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1.1.9 Eine Irispforte, eine Pleite in Lyck und Liebesglück

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Wochenlang hatte Elvira nichts von Isakess gehört. Es gab Tage, da geriet sie in euphorische Stimmung und war sicher, dass er sich heute irgendwie melden oder in der Nähe des Gewerkschaftshauses oder am Pregel auf sie warten werde. Doch es passierte nicht. Dann folgten trübsinnige Tage, an denen sie versuchte, innerlich Abschied zu nehmen, verstandesmäßig: Er gehört einer anderen!.. Was ebenso misslang.

Unterdessen überlegten Isakess und seine Frau tatsächlich schon, das Land, das ihre Heimat war zu verlassen. Er hatte seinen Lehrauftrag an der Universität entzogen bekommen, sich an der Klinik fortan vornehmlich um chronische und Alterspatienten zu kümmern. Bei Kollegen nicht die beliebteste Klientel. Für Isakess wegen der therapeutischen Schwierigkeiten und oft kommunikativen Einschränkungen eine Herausforderung. Seine Frau Solveig spürte in ihrem Kaufhaus zwar noch keine Behinderungen (der Besitzer war ebenfalls ein Jude), doch wie über Nacht wandelten sich Fürsprache zu Ressentiments, Loyalität zu Vorbehalten. Der Kundenstrom dünnte aus.

Elvira erlebte, wie ihr Gewerkschaftshaus von der SA besetzt wurde. Die Angestellten mussten sich unten in den hinteren Räumen der Schwemme einrichten. Erst allmählich begriff sie, was passiert war. Wie viel Hass, Gemeinheit und Willkür diese „nationalsozialistische Revolution“ emporspülte. Jüdische Denkmäler wurden entfernt, Straßennamen getilgt. Der zentrale Walter-Simon-Platz, nach einem verdienstvollen Königsberger Juden, in Erich-Koch-Platz, nach dem Gauleiter umbenannt. Der Kaiser-Wilhelm-Damm, ab 1918 Hansaring, hieß nun Adolf-Hitler-Straße. Das konnte sie ertragen. Besonders litt Elvira unter den Judendiskriminierungen. Die ausgelöste Traurigkeit empfand sie mitunter direkt körperlich. Ihre Sehnsucht und gleichzeitig ihre Angst, ihr Traum könnte zu Ende sein, waren zu groß. Mein liebster Jakob-Jud, dachte sie oft, sehnst du dich wenigstens auch ein bisschen nach mir?

Lebte er überhaupt noch?.. Sie war nach der Arbeit wieder einmal in die Stadt gegangen. Sie tat es nicht mehr so gern. Das quirlig-raunende städtische Leben, das sie sonst anheimelnd und bergend empfand, wurde fast täglich von Propagandakundgebungen und Parademärschen übertönt. Sie wollte nach Stoffen für ein Kleid und eine Bluse Ausschau halten. Lohnte es noch? Wofür? Für wen? Es war wieder so eine unergründliche gedrückte Stimmung in ihr. Sie kaufte Stoff, der vielleicht besser für Trauerkleidung geeignet war, ärgerte sich schon in der Straßenbahn darüber. Zwei Plätze vor ihr sagte einer zu seinem Nachbarn: „Sie haben ihn die Alte Pillauer Landstraße hinaus gejagt. Er war gestürzt, konnte kaum noch laufen. Ein langer sportlicher Kerl. Sie mit Knüppeln immer hinter ihm her. Über die Lawsker Allee Richtung Juditten.“ - „Und warum?“ fragte der Nachbar. - „Wahrscheinlich, weil er Jude war. Noch dazu ein schlauer und gläubiger.“ - „Juden sind nicht schlau und gläubig, sondern nur gerissen!“ rief einer von der anderen Seite. Elvira klammerte sich an ihren Sitz. Ihr schwindelte. Ich werde nicht aufstehen können, dachte sie. „Gott wird euch alle strafen, soll er noch ausgerufen haben“, sagte der erste Sprecher. „Sie schlugen wohl noch auf ihn ein, als er schon tot war.“ - „Das kann doch nicht sein!“schrie Elvira schreckerfüllt in die Runde. Erstaunt sah man sie an. Sie musste aussteigen. Einer reichte ihr ihre vergessene Tasche mit den Stoffen nach. „Doch, doch, junge Frau“, sagte der Sprecher. „Herzinfarkt heißt es natürlich heutzutage.“ Das hörte sie gar nicht mehr.

