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5. Zur Struktur der Anspruchsnormen; Einwendungen und Einreden
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Für das Verständnis der richterlichen Tätigkeit im Erkenntnisverfahren ist es notwendig, die Struktur der Anspruchsnormen (= derjenigen Normen, aus denen sich ein Anspruch als Rechtsfolge ergibt) näher zu betrachten. Wie gezeigt, hat jede Subsumtion von einer Norm auszugehen, welche die begehrte Rechtsfolge auslöst. Wird ein Anspruch geltend gemacht, so hat man eine Norm aufzusuchen, welche einen Anspruch des begehrten Inhalts als Rechtsfolge vorsieht. Wie eingangs gezeigt, besteht die Anspruchsnorm aus zwei Teilen: dem Tatbestand als der abstrakten Umschreibung eines Geschehensprogramms und der daran geknüpften Rechtswirkung (Rechtsfolge). Die Tätigkeit der Subsumtion besteht darin, zu prüfen, ob im vorgetragenen Sachverhalt sich die abstrakten Geschehensmerkmale des Tatbestandes wieder finden (Rn 13 ff).
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Dabei ist es wichtig, den Tatbestandsteil der Norm genau zu lesen und aufzubereiten. Im einfachsten Falle besteht das Geschehensprogramm in einer Addition von Geschehensmerkmalen („und“).
Beispiel (§ 826):
Es müssen dann alle Tatbestandselemente erfüllt sein, um die Rechtsfolge auszulösen.
Es kann aber auch sein, dass zwei oder mehrere Tatbestandselemente in einem derartigen Verhältnis zueinander stehen, dass es genügt, wenn das eine oder das andere Element gegeben ist („oder“). Stehen zwei Elemente zur Wahl (a oder b), spricht man von Alternative. „Und“ – Verknüpfungen und „Oder“ – Verknüpfungen können kombiniert sein.
Beispiel (§ 825):
Der Tatbestand ist also erfüllt, wenn a + b + e oder a + c + e oder a + d + e vorliegen.
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Nicht selten sind Tatbestandselemente negativ mit den anderen verbunden. Als Beispiel diene die Anspruchsnorm des § 832. Dort geht es um die Schadensersatzpflicht eines Aufsichtspflichtigen, wenn die zu beaufsichtigende Person einem Dritten widerrechtlich einen Schaden zufügt. § 832 I 1 besagt, welche Tatbestandselemente erfüllt sein müssen, damit ein Anspruch gegeben ist (anspruchsbegründende Tatbestandselemente). Hingegen fügt § 832 I 2 an, unter welchen Voraussetzungen der Anspruch – selbst wenn die Voraussetzungen des § 832 I 1 gegeben sind – nicht entsteht (anspruchshindernde Tatbestandselemente).
Demzufolge ergibt sich folgende Tatbestandsstruktur des § 832 I:
Widerrechtliche Schadenszufügung (a) + durch eine Person, die wegen Minderjährigkeit etc der Beaufsichtigung bedarf (b) = Anspruch auf Schadensersatz gegen den Aufsichtspflichtigen. Auch wenn a und b gegeben sind, ergibt sich gleichwohl kein Anspruch, wenn der Aufsichtspflichtige seiner Aufsichtspflicht genügt hat (c) oder der Schaden auch bei gehöriger Aufsichtsführung entstanden sein würde (d).
Die Tatbestandselemente des § 832 I 2 sind also mit den Tatbestandselementen des § 832 I 1 durch ein „und nicht“ verbunden: Wenn a und b gegeben sind und nicht c oder d vorliegen, tritt die Rechtsfolge (Schadensersatzanspruch) ein.
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Die Frage ist, warum das Gesetz die negative Verknüpfung der Elemente c und d wählt. Ohne Schwierigkeit hätte man nämlich § 832 I auch wie folgt formulieren können:
„Wer kraft Gesetzes zur Führung der Aufsicht über eine Person verpflichtet ist, die wegen Minderjährigkeit etc der Beaufsichtigung bedarf, ist zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den diese Person einem Dritten widerrechtlich zufügt, vorausgesetzt, dass er seine Aufsichtspflicht verletzt hat und dass der Schaden bei gehöriger Aufsichtsführung ausgeblieben wäre.“
Wir hätten dann die Struktur: a + b + c + d = Anspruch. Warum hat man § 832 I nicht so formuliert?
Der Grund liegt nicht im Stilgefühl der Gesetzesverfasser. Vielmehr soll in der Formulierung der Tatbestandselemente als anspruchsbegründende und anspruchshindernde ein Regel-Ausnahme-Verhältnis ausgedrückt werden. Die anspruchsbegründenden Elemente besagen, unter welchen Voraussetzungen der Anspruch regelmäßig besteht; die anspruchshindernden Elemente besagen, unter welchen Voraussetzungen er ausnahmsweise nicht besteht.
