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3. Das Kind im Mutterleib
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Nach § 1 BGB beginnt die Rechtsfähigkeit erst mit Vollendung der Geburt. Das Kind im Mutterleib (nasciturus) wird also noch nicht als rechtsfähig angesehen. Das wirkt auf den ersten Blick befremdlich und scheint im Widerspruch zur Aussage des BVerfG zu stehen, wonach auch dem ungeborenen menschlichen Leben Menschenwürde und ein eigenes Lebensrecht zukommt (BVerfGE 88, 203). Doch will die zivilrechtliche Bestimmung der Rechtsfähigkeit keine Aussage über den Schutz und die Schutzwürdigkeit des Kindes im Mutterleib treffen. Entscheidend für die Regelung des § 1 ist die Vorstellung, dass das ungeborene Kind durch seine körperliche Verbindung mit der Mutter noch nicht als völlig selbständiges Leben entstanden ist und daher noch nicht als gesondertes Rechtssubjekt am Rechtsverkehr teilnehmen soll. Das Kind im Mutterleib kann zB nicht schon Eigentümer eines Grundstücks sein oder als Partner eines Vertrages oder einer Gesellschaft zu Pflichten herangezogen werden; es kann noch nicht als Kläger oder Beklagter vor Gericht stehen (vgl BVerwG NJW 1992, 1524).
§ 1 BGB steht daher nicht im Widerspruch zu dem strafrechtlichen Schutz des ungeborenen Lebens nach §§ 218–219 StGB. In der zivilrechtlichen Lit. wird vereinzelt die Rechtsfähigkeit schon der Leibesfrucht angenommen. Auch wird die Auffassung vertreten, der nasciturus stehe bereits unter dem elterlichen Sorgerecht, mit der Folge, dass auch der Vater beim Schwangerschaftsabbruch mitzubestimmen habe (M. v. Kaler, Die Rechtsstellung des Vaters zu seinem ungeborenen Kind unter Geltung der Fristenregelung, 1997; vgl auch Mittenzwei, AcP 187, 280).
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Einige Sonderregelungen wahren die Interessen des noch ungeborenen Kindes für den Fall, dass es später lebend geboren wird. Eine Bestimmung dieser Art bietet § 1923 II BGB.
Fall 3:
Der Bauunternehmer S verstirbt. Er hinterlässt zwei Söhne und seine Ehefrau, die kurz vor der Geburt ihres dritten Kindes steht. Nach dem Tod ihres Mannes bringt Frau S eine Tochter zur Welt. Da S keine letztwillige Verfügung getroffen hat, wird er von der Ehefrau und den Abkömmlingen kraft Gesetzes zu bestimmten Bruchteilen beerbt (gesetzliche Erbfolge, §§ 1924, 1931, 1371 I). Ist auch die Tochter Erbin geworden?
Nach § 1923 I kann Erbe nur werden, wer zur Zeit des Erbfalles „lebt“. Bei Tod ihres Vaters lebte die Tochter zwar bereits als nascitura, doch sie war in diesem Zeitpunkt noch nicht rechtsfähig (§ 1), konnte daher an sich auch nicht erben. Denn wer im Zeitpunkt des Erbfalls nicht als Rechtssubjekt vorhanden ist, kann auch nicht in die Rechtsposition des Verstorbenen einrücken (§ 1923 I). Doch greift hier § 1923 II zu Gunsten des nasciturus ein: Wer zur Zeit der Erbfalls bereits gezeugt war, gilt als vor dem Erbfall geboren, wird also erbrechtlich so behandelt, als sei er im Zeitpunkt des Erbfalls bereits rechtsfähig gewesen. Voraussetzung ist allerdings, dass das Kind nach dem Erbfall lebend geboren wird; kommt es zu keiner Lebendgeburt, so ist § 1923 II nicht anzuwenden.
In unserem Fall ist die Tochter Miterbin zusammen mit ihrer Mutter und ihren Brüdern geworden.
