Читать книгу Mutters Wahn - Martin Goyk - Страница 19
1.2.3 Eine unvollendete Stadt und ein General
ОглавлениеWie vielerorts, so hatten sich auch einst in Frohstadt die ersten Siedler an einem Flüsschen, der Frohe, niedergelassen. Es war kein reißendes Gewässer, sondern eben ein Flüsschen, das bescheiden durchs Land plätscherte. Aber immerhin eine Mühle betrieb, eine Zuckerrübenfabrik und etliche kleine Bauernwirtschaften mit dem nötigen Wasser versorgte. Die Müllersfamilie war von jeher eine der wohlhabendsten Familien am Ort gewesen. Der Müller zum Ratsherren gewählt. Und eine der fünf Hauptstraßen, die außer der Danziger alle strahlenförmig zum Marktplatz verliefen, hieß in schlichter Ehrerbietung sogar Müllerstraße. Da der Mühlenbesitzer sie vor zwanzig Jahren auf eigene Kosten verbreitern und mit ebenmäßigem Pflaster ausstatten ließ.
Natürlich reichten die Mittel des Müllers nicht aus, um ganz Frohstadt zu modernisieren. Eine Blütezeit, von der das Städtchen vielleicht noch zehren könnte, hatte es in seiner Geschichte nie gegeben. Ebenso keinen spendablen, fern residierenden Fürsten. Fast unbemerkt hatte sich die Siedlung geweitet, war zu einem Marktflecken, zu einem Handelsplatz für Bauern und Töpfer, zu einem Sitz für Schmiede, Stellmacher und Tischler geworden.
So existierte in Frohstadt zwar ein gut entwickeltes Handwerk. Aber ein nach Macht und Geltung strebendes, selbstbewusstes Bürgertum deswegen nicht. Womöglich hatte vorzeiten der Landesherr in einer Laune das Stadtrecht wie einen Trostpreis verliehen. Denn im Grunde war Frohstadt eine verfehlte Stadt.
Das Rathaus, freistehend an einer Seite des Marktes, als habe man für ein gewaltiges Bauwerk extra Platz geschaffen: ach – ein quadratisches, unscheinbares Gebäude mit einer Gaupe; auf dem Walmdach ein viereckiges Türmchen mit zu jeder vollen Stunde schlagender Uhr. Rundum am Platz sauber verputzte Bürgerhäuser mit Erkern und Laubengängen, doch ohne Epochenanspruch. Am Schulberg kein anderes Bild als in der übrigen Stadt. Die Häuser nur meist mehrgeschossig und nicht zu endloser Reihe aneinandergeschachtelt. Auch die Schule hinterließ den Eindruck eines mageren Stadtsäckels. Als habe man schon gern gewollt, aber letztlich nicht gekonnt. Eine breite, flach ansteigende Freitreppe. Ein Tor wie ein schmächtiger Triumphbogen zu einem Schulhof von der Größe des Marktes. Ringsum hohe, volle Linden. Doch das Gebäude selbst niedrig, zu eng. Die Kinder in mehrstufigen Klassen, wie in einem Dorf.
Nein, Frohstadt war zumindest eine u n v o l l e n d e t e Stadt. Die meisten Menschen arbeiteten auf den umliegenden Gütern, von denen das Budkussche dasjenige mit dem größten Grundbesitz war. Es hatte schon viele Gutsherren und einstmals seinen Standort in unmittelbarer Nähe der Stadt gehabt. Doch kleine Höfe im Umkreis waren zugrunde gegangen und das einverleibte und zu verwaltende Land unüberschaubar geworden. Schließlich traf es sich, dass die Geschicke des Gutes in den Händen eines in gleich hohem Maße vortrefflichen Landwirts wie den Trend seiner Zeit erkennenden Eigentümers lagen. Er investierte einen Fabrikbau zur Verarbeitung von Zuckerrüben. Natürlich erweiterte er gleichzeitig seine Anbaufläche für diese Frucht erheblich. Auf dem wirtschaftlichen Höhepunkt des Gutes soll auch die Mühle Eigentum des Gutsherrn gewesen sein. Dieser verlegte jedenfalls sein Gut und ließ sich zudem einen repräsentativen Herrensitz errichten. Es ist nicht bekannt, dass er außer der langen Pappelstraße weitere Verkehrswege erbauen ließ. Doch im Gedächtnis der Frohstädter hafteten Erzählungen aus der Blütezeit dieses Gutes wie eine Legende. Als sei es die erwünschte Blüte ihrer Stadt selbst gewesen.