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Für die Ermittlung des Sachverhalts, welchen das Gericht seinem Urteil zu Grunde legt, ist das von großer Bedeutung. Wir hatten gesehen, dass Beweis erhoben werden muss über alle Tatsachen, die bestritten und nach Überzeugung des Gerichts entscheidungserheblich sind. Das Beweisverfahren kann unterschiedlich enden: Entweder das Gericht hält die Tatsachenbehauptung für wahr; oder es hält sie für widerlegt; oder aber die Wahrheit der behaupteten Tatsache bleibt ungewiss. Im Falle, dass nach Überzeugung des Gerichts eine Tatsachenbehauptung weder bewiesen noch widerlegt wurde – also im Falle der Unklarheit – entsteht die Frage, wie das Gericht weiter verfahren soll. Man könnte daran denken, dass der Prozess so lange weitergeht, bis die Tatsache bewiesen oder widerlegt ist. Dann würden aber viele Prozesse überhaupt nicht enden, da viele Vorgänge nicht mehr aufgeklärt werden können. Also wird man Regeln brauchen, die besagen, welche Prozesspartei den Nachteil davon zu tragen hat, dass eine bestrittene entscheidungserhebliche Tatsache unklar geblieben ist (Verteilung der Beweislast). Im Strafprozess gilt der Grundsatz „in dubio pro reo“. Im Zivilprozess hingegen, der zwei gleichberechtigte Parteien kennt, muss eine differenzierte Regelung Platz greifen. Im Großen und Ganzen gilt der Grundsatz, dass der Kläger die Beweislast für die Tatsachen trägt, welche die anspruchsbegründenden Tatbestandselemente ausfüllen, während der Beklagte die Beweislast für diejenigen Tatsachen trägt, die anspruchshindernde Elemente ausfüllen.
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Fall 6:
Klage des X gegen die Eheleute Y.
Antrag des Klägers: Die Beklagten werden verurteilt, an den Kläger 50 € zu zahlen.
Klagevortrag: Die Kinder der Beklagten, der 6-jährige Max und der 8-jährige Moritz, spielten am 14.9. nachmittags Ball auf dem Gehsteig vor der Wohnung des Klägers. Der Ball zertrümmerte die Fensterscheibe des Wohnzimmers des Klägers. Der Einsatz einer neuen Fensterscheibe kostete 50 €
Antrag der Beklagten: Die Klage wird abgewiesen.
Vortrag der Beklagten: Die Kinder spielten am 14.9. wie immer auf dem umzäunten Grundstück, das den Beklagten gehört. Sie wurden dabei von den Beklagten regelmäßig beobachtet. Dass die Kinder an dem genannten Tage für kurze Augenblicke aus dem Grundstück heraustraten und auf dem Gehsteig spielten, war – da erstmalig – von den Beklagten nicht vorauszusehen und zu verhindern. Eine Pflicht, Kinder jede Sekunde im Auge zu haben, kann den Eltern nicht auferlegt werden.
Vortrag des Klägers: Es stimmt nicht, dass die Beklagten am 14.9. nachmittags die Kinder regelmäßig beobachtet haben. Vielmehr waren sie bei Freunden eingeladen und hatten die Kinder allein zu Hause zurückgelassen.
Angenommen, das Gericht ist der Auffassung, dass die Eltern für den Fall der Richtigkeit ihrer Behauptungen ihrer Aufsichtspflicht genügt hätten. Dann muss Beweis erhoben werden über die streitige und entscheidungserhebliche Behauptung, dass die Beklagten am 14.9. zu Hause waren und die Kinder beaufsichtigten. Wir wollen ferner annehmen, dass die Beweiserhebung hierüber kein klares Ergebnis erbringt. Ist der Klage stattzugeben?
Die Antwort ist der Beweislastregel zu entnehmen, welche in der Struktur der in Betracht kommenden Anspruchsnorm des § 832 I zum Ausdruck kommt. Sachlich gesehen macht § 832 I die Aufsichtspflichtverletzung zur Voraussetzung des Anspruchs. Es kommt nun darauf an, ob die Aufsichtspflichtverletzung als anspruchsbegründendes Tatbestandselement ausgestaltet ist – dann trägt die Beweislast hinsichtlich der diesbezüglichen Tatsachen der Kläger; oder ob die mangelnde Aufsichtspflichtverletzung als anspruchsverhinderndes Element ausgestaltet ist – dann trägt die Beweislast der Beklagte. Wie aus § 832 I 2 zu ersehen, hat das Gesetz den zweiten Weg beschritten.
Die Ungewissheit hinsichtlich ihrer Behauptung, sie seien am 14.9. zu Hause gewesen und hätten ihre Kinder beaufsichtigt, schlägt also zum Nachteil der Beklagten aus. Um zu obsiegen, hätten sie ihre Behauptung beweisen, dh das Gericht durch ihre Beweismittel überzeugen müssen. Da dies nicht geschehen ist, werden sie antragsgemäß verurteilt.
Sinn der gewählten Struktur des § 832 I ist es also, den Aufsichtspflichtigen die Beweislast für die Tatsachen aufzubürden, aus denen sich ergibt, dass sie ihre Aufsichtspflicht erfüllt haben.