Sie hielt sich an einem Baum am Straßenrand fest. Es ist alles zu Ende, dachte sie. Jakob ist tot. Ich wusste es, ich spürte es. Pillauer Landstraße, seine Klinik. Er hat die Bedrohung selbst so stark empfunden, und wollte mich schützen. „Was soll ich ohne ihn!“ rief sie laut in die Straße hinein. Einige Passanten drehten sich nach ihr um. Aber vielleicht war er gar nicht tot? Ein Hoffnungsschimmer stieg in ihr auf. Schlanke sportliche Männer gab es zuhauf! Dieser Gedanke verlieh ihr Flügel. Vor ihrem Haus machte sie kehrt. Lief die Litauer Wallstraße hinan. Sie betete wiederholt leise: Er möge leben, möge leben!.. Sie schaute zum Himmel. Im Nordosten spannte sich über den Horizont ein graues Wolkenband. Darüber drängten sich weiße Wolkenberge und der Himmel brach grellblau auf. Wie eine Pforte. Oder war es eine blaue Iris? Nach oben abgeschlossen durch eine schwarze Wolkenplatte. Fasziniert blickte Elvira zu der Irispforte. Gelernte Sprüche sprudelten weinerlich über ihre Lippen: „Stabat mater dolorosa juxta crucem lacrimosa...“ Sie schaute immer noch wie andächtig zu der Irispforte, rief plötzlich hinauf: „Was tust du hier, Mutter? I c h bin seine Magdala!..“ Wenn er tot ist, will ich auch nicht mehr leben. Wozu? „Quando corpus morietur, fac ut anima donetur paradisi gloria.“ Sie kreuzte ein paarmal die Wrangelstraße, als wüsste sie nicht, ob sie auf die Schloss- oder die Oberteichseite wollte.

Solveig Isakess öffnete ihr. Sie erkannte die junge Frau, die ihr vor geraumer Zeit ein Dorn im Auge gewesen war, kaum wieder. Wirr und verzweifelt – ihr Gesicht, ihr Haar. So konnte sie eigentlich nur Mitleid mit ihr haben. Elvira wiederholte wie automatisch ihren paradiesischen Wunsch. Sie wollte nicht eingelassen werden, wurde auch nicht verstanden. Dann fiel ihr ihr Anliegen ein. Sie fragte: „Ist Jakob zu sprechen?“ - Frau Isakess antwortete: „Nein.“ - Elvira: „Ist er tot?“ - Frau Isakess erschrack, hielt aber die unsensible Frage Elviras Zustand zugute, sagte: „Nicht, dass ich wüsste. Er ist zur Zeit nicht gerade quietschvergnügt, aber heute früh war er noch quicklebendig.“

Elvira entschuldigte sich und ging. Sie lügt, dachte sie. Sie will es nicht eingestehen. Er war für sie schon lange tot, sie war nur noch seine Mutter. Sie ging zum Pregel hinunter. Schaute in ihr Spiegelbild. Vielleicht lebt er tatsächlich? Was bedeutet es, wenn man sich für einen Menschen mehr wünscht, dass e r lebt, als für sich selbst? Angezogen legte sie sich in ihr Bett und schlief mit diesem Gedanken ein.

