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b) Der Zivilprozess

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Wer einen Anspruch gegen einen anderen zu haben glaubt, den dieser nicht freiwillig erfüllen will, muss in aller Regel die Gerichte bemühen. Das klassische Verfahren für die Verfolgung privatrechtlicher Ansprüche bietet der in der ZPO geregelte Zivilprozess. Zum Verständnis des Zivilrechts ist es wichtig, sich einen Begriff von seinem Ablauf zu machen.

Typisch für das deutsche Rechtssystem ist die gedankliche Trennung des Anspruchs, den eine Person gegen eine andere zu haben glaubt, von der gerichtlichen Verfolgung und Durchsetzung. Auf dieser Trennung beruht die Einteilung in materielles Recht und Prozessrecht. Die Feststellungen, ob ein Anspruch besteht (materielles Zivilrecht) und ob bzw wie der Anspruch gerichtlich geltend gemacht und hoheitlich durchgesetzt werden kann (Zivilprozessrecht), bilden demnach zwei verschiedene und selbstständige Beurteilungsvorgänge. Man kann die Trennung des für den Rechtsbetroffenen letztlich Zusammengehörigen bedauern; sie ist aber wichtig. Das römische Recht verquickte den Anspruch und das Recht, den Anspruch klageweise vor Gericht geltend zu machen, im Begriff der actio (Aktionensystem). Nach unserem Rechtsschutzsystem verleiht hingegen nicht erst der materiellrechtliche Anspruch die Befugnis, vor Gericht zu klagen. Vielmehr kann jeder gegen jeden einen Anspruch, den er zu haben glaubt, einklagen. Ob der Anspruch wirklich besteht, wird dann das Gericht in seinem Urteil feststellen. Das Recht, bei Gericht zu klagen, besteht grundsätzlich unabhängig davon, ob die Klage auch sachlich begründet ist.

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Das Verfahren gliedert sich in zwei Vorgänge:

(a) das Erkenntnisverfahren, in dem vom Gericht geprüft wird, ob die begehrte Rechtsfolge besteht;

(b) das Vollstreckungsverfahren, in dem ein zu Gunsten des Klägers ergangenes Urteil, wenn nötig, hoheitlich gegen den Verurteilten vollstreckt wird.

Wir wollen uns ein Bild vom Erkenntnisverfahren anhand eines einfachen Beispiels machen:

Fall 5:

K klagt bei Gericht gegen B.

Klagantrag: Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 500 € zu zahlen. Dazu trägt K folgenden Sachverhalt vor: Der Beklagte suchte den Kläger am 15. Mai in dessen Wohnung mit der Bitte auf, ihm bis zum 1. Juni einen Betrag von 500 € zinslos zu überlassen. Der Kläger erfüllte dieses Ansinnen und übergab dem Beklagten an Ort und Stelle 500 €.

Antrag des Beklagten: Die Klage wird abgewiesen. Dazu trägt der Beklagte vor: Der Beklagte zahlte das Geld am 3. Juni an den Kläger zurück.

Das Gericht hat zuerst zu prüfen, ob die im Interesse eines zweckmäßigen und rechtsstaatlichen Verfahrens durch das Prozessrecht vorgeschriebenen Regeln eingehalten sind (Prüfung der Zulässigkeit der Klage); zB ob die Klage in der richtigen Form und vor dem zuständigen Gericht erhoben wurde. Ist das nicht der Fall, so lässt es sich auf „die Sache selbst“ gar nicht ein; vielmehr wird es die Klage als unzulässig abweisen (Besonderheiten in § 281 I ZPO).

Sind die prozessualen Regeln hingegen eingehalten, dann entscheidet das Gericht in der Streitsache selbst (Prüfung der Begründetheit der Klage).

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Der Prozess kann also, wenn er durch gerichtliche Entscheidung beendet wird, hauptsächlich wie folgt ausgehen:

entweder wird die Klage als unzulässig abgewiesen;
oder der zulässigen Klage wird stattgegeben, der Beklagte antragsgemäß verurteilt;
oder die Klage wird als unbegründet abgewiesen.

Möglich ist auch, dass eine Klage teilweise unzulässig ist und demzufolge teilweise als unzulässig zurückgewiesen wird. Ferner kann eine Klage zum Teil begründet sein.

Das Gesetz zur Reform des Zivilprozesses vom 2.8.2001 (BGBl. I 1887), in Kraft seit 1.1.2002, zielt unter anderem darauf ab, dass möglichst viele Verfahren frühzeitig durch eine gütliche Beilegung unter den Parteien ihre Erledigung finden. Das Gericht soll in jeder Lage des Verfahrens auf eine gütliche Beilegung des Rechtsstreits oder einzelner Streitpunkte bedacht sein (§ 278 I ZPO). Deshalb soll der mündlichen Verhandlung obligatorisch eine Güteverhandlung vorausgehen, außer wenn bereits ein Einigungsversuch vor einer außergerichtlichen Gütestelle stattgefunden hat oder die Güteverhandlung erkennbar aussichtslos erscheint (§ 278 II 1 ZPO).

