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b) Der Rechtsmissbrauch insbesondere

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Die Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben kommt hauptsächlich in zwei Situationen in Betracht.

(a) Häufig legt das Gesetz oder ein Rechtsgeschäft nur die hauptsächlichen Rechte und Pflichten der Beteiligten fest, während andere Punkte oder Regelungsdetails unerwähnt bleiben. Dann kann es geboten sein, den Inhalt des Vertrages nach Treu und Glauben zu ergänzen. Im Konfliktfall obliegt diese ergänzende Auslegung dem mit dem Fall befassten Gericht.

(b) Eine durch Gesetz bzw Rechtsgeschäft getroffene Regelung kann sich im Konfliktfall als unpassend erweisen, weil sie unter Berücksichtigung der beiderseitigen Interessen ganz oder teilweise ihren Sinn verfehlt. In solchen Fällen kann das angerufene Gericht unter Berufung auf Treu und Glauben eine Umgestaltung des Rechtsverhältnisses entgegen dem Wortlaut des Gesetzes oder der rechtsgeschäftlichen Erklärungen vornehmen.

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Der zuletzt genannte Anwendungsbereich ist für das Problem der Schranken subjektiver Rechte einschlägig. Aus § 242 hat man den Grundsatz entwickelt, dass der missbräuchlichen Ausübung eines Rechts die Einwendung der unzulässigen Rechtsausübung entgegensteht. Im Anschluss an das römische Recht ist auch von der Einrede der Arglist (exceptio doli) die Rede. Die Fälle des Rechtsmissbrauchs setzen voraus, dass die „formale“ Rechtstellung weiter reicht, als es zum Schutz der geschützten Interessen angemessen ist. Eine solche Konstellation ist nicht typisch, weil im subjektiven Recht ja gerade eine verbindliche Interessenwertung steckt. Das Defizit menschlicher Erkenntnis- und Gestaltungskraft und die Unübersichtlichkeit der Konfliktlagen lassen aber immer wieder die Situation entstehen, dass jemandem ein Mehr an Bestimmungsbefugnissen eingeräumt wird, als dem Regelungszweck entspricht. Der Einwand unzulässiger Rechtsausübung bildet dann das elastische Mittel, die Rechtsausübung von Fall zu Fall in den Grenzen des Regelungszwecks zu halten.

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So nimmt man zB Rechtsmissbrauch an, wenn jemand auf Grund bestehenden Anspruchs eine Leistung fordert, die er aus anderem Rechtsgrund sogleich wieder zurückgeben müsste („arglistig handelt, wer fordert, was er zurückgewähren muss“, BGHZ 38, 122, 126). Obwohl der Anspruch besteht, entfällt das Interesse des Gläubigers an der Leistung infolge der Pflicht, sie sofort zurückzugeben. Ähnlich ist die Lage, wenn mit der Geltendmachung eines Rechts nicht diejenigen Interessen verfolgt werden, die es schützen soll, sondern völlig andere Zwecke. „Als unzulässige Rechtsausübung oder Rechtsmissbrauch muss es [...] angesehen werden, wenn eine gesetzliche Vorschrift außerhalb ihres ursprünglichen Zusammenhangs in einer zweckfremden Weise und mit zweckfremdem Ziel verwandt wird [...]. Unzulässige Rechtsausübung oder Rechtsmissbrauch ist demnach auch die Ausnutzung formeller Möglichkeiten der Gesetze entgegen ihrem unzweideutigen Rechtsgedanken“ (BGHZ 3, 94, 103). So etwa, wenn bei einem Vertrag der eine Teil eine relativ geringfügige Vertragswidrigkeit seines Partners zum Anlass nimmt, sich gemäß den vertraglichen Bestimmungen von dem ohnehin als lästig empfundenen Vertrag zu lösen (BGH NJW 1958, 1284; BGH BB 1957, 92).

Aus § 242 wird auch hergeleitet, dass der Partner eines Dauerschuldverhältnisses (zB Mietvertrags), der dem anderen Teil wegen Vertragsverletzung fristlos kündigen will, diesen zunächst erfolglos abgemahnt haben muss: Dem anderen Teil soll eine letzte Gelegenheit eingeräumt werden, sich vertragsgemäß zu verhalten, bevor das scharfe Schwert der außerordentlichen Kündigung gegen ihn zum Einsatz kommt (anders, wenn nach den Umständen die Abmahnung von vornherein aussichtslos erscheint oder wenn durch die Vertragsverletzung das Vertrauensverhältnis unter den Parteien erschüttert ist, BGH NJW-RR 2004, 873, 874).

Literatur zum Prinzip von Treu und Glauben:

E. Betti, Der Grundsatz von Treu und Glauben in rechtsgeschichtlicher und -vergleichender Betrachtung, Festgabe R. Müller-Erzbach, 1954, 7; H. Eichler, Die Rechtslehre vom Vertrauen, 1950; F. Wieacker, Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242, 1956; H.-W. Strätz, Treu und Glauben, Bd. 1: Beiträge und Materialien zur Entwicklung von „Treu und Glauben“ in deutschen Privatrechtsquellen vom 13. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, 1974; R. Weber, Entwicklung und Ausdehnung von § 242 BGB zum „königlichen Paragraphen“ JuS 1992, 631.

Zum Rechtsmissbrauch, s. unzulässige Rechtsausübung (Rn 257), zudem H. Merz, Vom Schikaneverbot zum Rechtsmissbrauch, Zeitschrift für Rechtsvergleichung 1977, 162; Armbrüster, Treuwidrigkeit der Berufung auf Formmängel, NJW 2007, 3317; J. Petersen, Die Grenzen zulässiger Rechtsausübung, Jura 2008, 759.

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