Читать книгу Mutters Wahn - Martin Goyk - Страница 17

1.2.1 Sonja über Mecker- und Judentrine und einen seltsamen Spuk

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Sonja stand am Ufer und sah auf den See hinaus. Sie fror. Sie hielt die Ärmchen an den schmalen Leib gepresst. Die braunen Zöpfe flatterten vor ihrem Gesicht. Und die Augen folgten den Bewegungen eines Jungen draußen auf dem See.

Es war ihr Bruder. Werri warf die Angel aus, wie er es von dem Großvater erlernt hatte; den Oberkörper nach vorn, den Kopf nach oben – Großvater hielt das für wichtig. Großvater Mattulke erachtete für Werri als wichtig, was er für Sonja für unwichtig hielt. Werri musste angeln und Krebse fangen können und sie sauber und nett sein. Röcke musste sie tragen, beim Beten die Augen schließen. Auf dem Kirchgang am Sonntag bestand die Großmutter, nur Werri bekam gelegentlich frei. Werri durfte sogar an die dicke Buche vor dem „Goldenen Herz“ pinkeln, die die Leute nur Pinkelbuche nannten. Oh, Großvater Mattulke konnte laut und böse werden! „Opa Mattulke“ hatte sie früher manchmal gesagt, da wurde der Großvater schon böse. „Was heißt hier OPA! Was ist das für ein Wort? OPA, OPA! GROSSVATER bin ich. Das ist der GROSSE VATER der Familie, verstehst du das, Magellche?“ Wütend hinkte er auf seinem kranken Bein durch das Zimmer, lachte plötzlich, dass einem ganz bange wurde, und man schnell „Jawohl, Großvater“ sagte, dann gab er Ruhe.

Der Himmel hatte sich bewölkt. Sonja spürte einige Regentropfen. „Oh, Werri“, flüsterte sie, „beeil dich, es stürmt gleich!“ Sie reckte sich auf die Fußspitzen, ihre Hände krallten sich in das buntkarierte Röckchen. Werri konnte schwimmen, aber sie hatte Angst um ihn. Werri war in allem besser als sie: Er konnte besser schwimmen, besser rudern und auch besser laufen – und trotzdem hatte sie jetzt Angst um ihn.

Unruhig hüpfte Sonja auf der Stelle. Einmal hörte sie einen dumpfen Knall vom jenseitigen Ufer, wo ein breiter Schilfgürtel den Zugang zum See erschwerte. Dichtes Brombeergestrüpp und Tannen reichten bis ans Wasser. Es war aber drüben niemand zu sehen. Die ersten Wellen schlugen gegen die Uferböschung. Er kommt! Sonja machte einen Freudensprung. Plötzlich fiel ihr ihre Pflicht ein. „Werri! Weer...riii!“ rief sie. „Ich sag’s dem Großvater! Du sollst nicht allein mit dem Boot ‘rausfahren!“ Eilig lief sie weg.

Sie hüpfte abwechselnd auf einem Bein und trällerte ein Lied, das sie von ihrer Großmutter gehört hatte:

„An des Kampfes ruhmreich Ende

kehr ich heim auf stolzem Ross,

schenke meinem Liebchen Treue,

Myrtenkranz, ein weißes Schloss.

Darfst drum niemals zittern, zagen,

birg in dir des Schmerzes Laut.

Wenn erst Frieden ist in Tagen,

wirst du meine Herzensbraut.“

Schnell lief sie den kleinen Berg zur Schule hinan, auf der anderen Seite herunter und dann in die Stadt hinein. Wind kam auf, fegte behutsam durch die engen Straßen von Frohstadt. Einige fette Regentropfen klatschten auf das Pflaster. Sonja versuchte mit den Händen einen Tropfen aufzufangen.

Ich muss es dem Großvater sagen, dachte sie. Werri wird mich sowieso knuffen und „Petz-Trine“ nennen, selbst wenn ich es dem Großvater nicht sage.