Indes nahm der Andrang der Landarbeiter und der in der Saison benötigten Fabrikarbeiter zu. Das Städtchen quoll gegen die Anhöhen. Gassen quetschten sich quer an die radialen Straßen. Mag sein, dass in diesen Jahren die Silbergasse entstand. Vielleicht stammte aber ihre Anlage noch aus einer Zeit, da hier eine Stadtmauer verlief und die Straßenrundung Schutz und Unterschlupf vor Angreifern gewähren sollte.
Darüber hatte sich Mattulke nie Gedanken gemacht. Er war ein misstrauischer Mensch, der überall im Leben Angreifer vermutete. Hierhin hatte er eingeheiratet. Er konnte sich sein Zuhause nicht aussuchen. Ein Behinderter musste zugreifen, wo sich ihm Frau und Wohnung boten; mit einem verkrüppelten Bein ließen sich keine großen Sprünge machen. Mattulke hatte als Kontorist, Schreiber im Bürgermeisteramt und in den letzten zehn Jahren als Portier und Botengänger beim Gericht gearbeitet. Schnell störrisch und unleidlich, hatte er wenig Freunde gehabt. Nun als Pensionär schien die Blütezeit in Mattulkes Leben anzubrechen.
Doch außer ihm selbst ahnte davon noch keiner etwas. Sein Sohn Reinhard tat beflissen wie eh und je als Gerichtskanzlist seine Arbeit. Ängstlich darum besorgt, keinen Fehler zu begehen oder bei den vom Vater geforderten Grundbücherschnüffeleien ertappt zu werden. Der ältere Sohn Wilhelm, neununddreißig Jahre alt, gerade auf Urlaub, sinnierte im „Goldenen Herz“ über seine baldige Rückkehr zur Truppe. Seine Frau lag in Königsberg in der Klinik, um ihr drittes Kind zu gebären. Unentwegt malte sich Wilhelm in Gedanken ihre Zukunft aus. Aber es gelangen ihm nur unheilvoll wirre oder zu makellose Bilder. Maria Mattulke bereitete das Abendessen. Ihr Mann kam ihr in letzter Zeit sonderbar verstört vor. Ebenso wunderte sie sich über seine häufigen Reisen nach Königsberg.
Werri hetzte Sonja mit kriegerischem Geheul durch die Silbergasse. Sonja wollte ihm das Versprechen abluchsen, ihr für einen Abend Käppi, Koppel und Schulterriemen auszuhändigen. „Sonst sag ich’s!“ Außerdem waren die beiden nicht übereingekommen, was „Gesindel“ bedeute. Werris Jungbannführer hatte lauthals erklärt: „Die Juden sind ein heimatloses, geldgieriges Gesindel!“ Sonja glaubte, „Gesindel“ habe einfach mit „Geschwindel“ zu tun.
Nacheinander stürzten die zwei in den Hausflur. Sonja schlitterte auf den glatten Ziegelsteinen zu Boden und erhob sogleich ihre Arme. Ich ergebe mich! Die Erde zwischen den Steinen war immer etwas feucht und glitschig. Angewidert spreizte Sonja ihre Finger. Werri gab ihr vorsorglich ein Zeichen, still zu sein. Draußen auf dem Hof stolzierte der Vater von Christoph Genth.
Die Genths bewohnten seit einigen Jahren eine Hälfte des Hauses, nachdem Maria Mattulkes Eltern gestorben waren. Frau Genth, eine schwergewichtige Frau, litt unter der Last ihres Körpers und unter den zahllosen Krampfadern ihrer Beine. Fortwährend entzündeten sich irgendwelche Venen, sodass die arme Frau meist mit dick bewickelten Unterschenkeln durchs Haus watschelte. Nicht genug damit! Ihr Mann, einst Berufssoldat, ein Unteroffizier mit Schneid und vornehmen Manieren, umnachtete zusehends. Tief bekümmert stellte Frau Genth immer wieder fest, dass er sich rein nichts mehr merken konnte, dass alle ihre gemeinsamen Erlebnisse, seine zivile Tätigkeit als Postbeamter aus seinem Gedächtnis gelöscht waren. Wie ein unbeholfenes Kind lebte er neben ihr; verstand nicht mehr, Öfen zu heizen oder Schuhe zu putzen, begriff gar nicht, was sie von ihm wollte. Stattdessen erschreckte er sie mit obszönem Tun und unerklärlichen Einfällen. Einzig seine Jugend und die Jahre des Militärs schienen Spuren der Erinnerung in ihm wachzuhalten. Für Frau Genth eher Ärgernis als Trost.