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Ähnliche Regelungen finden sich auch in anderen Vorschriften des BGB, zB in § 844 II 2. Hierher gehört auch § 1912: Soweit es zur Wahrung der künftigen Rechte einer Leibesfrucht erforderlich erscheint, kann das Familiengericht (§ 151 Nr 5 FamFG) bereits eine Fürsorgeperson bestellen, die zur Wahrung dieser künftigen Rechte des Kindes (etwa erbrechtlicher Ansprüche) bereits jetzt die nötigen Maßnahmen ergreift (Pfleger für die Leibesfrucht).
Gelegentlich wird im Hinblick auf diese Regelungen von einer „beschränkten Rechtsfähigkeit“ oder „Teilrechtsfähigkeit“ des nasciturus gesprochen. Das ist missverständlich: Die genannten Vorschriften wahren die Interessen des Kindes, das geboren ist. Wird es nicht lebendig geboren, so erlangt es zu keinem Zeitpunkt irgendeinen Grad von Rechtsfähigkeit. So formuliert das schweiz. ZGB (§ 31 II) zutreffend: „Vor der Geburt ist das Kind unter dem Vorbehalt rechtsfähig, dass es lebendig geboren wird.“
Zur Rechtlage des nasciturus: S. Hähnchen, Jura 2008, 161: Th. Löneke, ZEuP 2010, 664; M. Roller, Die Rechtsfähigkeit des Nasciturus, 2013.
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Schutzvorkehrungen für die Interessen eines Kindes können sogar schon in einem Zeitpunkt getroffen werden, in dem es noch nicht gezeugt ist. So kann jemand zB seine noch gar nicht gezeugten Enkel durch Testament zu Erben einsetzen; freilich müssen diese Enkel um Erbe werden zu können, die Voraussetzungen des § 1923 im Zeitpunkt des Erbfalls erfüllen (vgl § 2101 I, siehe ferner §§ 2162 II, 2178, 1913 S. 2).
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Um Vorwirkungen der Rechte des geborenen Kindes geht es auch im Schadensersatzrecht. Es kommt vor, dass die gesundheitliche Schädigung einer Frau zugleich zu Schädigungen eines später geborenen Kindes führt (zB: Luesinfektion einer schwangeren Frau durch Blutübertragung). Zu Recht erkennen die Gerichte an, dass ein Schadensersatzanspruch des Kindes gegen den verantwortlichen Schädiger nicht daran scheitert, dass es zur Zeit der Verletzungshandlung noch nicht als rechtsfähige Person vorhanden war. Denn jedenfalls ist der Verletzungserfolg an einem lebenden Menschen eingetreten. Gleiches gilt, wenn das Kind zur Zeit der Verletzungshandlung noch gar nicht gezeugt war (zB bei einer medizinischen Behandlung erleidet eine Frau Strahlenschäden, die Ursache dafür sind, dass sie bei einer späteren Schwangerschaft ein behindertes Kind zur Welt bringt). Auch diese Rechtsprechung bedeutet keine Anerkennung einer „beschränkten Rechtsfähigkeit“ des nicht geborenen oder noch nicht gezeugten Kindes, sondern schützt das Recht des geborenen Kindes auf körperliche Unversehrtheit (zur Problematik BGHZ 8, 243; 93, 351; BGH NJW 1989, 1538).
In diesem Zusammenhang ergeben sich außerordentlich umstrittene Fragen nach Schadensersatzansprüchen eines behindert geborenen Kindes, das ohne ein von einer anderen Person zu verantwortendes Tun voraussichtlich überhaupt nicht gezeugt worden wäre (zB unterlassene Aufklärung der Eltern durch den Arzt über vorgeburtliche Schäden, wenn anzunehmen ist, dass bei hinreichender Information ein Schwangerschaftsabbruch erfolgt wäre), dazu BGHZ 129, 178; 151, 133; BGH NJW 2006, 1660; BVerfGE 96, 375; E. Picker, Schadensersatz für das unerwünschte eigene Leben, „Wrongful Life“, 1995; J. Mörsdorf-Schulte, Geburt eines behinderten Kindes als Schaden, ZEuP 2010, 251.