Als sie aufwachte, hatte sie auch helle Gedanken. Sie wollte aber nicht aufstehen, essen, trinken, zur Arbeit gehen. Manchmal schien es ihr, dass an ihre Tür geklopft wurde. Sie rührte sich nicht. Nach drei Tagen erfolglosen Mühens informierten ihre Kollegen um ihre Freundin Ellen Elviras Eltern. Anja und Kurt Przyworra holten ihre Tochter in ihr neues Haus. Unter Anjas Pflege erholte sich Elvira rasch. Ein Arzt sprach von einem „Nervenzusammenbruch“. Für Isakess ein schreckliches Wort, wie Elvira wusste, da es nichts aussagte. Er erfuhr es aber nie. Erst ein viertel Jahr später sah er Elvira noch einmal.

Sie war wieder auf Arbeit gegangen. Bemühte sich, durch besonderen Fleiß ihr Fehlen auszugleichen. Zu Hause kümmerte sie sich beflissener als sonst um Ordnung und Sauberkeit. Den Kontakt zu ihren Eltern und ihrem Bruder gestaltete sie wieder etwas enger. Hin und wieder traf sie sich mit Ellen. Sie spazierte wieder häufiger über den Wall, neuerdings auch zu den Brücken um die Dominsel. Es war ihr ein Spaß herauszufinden, ob man nicht tatsächlich bei einem Rundgang alle sieben Brücken nur einmal überqueren musste? Angeblich ging es nicht. Oder waren es inzwischen acht? Sie verhedderte sich meist, obwohl sie sich eine Skizze angefertigt hatte, weil sie durch irgendetwas abgelenkt wurde.

E i n e Ablenkung sorgte dafür, dass sie das Brückenproblem ad acta legte. Ein langer Blondschopf stand auf einer der Brücken. Er lehnte sich rücklings an das Brückengeländer, hatte Elvira schon kommen sehen. Behende wich sie drei SA-Leuten aus. Sie trug ihr schwarzes Haar immer noch halblang. Den Kopf hatte sie ein wenig seitwärts in den Nacken gelegt. Leichtfüßig wie eine Tänzerin kam sie geradewegs auf ihn zu, warf irgendetwas ins Wasser. Vielleicht eine ungültige Fahrkarte. Einige Sekunden lang sah sie zu, wie die Strömung sie forttrieb. Wilhelm stieg über das Geländer und setzte sich auf den überstehenden schmalen Betonrand. Es war wie beim Hechtfang. Man wartete und wusste, er würde kommen. Ihre schlanken Hände drückten fest auf seine Schultern. „Bist du verrückt! Komm sofort zurück!“ Wilhelm drehte sich halb um und sagte: „Ich hab Durst.“ Er rückte auf dem Betonrand noch ein Stück nach vorn und blickte zwischen seinen Beinen hinab aufs Wasser. Sie griff in sein Haar. „Esel! Komm!“ Er fasste nach hinten ins Brückengeländer und richtete sich langsam auf. Unlustig kletterte er zurück. Die SA-Leute kamen wieder vorüber. Elvira nahm Wilhelms Hand und lief mit ihm einige Meter davon. „Mein Vater sagt: Braun is' Beschiss, Beschiss wie Kommiss! - Wolltest du wirklich 'runterspringen?“

„Nur gerettet werden“, antwortete Wilhelm spitzbübisch und dachte: Sie sieht reifer aus – und noch hübscher, mit dem leicht traurigen Zug.

Er war in diesen Tagen froh, wieder keine regelmäßige Arbeit zu haben. Manchmal entlud er nachts oder in den Vormittagsstunden auf dem Güterbahnhof Waggons. Oder er verkaufte abends die Spätausgabe der „Neuesten Nachrichten“. Jeden zweiten Nachmittag traf er sich mit Elvira am Sackheimer Tor. Sie bummelten über den Wall. Wurde ihnen der Menschenstrom zu dicht, fassten sie sich bei den Händen. Am zehnten Tag sagte Elvira vor dem Königstor: „Esel, du!“ und küsste ihn auf den Mund. Wilhelm erzählte keinem von seinem Glück.