Denn sooft zum Beispiel Werri und Sonja ihre Großeltern besuchten, jedesmal ergötzten sie sich von neuem an dem seltsamen Verhalten dieses langen, dürren Mannes. Stundenlang ging er auf dem kleinen Hof wie in einem Käfig hin und her. Die Arme auf dem Rücken verschränkt. Den Kopf mit der langen scharfen Nase nach vorn gereckt, wie ein Beute sichtender Raubvogel.
Werri hatte die Hoftür vorsichtig herangezogen. Übereinandergebeugt lugten die Kinder durch den verbliebenen schmalen Spalt.
„General!“ flüsterte Werri. Herr Genth lauschte wie auf ein überirdisches Signal. Dann trottete er weiter über den Hof.
„General!“ flüsterte Werri energischer. Und wie ein Blitz schlug es durch Herrn Genths Körper. In straffer, tadelloser Haltung verharrte er.
„Kehrt marsch! Zack, zack!“
Herr Genth machte eine forsche Kehrtwendung und lief die wenigen Meter bis zum Zaun. Dort hatte er offenbar den Befehl vergessen. Denn er entleerte sein Wasser.
„General! Sie Ferkel! Im Laufschritt, marsch, marsch!“ wetterte Werri. Während Sonja ihm kichernd mit den Fäusten auf die Schultern trommelte.
Werri konnte sich der Bescherung, die er angerichtet hatte, nicht mehr erfreuen. Ein sehr irdischer, heftiger Schmerz in seiner rechten Gesäßhälfte zwang ihn zum Rückzug. Hämisch grinsend stand Christoph Genth hinter ihnen und steckte eine Kneifzange in seine Aktentasche.
Christoph Genth wirkte auf Werri auch ohne Zange immer etwas unheimlich. Mit seinem pechschwarzen Haar und den schlitzigen Augen sah er wie ein Mongole aus. Er ging so lautlos, wie ein Panther. Im Rücken ein wenig krumm. Sprach kaum einen Satz, aber führte immer irgendetwas im Schilde. Er war sechs Jahre älter als Werri und hatte eine Lehre als Schmied aufgenommen. Bummelte jedoch, wenn es ihm gerade zupass kam. Nur seiner Mutter zuliebe, die ihres Sohnes nicht Herr wurde, hatte der Schmied ihn noch nicht davongejagt.
„Lasst meinen Alten in Ruhe“, sagte Christoph Genth gleichgültig. Er öffnete seine Aktentasche und bedeutete den beiden, hineinzuschauen. Verschreckt fuhr sich Sonja mit der Hand an den Mund. Ein fetter Karpfen und eine kleine magere Plötze lagen in der Tasche. Beide mit zerfetzten Leibern und hervorquellenden Augen. Werri tippte an eine wächserne Schnur, die aus einem straff mit Draht verschnürten Päckchen heraushing. Ein feines schwarzes Puler rieselte aus der Öffnung.
„Damit kriegst du alles klein. Das Zeug darf bloß nicht nass werden.“ Christoph zeigte auf eine leere Blechdose und flüsterte dem staunenden, aber in seiner Aufmerksamkeit merklich beeinträchtigten Werri zu: „Treibobjekt, Selbstzerstörer!“
Wahrscheinlich hatte Frau Genth beim Blick durchs Küchenfenster das Malheur auf dem Hof entdeckt, wo der General noch wie ein Wasserwerfer vorwärts eilte. Nach ihrer Stimme zu urteilen, verspürte Frau Genth jedenfalls Lust, gänzlich andere Objekte als solche wie leere Konservendosen vor sich her zu treiben. Werri und Sonja fühlten sich angesprochen und schlichen schleunigst die Holzstiege hinauf. Zur Verwirrung der Kinder benutzte Frau Genth wie ihr Sohn ein Fremdwort: „Subjekte!“ – „Bagage!“ war den Kindern geläufiger.