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Wir wollen in Fall 5 annehmen, dass die Klage des K zulässig ist und die anberaumte Güteverhandlung erfolglos blieb. Nun muss sich das Gericht auf die Streitsache einlassen. Für die Tätigkeit des Zivilgerichts sind vor allem drei Regeln wesentlich.

(1) Die Prozessparteien sind „Herr“ über das Verfahren, insofern sie entscheiden, ob und worüber ein Prozess stattfindet (Dispositionsmaxime). Dieser Grundsatz wirkt sich ua dahingehend aus, dass ohne die Klage einer Partei kein Verfahren zustande kommt und dass das Gericht in der Sache über nicht mehr entscheiden darf, als die Parteien beantragt haben (vgl § 308 I ZPO). Der Kläger kann ferner den Prozess mit Zustimmung des Beklagten, zT auch ohne sie (s. § 269 I ZPO) wieder beenden. Ebenso können die Parteien den Rechtsstreit beenden, indem sie einen gerichtlichen Vergleich schließen (vgl § 794 I 1 Nr. 1 ZPO). Der Beklagte kann den geltend gemachten Anspruch anerkennen und ist dann gemäß seinem Anerkenntnis zu verurteilen, ohne dass das Gericht die materielle Rechtslage noch überprüfen dürfte (§ 307 ZPO).

Den Gegensatz zur Dispositionsmaxime bildet die Offizialmaxime. Nach dieser liegt die Herrschaft über das Ob und den Gegenstand des Verfahrens grundsätzlich beim Gericht oder einer Behörde.

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(2) Den Prozessparteien obliegt es grundsätzlich, die Tatsachen, die sie für entscheidungserheblich halten, in den Prozess einzuführen und – sofern entscheidungserheblich und bestritten – zu beweisen (Verhandlungsgrundsatz). Das Gericht untersucht im Prinzip nicht von sich aus, welche Geschehnisse sich zwischen den Parteien abgespielt haben; es erhebt auch nicht von sich aus Beweis. Vielmehr werden vom Gericht grundsätzlich nur solche Tatsachen berücksichtigt, die durch Tatsachenbehauptungen der Parteien eingeführt sind. Ob über eine Tatsache, die das Gericht für entscheidungserheblich hält, Beweis erhoben werden muss, richtet sich nach dem Verhalten der Parteien, nämlich danach, ob die Tatsache unter ihnen streitig ist oder nicht. Ist über die Tatsache – weil sie entscheidungserheblich und bestritten ist – Beweis zu erheben, so obliegt es den Parteien, die Beweise zu liefern. Freilich gilt der Verhandlungsgrundsatz nur mit Einschränkungen. Die Parteien sind verpflichtet, ihre Erklärungen über tatsächliche Umstände vollständig und der Wahrheit gemäß abzugeben (§ 138 I ZPO). Dem Gericht obliegt die Prozessleitung auch in sachlicher Hinsicht, um ein faires Verfahren und die „Waffengleichheit“ unter den Parteien zu gewährleisten. Das Gericht hat das Sach- und Streitverhältnis, soweit erforderlich, mit den Parteien nach der tatsächlichen und rechtlichen Seite zu erörtern und Fragen zu stellen (§ 139 I 1 ZPO); es hat auch dahin zu wirken, dass die Parteien sich rechtzeitig und vollständig über alle erheblichen Tatsachen erklären, insbesondere ungenügende Angaben zu den geltend gemachten Tatsachen ergänzen, die Beweismittel bezeichnen und die sachdienlichen Anträge stellen (§ 139 I 2, siehe ferner § 139 II-V, § 273 II ZPO).

Den Gegensatz zum Verhandlungsgrundsatz bildet der Untersuchungsgrundsatz, der nur für einige besondere Verfahren des Zivilprozesses gilt.

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(3) Hingegen wird von den Parteien nicht verlangt, dass sie dem Gericht die Rechtsregeln präsentieren, nach denen das Gericht entscheiden soll. Es gilt der Grundsatz: iura novit curia, das Recht kennt das Gericht selbst. Die Parteien brauchen also keine rechtlichen Ausführungen zu machen. Es genügt, wenn sie einen Antrag (Klage) stellen, der ihr Begehren festlegt, und die Tatsachen vortragen, aus denen sich die Begründetheit dieses Begehrens ergeben soll.

