, Mama?“

„Das hoffe ich von dir zu erfahren“, antwortete sie mit kraftloser Stimme. „Warum bin ich bei euch in der Psychiatrie?“

Ich berichtete, wovon ich Kenntnis hatte; die Steinattacke bagatellisierte ich. Ich sagte: „Du sollst dann mit ein paar Steinen um dich geworfen haben. Die Verantwortlichen werden sich selbst ihren Reim machen müssen. Auch ich finde es jedenfalls ungehörig, dass der Schotterhaufen nicht beleuchtet war.“

Sie hatte sich ihre zerschrammten Hände auf den Mund gepresst. „Um Gottes willen! Bin ich denn tatsächlich wirr im Kopf?“ sagte sie mit einem Blick des Erschreckens und der Ratlosigkeit. Alsdann drückte sie flüchtig meine Hände, als bitte sie mich um Verzeihung, wischte sich zwei Tränen fort, nestelte nervös an ihrem Bettzeug und bedeckte sich schließlich beschämt mit einem Handtuch ihr Gesicht.

„Bring mir doch bitte eine Kopfschmerztablette und etwas zum Schlafen!“

„Ja, Mama. Du musst erst wieder zur Ruhe kommen. Dann wird sich die Erklärung finden“, erwiderte ich.

Sie ergriff wieder meine Hand und sagte: „Gut, dass du da bist, Junge. Ich glaubte mich sonst wohl von der Welt ausgeschlossen? Dabei ist das Fenster hinter mir nicht einmal vergittert. Geht es deinem Bruder gut? Und meine Wohnung steht noch, ja? Mit allem Drum und Dran? Ich hatte einen schlimmen Traum.“ Sie erwartete gar keine ausführlichen Antworten. Mein Lächeln und Nicken genügten ihr. „Ich möchte ein paar Tage lang weiter nichts als schlafen. Holst du mir einen Wundertrunk, der alle Schmerzen betäubt und alles Schmerzliche ungeschehen macht?“

-

Als Oberschüler hatte ich mich eine Zeit lang sehr um meine Mutter gekümmert. Aber als Junge und dann auch als Student habe ich über sie nie groß nachgedacht. Heutzutage frage ich mich, ob ich zwei Mütter hatte: Eine liebende und eine ausbrechende? Die ihre familiäre Welt, so wie sie war, hegte und pflegte. Doch sie allein nicht ertrug. Ja, übte unsere feine, zurückhaltende Mutter vielleicht sogar Macht aus? Wie eine Treuhänderin über ihr sehnsuchtsvoll zu Füßen liegende Liebhaber? Ist Macht eine ähnliche Kraft wie Leidenschaft?.. Ich merke, es sträubt sich der liebende Sohn in mir, der Ausbrechenden nachzuspüren. Der Wahrheit? Wahrheit ist nie vollkommen, immer nur ein Teil. Trieb es Mama statt zu Verwandten vor allem zu ihren „Bekannten“? Zu ihren Geliebten? Welcher Mann hätte bei ihr wohl nein gesagt? Oder ist das schon wieder meine eigene Verführbarkeit? Gegenüber Schönheit! Klugheit! Mütterlichkeit! Forscher, die Kriegskinder befragt haben, beobachteten, dass diese oft in der dritten Person von sich sprachen. Er, sie – zu den Katastrophen ihres Lebens so unbewusst auf Distanz gingen. Das machte es leichter. Sodass es manchmal gar nicht mehr als das schmerzliche Eigene erschien.

Die Literatur hat diesen Trick seit Urzeiten für sich entdeckt. Genutzt. Ich muss also von Elvira erzählen. Nicht von Mama. Von Andreas. Nicht von mir. Sonny und Werri sind für mich einfacher, direkter zu handhaben. Vater wäre es wohl auch. Väter brennen uns nicht so auf der Haut, wie unsere Mütter. Wenn sie etwas Unrechtes oder Ungewohntes, Überraschendes tun. Erst jüngst habe ich zwei Bilder von Mama entdeckt. Das Erstere, Jugendliche kannte ich. Ich fand es in jungen Jahren wunderschön. Jetzt schockierte es mich: eine dämonische Schönheit, fand ich, so zart, so blütenweiß, so unschuldig und dabei so dunkel, fragend und fordernd der Blick, gepaart mit einem sanften, hoffnungsvollen Lächeln. Irgendwann hatte ich das Bild einmal gesucht. Ich glaube, in den siebziger Jahren. Nach meinem Besuch bei Isakess. Vor Sonnys Tod und Mutters Klinikseinweisung oder auch später. Es war unauffindbar und blieb es. Hatte Mutter das Bild verborgen? Zum Selbstschutz? Hätte es mich vor einer Illusion bewahrt? Als ich Mutter einmal danach fragte, hatte ich den Eindruck, sie wüsste nicht so recht, welches Bild ich meinte oder wollte es nicht wissen. Nun fand ich es wieder. Wie für mich zurechtgelegt. Neben dem Zweiten, einem Altersbildnis, vor zwei, drei Jahren aufgenommen: der Hornrahmen ihrer Brille so dunkel wie ihre Augen, kein Greisenring, dünne Falten um Mund und Augen, der Blick ernster, wissender. Aber das hoffnungsvolle Lächeln blinkt wieder auf. Mehr in Güte als in der dämonischen, still schreienden Erwartung der Jugend.

Mutters Wahn

Подняться наверх