Einmal, als er Elvira abends nach Hause gebracht hatte, trafen sie am Pregelufer auf Isakess. Wilhelm hatte die flüchtige Begegnung mit ihm auf dem Wall nicht vergessen. Elvira glaubte, ihr Herz stocke. Isakess sagte: „Es lässt sich hier wirklich wunderbar spazieren.“ Sie war froh, nicht in Tränen ausgebrochen zu sein, zeigte auf Wilhelm und sagte: „Mein Freund.“ Isakess nickte. Er schaute Wilhelm an, hatte auf den Lippen zu sagen: Sei gut zu ihr! Und halt sie fest, wenn du kannst! Aber er lächelte nur und sagte an beide gewandt: „Alles Gute!“ und ging.

Allein oben in der Wohnung überfielen Elvira doch noch die Tränen. Nach einer Weile raffte sie sich auf, sagte sich: Wilhelm ist es in der Zwischenzeit schlechter ergangen als mir. Und er ist so naiv wie ich. Wir werden gut zusammenpassen... Wilhelm hatte erzählt, dass er zweitausend Mark Starthilfe seiner Eltern durchgebracht hatte. Bei seiner Pleite in Lyck: „Der Großbauer, von dem ich die Gaststätte gepachtet hatte, war mein ausdauernster Gast. Sein Hinternfett quoll seitlich über seinen Stuhl. Wenn er betrunken war, konnte er sein Wasser nicht halten. Nach mehrmaliger Erfahrung bugsierte ich ihn immer rechtzeitig von seinem Lieblingsplatz auf der Eckcouch auf einen Stuhl. Außer an den Markttagen ging das Geschäft nicht gut. Zwei Gaststätten in der Nähe mit erfahrenen einheimischen Wirtsleuten waren für mich eine zu starke Konkurrenz. Mein Vater hatte mir geraten: Wenn die Bauern besoffen sind, musst du sie zweimal abkassieren. Vom Großbauern bekam ich oft nicht einmal die simple Zeche bezahlt. Ein Hoffnungsschimmer wurde für mich der Generalfeldmarschall. Hindenburg reiste zur Einweihung eines Kriegerdenkmals an. Lycks Höhepunkt in seiner bisherigen Geschichte. Der Umsatz an diesem Tag überstieg meine kühnsten Erwartungen. Von dem Enthusiasmus angesteckt, ergriff ich im letzten Moment eine Trittleiter, um an dem Ereignis teilzuhaben. Gespannt wie alle sah ich über die jubelnde Menschenmenge vor meiner Gaststätte hinweg. Unterdessen ergriff ein mehr an Kassen Interessierter meine Einnahmen...“ Viel Geld leichtsinnig aufs Spiel gesetzt, hatte Elvira gedacht. Aber sie hatte ihm keinen Vorwurf gemacht. Was für Vorwürfe könnte er mir wohl machen, wenn er meine Geschichte wüsste, sagte sie sich.