Die Großmutter meldete sich mit ihrer besänftigenden Stimme. Dann dröhnte der Bass des Großvaters. Werri reichte Sonja seine Ausrüstung, samt Halstuch und Lederknoten. „Sind die Kinder überhaupt schon da?“ fragte der Großvater. Die Treppe knarrte. Es waren die abgehackten Schritte des Großvaters: ein kräftiges Knarren, wenn er das linke Bein aufstellte, und ein kurzes „Tak“ beim Heranziehen des rechten. Sonja rutschte neben Werri auf den Fußboden. Gebannt blickten sie zur Türe. Der Großvater schaute kurz herein und blitzte sie böse an. „Was hab ich gesagt!“ rief er und warf die Tür wieder zu. „Niemand kann auch nichts machen! – Sie sollten auf Ihren Mann besser Obacht geben, liebe Frau. Ich glaube, es wird mit ihm schlimmer.“
Die Kinder wagten kaum, sich zu bewegen. Erst als sie das gewohnte Rumoren im Haus vernahmen, wurden sie mutiger. Werri bezweifelte, dass für den Großvater die Sache erledigt sei. Der Großvater schlug damit zu, was er gerade in der Hand hatte. Die Krücke, ein Kleiderbügel, der Besen. Werri hätte seine Tracht Prügel gern weggehabt. Sonja fand sich damit ab, hungrig zu Bett zu müssen.
Als aber dann wider alle Erwartung nicht der zur Züchtigung entschlossene Großvater, sondern die Großmutter mit einem hoch mit Wurstbrot beladenen Teller ins Zimmer trat, schwante es den beiden, dass etwas Ungewöhnliches passiert war. Die Großmutter sprach irgendwie feierlich. Ihre Wangen waren gerötet. Ihr Haar hatte sie sich wie sonst zum Sonntag frisch eingedreht, ein feines Netz darüber gespannt. Der Großvater sei nicht böse, sagte die Großmutter, im Gegenteil. Aber sie sollten heute lieber hier oben essen und gleich zu Bett gehen. Der Vater sei wahrscheinlich nach Königsberg gefahren und komme erst spät zurück. Und im Übrigen werde es morgen eine kleine Feier geben.
Weswegen, verriet die Großmutter nicht. Sie küsste ihre Enkelkinder auf die Stirn, lächelte verschmitzt und geheimnisvoll und schlich so leise, wie sie gekommen war, wieder hinaus.
Die Kinder zogen sich aus. Äußerlich glichen sie sich nicht sehr. Nur der Schnitt ihrer Gesichter zeigte Gemeinsames. Die Nasen verrieten Mattulkesche Abkunft. Bei beiden erschien sie eine Winzigkeit zu groß, mit kräftigem, geraden Nasenrücken, wodurch die Gesichter einen energischen Zug erhielten. Vornehmlich Werris, durch sein etwas wulstiges Kinn und da sein Gesicht breiter wirkte. Das Haar des Jungen war dunkel, fast schwarz. Sonjas blond, wie das des Vaters, mit einem kastanienfarbenen Schimmer. Von der Mutter hatte das Mädchen wohl den zartgegliederten Körperbau ererbt, der immer mehr zur Magerkeit tendierte als zur Fülle. Werri würde womöglich einst zu Beleibtheit neigen, vielleicht zu jener pyknischen Stämmigkeit wie Opa Przyworra, die oft an ein vitales Temperament, an Mutterwitz und einen ehrgeizigen Charakter gekoppelt war. Werris Augen waren blau, Sonjas braun, wie diejenigen von Mutter und Großmutter Przyworra. Auch deren deutlich hervortretende Jochbeine deuteten sich bei Sonja wieder an.
Die Silbergasse war von tiefer Dunkelheit umhüllt. Erst vorn im Kaiser-Wilhelm-Weg brannten schwache Gaslämpchen. Weit weg sang ein Betrunkener Matrosenlieder. Jedes der Kinder hing seinen Gedanken nach. Werri überlegte, ob er sich das richtige Mischungsverhältnis von Schwefel, Holzkohle und Salz gemerkt hatte? Sonja fragte sich, ob ihr ein Junge oder ein Mädchen als Geschwisterchen lieber wäre und schlief darüber ein.