„Trine“ war für Sonja ein schlimmes Schimpfwort. Hier in Frohstadt kannte sie eine „Mecker-Trine“. Eine dicke Frau, die im Herrengässchen wohnte und – icks!, Sonja schüttelte es bei dem Gedanken – aufgequollen wie ein Hefekloß mit großen Froschaugen den ganzen Tag lang aus dem Fenster schaute und über die Kinder meckerte. Ernestine Bloch stand an der Haustür. Aber die Kinder riefen die Frau nur: „Ernestine – Mecker-Trine“. Zum ersten Mal hatte Sonja jedoch in Königsberg, wo sie mit Werri und ihren Eltern wohnte, von dem Schimpfwort erfahren. In ihrer Straße gab es ein verwüstetes, unbrauchbar gewordenes Geschäft, dessen Tür und Schaufensterscheibe herausgeschlagen und inzwischen zugemauert worden waren. Wie ein dunkler zahnloser Mund hatte der zerstörte Laden in dem Häuserblock geklafft. Sonja hatte es immer gegruselt, daran vorbeizugehen. Einmal war sie mit Werri über die umgestürzten, ausgebrannten Regale gestiegen. Eine aufgescheuchte Ratte hatte sie zu Tode erschreckt. An die kahlen Wände war in fetten schwarzen Buchstaben geschrieben: JUDEN-TRINE.

Sonja suchte sich in dem holprigen Straßenpflaster die am weitesten vorspringenden Steine aus und hüpfte behend von einem zum anderen. Drei Männer standen rings um die Buche vor dem „Goldenen Herz“. Sonja lief auf die andere Straßenseite. Die Männer lachten.

Sonjas Mutter meinte, die jüdische Kaufmannsfrau sei so klein und nett wie Großmutter Mattulke gewesen. Lange Zeit verstand Sonja das nicht. Sie mochte ihre Großmutter sehr. Die Großmutter war schon sechzig Jahre alt. Hatte einen Kopf wie ein runder kleiner Kürbis und voller grauer Haarlöckchen. Manchmal sprach sie so leise, dass man sie kaum verstehen konnte. Aber ihr Gang war noch aufrecht und forsch. Und auch wenn sie putzte und werkte, ging es ihr flott von der Hand, was gar nicht zu ihrer stillen Art passen wollte. Jedenfalls wunderte sich Sonja über Großmutter Maria mehr als über Oma Przyworra, ihre andere Großmutter, die zusammen mit ihrem Mann ebenfalls in Königsberg lebte. Sonja würde protestieren, wenn man ihr vorhielte, Großmutter Mattulke mehr zugetan zu sein, als Oma Przyworra. Die Oma war lustiger, klagte nie. Sie hatte noch nicht so viele Falten um Augen und Mund wie Großmutter Matulke, obwohl sie genauso alt war. Abends kämmte sie sich ihr Haar vor dem Spiegel in ihrem Schlafzimmer lang aus, wie es auch Sonjas Mutter tat. Und ihr Haar war auch noch fast so schwarz wie das von Sonjas Mutter. Außerdem kleidete sich die Oma nicht wie eine Großmutter. Sie trug weite Kleider mit Gürtel oder ein enganliegendes Kostüm und nicht immerfort weiße oder bunte Blusen zu dicken Röcken wie Großmutter Mattulke. Ihren Mann sprach die Oma mit „Kurt“ an. Die Großmutter sagte zu ihrem Mann „Vater“. Ulkig fand Sonja auch, dass die Großmutter auf der Straße dem Großvater stets um einige Schritte vorauseilte. Hin und wieder blieb sie stehen, wartete, ohne sich umzuschauen.

Ein seltsames Gefühl verband Sonja mit ihrer Großmutter. Sie spürte es zum Beispiel, wenn sie ihr beim Abwasch oder beim Reinigen der Zimmer half: die Großmutter schweigend ihre Arbeit verrichtete, nur flüchtig einmal aufblickte und lächelte, halb erschöpft, halb ermutigend. Sonja lächelte zurück, tat sehr emsig und ließ doch kein Auge von der Großmutter.

Sie lief in den Preußenweg hinein. Die meisten Häuser in Frohstadt wirkten wie das der Großeltern ärmlich und waren nicht viel größer als Opa Przyworras Gartenlaube. In die unteren Wohnräume konnte man ohne Mühe von der Straße aus hineinsteigen, da die Fenster fast zu ebener Erde lagen. Ins Dachgeschoss führten wacklige Holztreppen, so steil wie Leitern, empor. Oft existierte im Parterre gar kein Fußboden, sondern man lief auf blankem Lehm. Ohne die Großmutter, den Oberländer See und den munter sprudelnden Bach hinter dem Hause der Großeltern, der in die Frohe mündete, wäre das Städtchen für Sonja uninteressant gewesen.

