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a) Das Prinzip von Treu und Glauben

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Die in § 226 definierte Schikane ist nur ein krasses Beispiel für den Rechtsmissbrauch, der nach einhelliger Auffassung die allgemeine Schranke der Rechtsausübung bildet. Das Verbot des Rechtsmissbrauchs haben Rechtsprechung und Literatur aus dem in §§ 157 und 242 formulierten Grundsatz von Treu und Glauben entwickelt.

Das Prinzip von Treu und Glauben bezieht sich auf das Verhältnis von vertraglich oder in einem sonstigen Rechtsverhältnis miteinander verbundenen Personen. Obwohl § 157 sich dem Wortlaut nach nur auf Verträge bezieht und § 242 nur das Leistungsverhalten des Schuldners betrifft, wird das Prinzip praktisch auf alle Rechtsverhältnisse angewandt. Der Satz des schweiz. ZGB (Art. 2 I): „Jedermann hat in Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln“ lässt sich auch auf unsere Zivilrechtsordnung übertragen. § 242 bildet neben den „guten Sitten“ (§§ 138, 826) die gebräuchlichste Generalklausel des Zivilrechts.

Der ursprüngliche konkrete Sinn der Formel „Treu und Glauben“, dass man ein gegebenes Wort halten müsse und ein Versprechen nicht enttäuschen dürfe („Vertragstreue“), spielt bei der heutigen Anwendung kaum mehr eine Rolle. Vielmehr meint der Verweis auf „Treu und Glauben“ die Pflicht der an einem Rechtsverhältnis Beteiligten, aufeinander zumutbare Rücksicht zu nehmen. Leitfigur ist der „redliche Partner“. Der sowohl in § 157 wie in § 242 enthaltene Bezug auf die Verkehrssitte bringt für die Beurteilung des geschuldeten Wohlverhaltens die sozialen Gepflogenheiten mit ins Spiel. Der Sinn des § 157 kann folglich so umschrieben werden: Bei Zweifeln über den Vertragsinhalt ist dasjenige als vereinbart anzusehen, was redliche Partner unter Beachtung der im Geschäftsverkehr erwarteten Rücksichtnahme als Vertragsinhalt gewollt hätten. Entsprechend kann § 242 ausgelegt werden: Ein Schuldner hat seine Leistung so zu bewirken, wie es der Gläubiger von einem redlichen Partner nach dem von diesem erweckten Vertrauen unter Berücksichtigung der im Verkehr üblichen Gepflogenheiten erwarten darf. Doch, wie gesagt: Die Bedeutung des § 242 geht über die spezielle Konstellation eines Schuldverhältnisses weit hinaus. Das Gebot, sich nach „Treu und Glauben“ zu verhalten, durchzieht die gesamte Rechtsordnung.

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Damit ist der Inhalt der Formel von „Treu und Glauben“ freilich noch nicht konkret umrissen. Denn für die eigentlich entscheidende und schwierige Abgrenzungsfrage, in welcher Art, in welchem Ausmaß und bis zu welcher Grenze man aufeinander Rücksicht zu nehmen hat, ist mit der „Redlichkeit“ kein aussagekräftiges Kriterium gewonnen. Denn nun fragt es sich, was „redlich“ sein soll. Da das bürgerliche Recht den Personen nicht die Pflicht auferlegt, sich nach der christlichen Hochethik selbst zu verleugnen und nach dem Prinzip der Nächstenliebe miteinander umzugehen, muss die gebotene Rücksichtnahme grob geschnitzt sein. Es geht um die Zumutungen, die man den Beteiligten an einem Rechtsverhältnis im Hinblick auf einen gerechten Interessenausgleich ansinnen kann. Es geht letztlich um den genauen Inhalt des Rechtsverhältnisses selbst.

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Da die Rechtsverhältnisse vielgestaltig sind, muss eine allgemeine Definition von Treu und Glauben vage bleiben. In Wirklichkeit bieten die §§ 157, 242 Ermächtigungen an die Rechtsprechung, gesetzliche und rechtsgeschäftliche Rechtsverhältnisse über das eindeutig Geregelte hinaus auszugestalten. Wie dies in unzähligen Fallgruppen konkretisiert wird, folgt aus den Fallstrukturen und den fallbezogenen Interessenwertungen. Infolgedessen kann der Inhalt des Begriffs „Treu und Glauben“ letztlich nur als ein Katalog von Interessenwertungen wiedergegeben werden, die Rspr und Wissenschaft bei Beurteilung einzelner Fallkonstellationen gefunden haben.

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