So kamen sich die beiden näher. Indem jeder dem anderen zunächst das erzählte, was er für ein Miteinander gut oder für sich selbst gut empfand. Das Interesse an der Familie des anderen wuchs. Und als Elvira Wilhelm ihren Eltern vorgestellt hatte und ihre Mutter ihr beim Abschied zugeflüstert hatte: „Da hast du dir aber einen Netten ausgesucht!“, war sie entschieden, mit ihm zusammenzuziehen. Das heißt, da Wilhelm in Königsberg nur zur Untermiete wohnte, zog er zu ihr. Die einzigen von ihm gekauften Möbelstücke, einen runden Tisch und einen Stuhl transportierte er auf einem Tafelwagen zu ihr in die Sackheimer Blumenstraße. Elvira besaß aus dem Bestand der elterlichen Wohnung ein Bett, eine alte Chaiselongue, auf der Wilhelm meist nächtigte, und zwei Stühle. Im An- und Verkauf erstand sie ein Küchenbüfett, das ihr Bruder Rudolph ihnen ein wenig modernisierte. Er hobelte es glatt, setzt Scheiben in den Aufsatz ein, brachte neue, stabile Füße an. Elvira strich das Büfett mit hellblauer Farbe. Ebenso ein Brett über dem Herd, auf das sie bunte Keramikbecher stellte. Die kleine Wohnung wurde von Elviras Ideen belebt. An die Wände hängte sie Blumenkalender und ulkige Kinderzeichnungen. Als junges Mädchen hatte sie begonnen, Gläser zu sammeln. Rubinrote Römer, aquamarinblaue Sektgläser, Kelche mit glatten rauchgrauen oder gedrehten milchigen Stielen, geschliffene Schalen und einfache Deckelgläser, wie sie in jedem Labor herumstanden. Aber Elvira stopfte knallrote Wattetupfer hinein oder legte eine Rosenblüte auf das Wasser im Glas. Sie verteilte die Gläsergalerie auf Stube und Schlafzimmer. Als Werri sich ankündigte, hatten sie geheiratet. Von ihrem Ehedarlehen kauften sie sich eine Vitrine und zwei neue Betten...

Doch bevor die neue Generation in unser Blickfeld gerät, sollen noch ein paar Worte zu den Eltern gesagt werden. Elvira und Wilhelm ließen sich in der kleinen evangelischen Sackheimer Kirche trauen. Ein paar Hundert Meter von ihrer Behausung entfernt. Dort war Elvira schon getauft und konfirmiert worden und dort ließen sie auch ihre Kinder bis hin zu Andreas taufen. Ihre Hochzeit hatten sie aus Geldmangel und auch aus Scham und Stolz in „stiller Zweisamkeit“ gefeiert, wie Elvira vorgeschlagen hatte. Als Gäste und Brautjungfern hatten sie Elviras Freundin Ellen und ihre Cousine Isabella eingeladen. Als Hochzeitsmahl gab es Schöpsenbraten mit grünen Bohnen und Johannisbeerwein.

Aus Scham? Folgendes war passiert: Wilhelm hatte sich, auf berufliche Protektion hoffend, bei der SA gemeldet. War aber nach einigen Tagen des Probeexerzierens, unter anderem auf dem Paradeplatz, wieder abgewiesen worden. Er sei nicht unterordnungswillig und charakterfest genug. Elvira hätte vor Scham über die Geschichte im Boden versinken mögen. Aber als ihr einer ihrer Vorgesetzten im Gewerkschaftshaus sagte: „Habe Deinen Mann bei der SA gesehen – schämst du dich nicht?“ Da hatte sie stolz geantwortet: „Wenn euch das nicht passt, kündige ich eben.“ Wilhelm hatte ihr fast unter Tränen gestanden, dass er es nur ihretwegen getan habe, um sie nicht zu verlieren. Aus Liebe! Damit war für Elvira sozusagen alles entschuldigt. Sie schliefen miteinander. Und wahrscheinlich war das Ergebnis dieses Zusammenseins ihr erstes Liebesglück, wie Elvira ihre Kinder zu nennen pflegte: Werri.

Gewiss hat Elviras Vater, Kurt Przyworra, seinem Schwiegersohn die SA-Episode verübelt. Für Wilhelms Vater, Erich Mattulke, war sie nur ein neuer Beweis der Tolpatschigkeit seines Sohnes. Am meisten litt Elviras Mutter Anja unter den Folgen dieser Ereignisse. Und Elvira brauchte wohl Jahre, um nach ihrer hochzeitlichen „stillen Zweisamkeit“ ihrer Mutter leisen Schmerz darum zu stillen. Zum Beispiel auch damit, dass sie ihr immer wieder einmal ihr selbstgeschneidertes Hochzeitskleid vorführte. In dem Elvira auch noch mit wachsendem Kugelbäuchchen zauberhaft aussah. Ein Kleid in Weiß, figurbetont, das Oberteil nach Art eines T-Shirts geschnitten, mit kurzen Ärmeln, der Ausschnitt leicht gerafft. Für Wilhelms Ausstattung hatte Isabella gemeinsam mit ihm in einem Leihgeschäft gesorgt. Ihm dabei geraten: „Zwö-ölfender musst der werden, Wilhelm, anders kommst du nich nach o-oben!“

