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Zwischenzeit

Mittendrin nahmen sie die Zwischenzeit. Wieder mal Letzter. Meine Haare zogen sich in meinen Kopf zurück. Mein Kopf sank durch den Hals in den Körper. Die Füße zogen sich von unten her ein. Der linke Arm von der Seite. Der Rumpf krempelte sich von unten her auf und verschwand in meinem rechten Arm. Der Arm zergrisselte, bis nur noch die Hand übrigblieb, die Finger lösten sich auf, alle, bis auf zwei, den Zeigefinger und den Mittelfinger, und die scrollten und klickten, und scrollten und klickten und scrollten und klickten. Ich zog in diese beiden Finger, und dann heiratete ich meine Maus. Die Maus fuhr mit ihrer Zunge durch das Labyrinth meiner Fingerabdrücke und fand auch nicht mehr raus. Wir reagierten gemeinsam auf Reize. Blinken. Pfeile. Richtige Platzierungen. Wo wir hinkamen, wartete das Glück. Wo wir gingen, verließen wir im Pech. Die Zwischenzeit zog sich. Summierte sich auf. Der Berg implodierte. Sehr viel Schwärze. Ich habe Ruße getan. Schwarzer Schnee. Zurück in der Sonne begann ich von Neuem. Bewährte Helfer. Glieder. Rumpf. Kopf. Nur die Haare. Die Haare blieben unter der Kopfhaut und stachen weiter ins Hirn. Sie schlugen tiefe Wurzeln, verästelten sich, saugten Nährstoffe und Wasser aus genau der Gegend, in der das Gehirn sonst Glück erzeugt. Es waren verdorrte Jahre. Aber dann kamen ja auch wieder blühende. Man kann es sich nicht aussuchen. Ihr wisst ja, wovon ich rede. Klimawandel und Rechtsrutsch. Diabetes und Gebärmutterkrebs. Als neulich das Inn-Hochwasser hier durchwütete. Der dauernde Fön. Es ist halt wie es ist. Oder man macht sich auf den Weg. Vorwärts, vorwärts. Weiter, immer weiter. Eine Schlange, ein Apfel, ein Mord. Raus aus der Hölle, rein ins Paradies. Dann kommst du zurück und stehst vor deinesgleichen, du starrst euch an, ihr starrt dich an, hochkomplexe Zusammenhänge, Paradoxien, Parodien, meine Paradedisziplin.

Hundert Jahre Siddhartha, das war der Marketing-Gag. 1922 war das Buch erschienen. Lange Zeit. Die zweiten 20er Jahre. Ich musste nicht nur seine Hauptfigur, sondern auch Hesse komplett neu erfinden. Ich musste selbst Siddhartha und Hermann werden. Das waren halt Midlife-Crisis-Bücher damals. Unsere Gesellschaft ist aber nicht mehr in der Midlife-Crisis, es gibt keine Übergänge mehr, keine Linien, nur Punkte, keine Schwellen, nur noch den Moment, das Ereignis, deine famous five minutes. Solche Helden, solche Schriftsteller wie damals gibt es nicht mehr, nicht die Verleger, nicht die Buchhandlungen, nicht die Leser. Die Boheme schon. Die Cafes waren immer voll. In Buenos Aires, Rom, im Quartier Latin. Und die Frauen in den Zwanzigern! Die Lebenshungrigen unter den jungen Frauen waren nach dem 1. Weltkrieg schön wie nie zuvor. Hungrig, selbstbewusst und lustvoll. Flapper. Voller Ekel vor den zum Krüppel zerbombten Psychowracks, die aus den Schützengräben heimkamen. München in einem sonnigen Frühjahr. Der Starnberger See. Wir gingen weiter zum Hofgarten, tranken Kaffee, redeten eine Stunde. Die Tür geht auf, zwei dieser neuen Wunderwesen in hochgeschlossenen Baumwoll-Kleidern setzten sich braungebrannt an meinen Tisch, und ohne die Hornbrillen abzulegen knutschen sie erstmal unter ihren Cloches, bis der verwirrte Kellner aus der alten Zeit die bestellten Sours bringt. Sie lachen laut. Sie rauchen laut. Jazz. So ist es heute immer noch, in Berlin zumindest, helle Acetatbrillen, Gin, Minimalist Tattoos. Sensationelle Frauen, voller Ekel vor den Psychowracks aus den Kriegen zwischen den Konzernen und den Startups und den Beratungen und den Behörden und den Redaktionen und den fundraisenden NGOs, vor den Amputationen auf Twitter, dem Wundbrand auf Facebook. Faszinierende Frauen, voller Heilkunst und Power. Dieser Wille zur Nacht. Ohne Interesse an mir.

Wir bewegen uns in Blasen durch die Welt. Riesige, zwei bis drei Meter im Durchmesser große Seifenblasen. So sehe ich die Menschen. Wichtig ist, dass es hermetisch abgeschlossene Blasen sind, jeder ist für sich allein. Ich sehe, wie sie sich darin fortbewegen, ganz spielerisch, es hat nichts von der mühsamen Hektik eines Hamsterrades, eher etwas von der Eleganz eines Rhönrads oder Cyr Wheel. Nur manchmal durchdringt etwas die schimmernde Oberfläche dieser Riesenkugeln. Eine E-Mail zischt hinein, eine WhatsApp, eine Hand greift heraus, ein Hallo. Zwei der Kreise schieben sich für eine Nacht ineinander, um sich am Morgen wieder auseinanderzuschieben und ihre eigenen Wege zu gehen. So geht das ein Leben lang. Ein paar Reste bleiben von jeder Begegnung zurück und sorgen für den ganz individuellen, öligen Glanz, dem einzigartigen Regenbogen, in dem jede Seifenblase durch den Stadtfrühling rollt, so individuell wie jede Schneeflocke, jeder Regentropfen, jedes Sandkorn.

Siddhartha auf Tour

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