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Die Ausgestaltung der Tatbestandselemente als anspruchsbegründende und anspruchshindernde hat nicht nur für die Beweislastverteilung Bedeutung, sondern zuvor schon für die Frage, welchen Tatsachenstoff die Parteien in den Prozess einführen müssen, um erfolgreich zu sein (Verteilung der Darlegungslast). Wenn auch der Richter nach § 139 I 2 ZPO darauf hinwirken soll, dass die Parteien ungenügende Angaben ergänzen, zwingen kann er sie dazu nicht. Es muss also geklärt werden, welche Partei den Nachteil trägt, wenn für ein entscheidungserhebliches Tatbestandselement keine Tatsachen vorgetragen werden. Dies richtet sich grundsätzlich nach den Regeln, die für die Verteilung der Beweislast maßgeblich sind. Der Kläger hat also Tatsachen vorzutragen, welche die anspruchsbegründenden Tatbestandselemente ausfüllen; tut er es nicht, so ist die Klage nicht schlüssig und wird abgewiesen. Dem Beklagten hingegen obliegt es, Tatsachen vorzutragen, welche anspruchshindernde Tatbestandselemente ausfüllen. Tut er es nicht, so kommt das betreffende Tatbestandselement nicht zum Zuge. Dabei ist freilich zu beachten, dass einer Partei eine Behauptungslast hinsichtlich solcher Tatsachen nicht mehr obliegt, die schon die andere in den Prozess eingeführt hat.
In Fall 6 ist der Kläger zunächst auf die mögliche Aufsichtspflichtverletzung der Beklagten nicht eingegangen und hat keine Tatsachen dafür vorgetragen. Er brauchte das auch gar nicht, weil die Verletzung der Aufsichtspflicht nicht als anspruchsbegründendes Tatbestandselement ausgestaltet ist. Es genügte also, dass er Tatsachen vortrug, welche die in § 832 I 1 genannten Elemente ausfüllen. Den Beklagten oblag es dann, die Tatsachen für die anspruchshindernden Elemente des § 832 I 2 vorzutragen.
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Anspruchshindernde Tatbestandselemente werden Einwendungen genannt (weil es dem in Anspruch Genommenen obliegt, die diesbezüglichen Tatsachen vorzutragen).
Davon hat man die Einreden (im Sinne des materiellen Zivilrechts) zu unterscheiden. Gleich den Einwendungen beschreiben sie Voraussetzungen, unter denen einem Anspruch etwas im Wege steht. Im Gegensatz zu den Einwendungen aber beseitigen die Einreden den Anspruch nicht in seinem Bestande; sie geben vielmehr dem Anspruchsgegner das Recht, die Leistung zu verweigern.
ZB Einrede der Verjährung, § 214 I. Nach § 194 I unterliegen die Ansprüche der Verjährung nach unterschiedlich bestimmten Fristen. Nach Ablauf der Verjährungsfrist besteht der Anspruch nach wie vor; er kann auch noch erfüllt werden; der Schuldner hat aber das Recht, die Leistung zu verweigern.
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Das Leistungsverweigerungsrecht wird bei Gericht nur dann berücksichtigt, wenn sich der in Anspruch Genommene darauf beruft, dh wenn er dem Gericht erklärt, dass er die Leistung verweigere oder schon früher dem Gläubiger gegenüber verweigert habe. Bei der Einrede muss der Schuldner also – anders als bei Einwendungen – mehr tun, als Tatsachen vortragen; er muss seine Leistungsverweigerung erklären. Die Leistungsverweigerungsrechte haben unterschiedliche Tragweite. Sie berechtigen entweder dazu, die Leistung vorübergehend zu verweigern (dilatorische Einreden, zB § 273), oder sie berechtigen zur Leistungsverweigerung für immer (peremtorische Einreden, zB § 214 I).
Die Unterscheidung zwischen Einwendungen und Einreden macht nicht nur wegen der sprachlichen Ähnlichkeit Schwierigkeiten, sondern auch, weil das Gesetz zum Teil einen anderen Gebrauch von den Begriffen macht. So ist in §§ 334 und 404 von Einwendungen die Rede; man ist sich jedoch darüber im Klaren, dass damit auch die Einreden gemeint sind.
Zur Einrede: H. Roth, Die Einrede des Bürgerlichen Rechts, 1988; P. Gröschler, Zur Wirkungsweise und zur Frage der Geltendmachung von Einrede und Einwendung im materiellen Zivilrecht, AcP 201, 48; J. Petersen, Einwendungen und Einreden, Jura 2008, 422; B. Ulrici/A. Purrmann, Einwendungen und Einreden, JuS 2011, 104; Chr. Thomale, Die Einrede als materielles Gestaltungsrecht, AcP 212, 920; M. Heckel, Anspruch und Einrede im „neuen“ Leistungsstörungsrecht, JZ 2012, 1094.