Jakob und Solveig Isakess war inzwischen übel mitgespielt worden. Rowdys hatten lange vor der berüchtigten „Kristallnacht“ ihr Haus am Wrangelturm mit Steinen beworfen, Scheiben zerstört, die Fassade dämoliert. Unter dem Druck der Behörden verkauften sie es, zogen in zwei kleine Zimmer der psychiatrischen Klinik am Veilchenberg ein. Elvira hatte Isakess noch einmal in dem Wrangelhaus besucht. Er hatte sie geradezu angefleht, wollte sie unbedingt noch einmal sehen. Ihre Auswanderungspläne waren gediehen. Über Hamburg wollten sie nach Übersee. Solveig hatte sich nochmals für ein paar Tage nach Berlin gewagt. Elvira ging hin. Sie spürte den Drang zu ihm. Aber auch ein Festgehalten-werden. Sie hatte Wilhelm lieben gelernt. Seine bescheidene selbstlose Art. Seine liebende Zuwendung an Werri, der knapp zwei Jahre alt war. Sie wollte Wilhelm weder betrügen noch hintergehen, sprach zuvor über das Treffen. Berichtete ihm danach aber nicht, dass sie mit ihrem Jakob-Jud noch einmal ein Paar geworden war. Die Vorstellung von Trennung auf Lebenszeit, von Tod hatte sie mürbe gemacht. Er war für sie sinnlich noch nicht so weit weg, wie sie glaubte. Sie hatte sich überschätzt. Konnte sich auch ganz fallen lassen. Anders als bei Wilhelm. Die Reue kam ein paar Wochen später. Sie war wieder schwanger. Eigentlich war sie sich sicher, dass es mit Wilhelm passiert war. Aber sie litt. Erst als Sonny geboren war und jederman sah, dass sie heranwachsend dem blonden Papa mehr und mehr glich, kam Elvira etwas zur Ruhe. Ihr Schuldkonto freilich, wie sie es empfand, war wieder gewachsen.

Ein letzter Brief von Jakob erreichte sie Anfang 1939. Die Isakess' wollten mit einem Schiff von Hamburg nach Kuba, eventuell weiter in die USA. Es erging dem Transatlantik-Liner wie einem Geisterschiff. Er irrte umher. Mobilisierte die Weltpresse. Kuba nahm nur zwei Dutzend der über neunhundert Juden auf, vermutlich die am besten Betuchten. Roosevelt lehnte ein Anlegen des Schiffes ab. Die Rückfahrt nach Europa endete für viele Passagiere im Holocaust. Elvira erfuhr durch die Zeitungen nicht alles über diese Irrfahrt. Aber was sie erfuhr, war ungeheuerlich – wie ein Schlingern zwischen Leben und Tod. Auch für sie. Hektisch lief sie wiederholt durch Königsberg, um neue Nachrichten über die „St. Louis“, so hieß das Schiff, zu erfahren. Mitunter nachts, wenn nirgendwo Zeitungen angeboten wurden. Setzte sich zu betrunkenen Nachtschwärmern oder Obdachlosen, wenn sie vorgaben, etwas Neues über das Geisterschiff zu wissen. Sie sparte nicht mit kleinen finanziellen Zuwendungen für Auskünfte, so wenig sie selbst besaßen. Einmal hatte Wilhelm, aus seiner Nachtschicht früher heimgekehrt, sie gesucht. Fand sie im Sturmlauf über die Pregelbrücken am Dom. Kein Vorwurf. Überglücklich, seine Elvira wieder zu haben...

Mutters Wahn

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