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Wie nach den genannten Grundsätzen ein Prozess verlaufen kann, sei an Fall 5 erläutert. K hat Klage gegen B erhoben. Er macht einen Anspruch geltend; die dafür geeignete Klageart ist die Leistungsklage, die darauf abzielt, den Beklagten zu einem bestimmten Verhalten zu verurteilen. Die Klage hat zwei Teile: den Klagantrag, mit dem eine Rechtsfolge begehrt wird, und einen Tatsachenvortrag (Schilderung eines Sachverhalts), aus dem sich die begehrte Rechtsfolge ergeben soll. Der Tatsachenvortrag des Klägers ist Voraussetzung jeglicher Erfolgsaussichten. Denn das Gericht prüft zunächst im Wege der Subsumtion, ob sich aus dem vom Kläger vorgetragenen Sachverhalt – die Wahrheit seiner Behauptungen unterstellt – die begehrte Rechtsfolge ergibt (Prüfung der Schlüssigkeit der Klage). Trägt der Kläger trotz § 139 I ZPO keine ausreichenden Tatsachen vor, so steht fest, dass die Klage abgewiesen werden muss.

Für Fall 5 ergibt sich: Der Anspruch auf Zahlung von 500 € ist, wenn der vom Kläger vorgetragene Sachverhalt zutrifft, aus 488 I 2 gegeben. In der Absprache der Parteien vom 15. Mai ist ein Darlehensvertrag zu erblicken, der den Kläger verpflichtete, dem Beklagten einen Betrag von 500 € darlehensweise zur Verfügung zu stellen (§ 488 I 1). Vertragsgemäß ist der Beklagte nach Empfang der 500 € verpflichtet, am Fälligkeitstermin (1. Juni) die Summe von 500 € an den Kläger zurückzuzahlen (§ 488 I 2). Der Rückzahlungsanspruch ist auch fällig.

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Ist – wie in unserem Fall – die Klage schlüssig, so kommt es für den weiteren Verlauf des Prozesses darauf an, wie sich der Beklagte verhält. Hält er die Klage für ungerechtfertigt, so wird er die Abweisung der Klage beantragen. Um dieses Ziel erreichen zu können, ist er genötigt, sich auf die Tatsachen einzulassen, indem er

den vom Kläger vorgetragenen Sachverhalt ganz oder zum Teil bestreitet (zB: „Es stimmt nicht, dass der Kläger mir 500 € gegeben hat“)
oder weitere Tatsachen vorträgt, welche – die Wahrheit unterstellt – den Anspruch des Klägers ausschließen.

In Fall 5 hat der Beklagte zwar den vom Kläger vorgetragenen Sachverhalt nicht bestritten, hat aber Tatsachen hinzugefügt, die – ihre Wahrheit unterstellt – die Klage unbegründet machen würden. Der Beklagte hat nämlich Tatsachen vorgetragen, aus denen sich – ihre Wahrheit unterstellt – ergibt, dass der Darlehensrückzahlungsanspruch des Klägers gemäß § 362 I BGB durch Erfüllung erloschen ist.

Nunmehr kommt es wiederum darauf an, wie sich der Kläger zu den Tatsachenbehauptungen des Beklagten stellt. Das Wechselspiel der Tatsachenbehauptungen kann lange hin und her gehen.

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Dabei ist zu beachten: Eine Tatsache, die eine Partei behauptet, ist vom Gericht als wahr zu betrachten, wenn die andere Partei die Tatsache zugesteht (§ 288 I ZPO); dabei gilt eine Tatsache schon dann als zugestanden, wenn sie nicht ausdrücklich bestritten wird (§ 138 III ZPO). Jeder Partei wird also auferlegt, sich zu den Tatsachenbehauptungen der anderen Seite zu äußern (§ 138 II ZPO); tut sie es nicht, trägt sie den Nachteil. Zu einem Beweisverfahren kommt es erst, wenn eine Tatsache nach Auffassung des Gerichts entscheidungserheblich und bestritten ist. Soweit der Sachverhalt unbestritten ist, wird er vom Gericht als wahr angenommen. Eine solche Art der Wahrheitsfindung rechtfertigt sich in dem Vertrauen darauf, dass eine Partei unrichtige Tatsachenbehauptungen des Gegners, die für sie ungünstig sind, ohnehin bestreiten wird.

Angenommen, in Fall 5 bestreitet der Kläger die Behauptungen des Beklagten, das Darlehen sei bereits zurückgezahlt. Dann muss über diese Tatsache Beweis (durch Zeugen, Urkunden etc) erhoben werden. Der Ausgang des Prozesses hängt dann davon ab, ob die genannte Tatsache bewiesen werden kann oder nicht.

Das Verfahren endet gewöhnlich mit dem Urteil des Gerichts. Dringt K mit seiner Klage durch, so lautet der Urteilstenor: „Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 500 € zu zahlen.“ Unterliegt K, so lautet er: „Die Klage wird abgewiesen.“

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