Ausgenommen der Marktplatz. Aber auch der und die benachbarten Straßen gähnten jetzt vor Langeweile und Verlassenheit. Wenn Sonja an Markttagen mit der Großmutter zum Einkauf ging, war hier ein lustiges Treiben. Hunderte Bauern, Händler und Hausfrauen waren von den umliegenden Dörfern und von den Randgebieten des Städtchens mit Fuhrwerken, Rädern und Handkarren ins Zentrum gekommen. Sie bevölkerten die Schenken und Geschäfte, lungerten auf den Trottoirs umher, schwatzten und feilschten um ihre Waren. Hühner gackerten an den Füßen zusammengebunden, Berge von Melonen, Zwiebeln und Äpfeln türmten sich auf den Tischen. Ein widerspenstiger Schafsbock blökte seinen neuen Besitzer an. Hübsche Tontöpfe und allerlei Plunder wurden feilgeboten.

Manchmal wünschte sich Sonja, sie wäre mit Oma Przyworra oder ihrer Mutter hier. Dann hätte sie Zeit zum Schauen und Staunen. Die Großmutter aber wehte wie ein Windhauch von Stand zu Stand, kaufte ein Weißkraut, ein Pfund Bohnen, Wurzelwerk, nickte oder schüttelte den Kopf, um der Marktfrau Zustimmung oder Ablehnung zu bekunden. Eilig und leichtfüßig, doch ohne Hast ging es wieder nach Hause.

Nur wenn die Großmutter einen ihrer kargen Wünsche nicht erfüllt bekam, wurde sie etwas ungehalten und fahrig. „Ach nein, rein nichts gibt es“, sagte sie. Stand unschlüssig und hilflos da. Doch schon schien ihr Unmut erloschen. Wenngleich eine seltsame Scheu und Ängstlichkeit sie nun heimwärts trieb.

Sonja fasste dann ihre Großmutter fest an der Hand. Wieder wich ihr Blick nicht von ihr, und sie war erst zufrieden, wenn die Großmutter sie mit einem Lächeln bedachte, als sei dies ein Zeichen für die Rückkehr ihrer inneren Ruhe und Ordnung.

Eine endlose Kolonne von Wehrmachtsfahrzeugen zog sich oben am Bahnhof die Danziger Straße entlang. Ungezählte Schaulustige standen neben der Fahrbahn und winkten.

Über Sonja schlug ein Fenster auf. Erschreckt blieb sie stehen. In dem niedrigen Häuschen bebte es unter schweren Schritten. Mehrere Männer und eine Frau schrien durcheinander. Urplötzlich war die enge Straße von einem Lärm erfüllt, der so viel unmittelbarer auf Sonja wirkte, als das dumpfe Gedröhn der Motoren und der wirre Beifallstumult der Menge. Ein Paar Schuhe und ein Mantel wurden in blindem Zorn aus dem Fenster geworfen. Die Frauenstimme klang schrill vor Eifer und Hohn. Sonja war unfähig, weiterzulaufen. Zwei Soldaten sprangen auf die Straße. Die Frau, die ihnen folgte, war noch sehr jung. Ihr volles Gesicht vom Streit gerötet, die blonden Haare etwas zottlig und verschwitzt. Mit steif vorgestreckten Armen reichte Sonja ihr die Sachen entgegen. „Verlogenes Pack! Gesindel! Lass dich nicht wieder sehen!“ kreischte von oben ein älterer Mann. Die Frau zog ihm eine Grimasse. „Du zitterst ja!“ sagte sie zu Sonja. Und dieses eigenartige Lächeln, wie Sonja es nur von der Großmutter kannte, huschte über ihr Gesicht. Rasch drehte sie sich um. Sie lief den beiden Soldaten nach, hakte sie unter und war wenige Augenblicke später mit ihnen in der Menge verschwunden.

„Undankbare! Flittchen!“ schluchzte oben der Mann.

Sonja stand bewegungslos, ein bisschen entsetzt, als habe sie soeben einen Spuk erlebt. Rufe von Soldaten, die aus ihren Fahrzeugluken schauten, hallten die Straße herunter. Es war aber zu weit, um etwas zu verstehen. Sonjas Herz schlug ihr zum Halse. Langsam wandte sie den Kopf. Der alte Mann lag halb ausgestreckt in dem geöffneten Fenster. Er weinte. Seine Hände umklammerten schlaff den brüchigen Sims. Die geröteten Augen blickten verstört ins Leere. Irgendwohin in Richtung der jungen Frau. Eine komische Traurigkeit ging von dem Mann aus. Denn sein unnatürlich rot gefärbtes Haar mutete wie die Perücke eines Clowns an und bot einen rührseligen Kontrast zu seinem grauen, hohlwangigen Gesicht.

Mutters Wahn

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