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Ruha 4

Mein letztes Jahr war etwas chaotisch. Selbst für meine Verhältnisse. Ich hatte einen mexikanischen Geschäftsmann aus Philadelphia kennengelernt, er war auf einer Europatournee, um bei Regierungen für sein Geschäftsmodell zu werben. Eine innovative Software für kommunale Energieunternehmen, die allerdings aufgrund der veralteten Gesetze nicht eingesetzt werden durfte, obwohl sich dadurch eine Menge Geld und Ressourcen und Energieverbrauch hätte sparen lassen. Hart getaktet sprach er fast jeden Tag in einer anderen Hauptstadt vor, Brüssel, Berlin, Paris, Madrid, Lissabon. Das Wochenende hatte er frei. Wir trafen uns bei einem Versuch, zwei nebeneinanderstehende eScooter freizuschalten, kamen ins Gespräch, fuhren eine Strecke zusammen, lachten, redeten, tranken Kaffee, tranken Wein, eines führte zum anderen, und Montagmorgen setzte ich mich einfach mit ihm in den Zug, und blieb die ganzen drei Wochen an seiner Seite. Viele Nächte fanden im Hotel statt, aber wir gingen auch ins Theater, auf ein Konzert, Klamotten shoppen, vietnamesisch essen, irgendwie klappte alles, und er lud mich ein, mit zu ihm zurück in die USA zu kommen. Ich freute mich, aber das war mir dann doch zu heavy. Zwei Wochen, nachdem ich ihn am Flughafen verabschiedet hatte, stand er wieder vor meiner Tür. Er blieb eine Woche, und diesmal kam ich mit. In Texas zogen wir wieder in ein Hotel, weil, was ich bis dahin nicht wusste, er nach seiner Rückkehr seine Frau und zwei Kinder verlassen hatte und die ihn vor die Tür gesetzt hatten. Es hatte sich herausgestellt, dass in einigen Ländern die gesetzlichen Regelungen nicht so ausschließlich waren, wie von der Lobbyagentur dargestellt. In drei Ländern kam es zu Beauftragungen, in einem sogar in erheblichem Ausmaß, der Aktienwert der Firma verdoppelte sich, Paul verkaufte seine Anteile und zog mit mir von dem Geld durch den Südwesten, wo er, in Mexiko geboren, an der Ostküste studiert, noch nie war, ein alter Traum, die Nationalparks, der Grand Canyon, Joshua Trees, Saguaro Kakteen, Wüste, Kojoten, bis zum Pazifik. Dort mieteten wir uns ein Häuschen mit Blick auf den Sonnenuntergang in einem unscheinbaren Örtchen an einem bewaldeten Hang einige Kilometer im Landesinneren. Eines Nachts wachte ich von lauten Schreien auf. Ich machte die Nachttischlampe an und war noch im Halbschlaf schon überrascht, dass ich trotzdem nichts erkennen konnte. Das ist die Erinnerung, die am stärksten hängen geblieben ist. Nacht, Licht an, trotzdem graue, undurchdringliche Dunkelheit, diese Angst überfällt mich noch heute. Unser Haus stand bereits lichterloh in Flammen, das ganze Viertel, ich hustete, Paul schon nicht mehr. Er hatte bereits zu viel Kohlenmonoxid im Schlaf eingeatmet. Ich konnte ihn nicht mehr aufwecken, ihn irgendwohin zu schleppen, daran war nicht zu denken, ich bekam selbst kaum mehr Luft, warf mich instinktiv auf den Boden, atmete durch einen alten Socken und krabbelte auf die Stimmen zu, dort musste das Fenster sein, stemmte mich hoch, öffnete es, rollte mich über das Sims und ließ mich einfach fallen. Als ich im Krankenhaus wieder aufwachte, war alles vorbei. Ich hatte nichts mehr. Keinen Mann, keine Unterkunft, keinen Dollar, keinen Pass, nicht mal eigene Klamotten außer einem Schlaf-Shirt und einer einzelnen Socke. Dafür präsentierte man mir eine unfassbar hohe Rechnung, für meine Rettung, die Behandlung von Brandwunden, einem gebrochenen Arm und Lungenverätzungen. Paul, oder was von ihm übrig war, war schon beerdigt worden. Die Polizei würde am nächsten Tag kommen und ein paar Fragen stellen. Plötzlich erfasste mich Panik. Ich war total überfordert. Ich hatte fürchterliche Schmerzen, aber auch kompetente Schmerzmittel. In der Nacht brach ich einfach aus, mein Zimmer lag im Erdgeschoss, diesmal war das Fenster mein Freund. Ich schaffte es den Hügel hoch bis zum Highway, dort nahm mich ein mitleidiger Mexikaner zweihundert Meilen weit runter in den Süden mit, kaufte mir an einer Tankstelle Männershorts, ein T-Shirt und Badelatschen, das billigste, das es gab, um mein Nachthemd zu ersetzen, und entließ mich mit einem Becher Kaffee und einem Hotdog meinem Schicksal. Die Nächte verbrachte ich am Strand in Liegestühlen, tagsüber klaute ich mir im Einkaufszentrum das Nötigste zusammen, bis der Schock allmählich nachließ und ich mir klarmachte, dass niemand meinen wirklichen Namen kannte, im Ort wäre ich höchstens als die Freundin von Paul bekannt gewesen. Also trampte ich hoch nach L. A., ging zum deutschen Konsulat, ließ mir einen neuen Pass ausstellen und von Freunden über Western Union Bargeld transferieren und einen Flug nach Hause buchen. Hier fand ich mich nach all dem Erlebten natürlich nicht mehr zurecht. Das Leben war grau, mir fehlten der Strand, die Sonnenuntergänge, die ganze relaxte Surferstimmung, alles war so tot hier, so steif, so sauber, so geregelt. Warmer Sand zwischen den nackten Zehen? Ich langweilte mich, fand all meine alten Bekannten unerträglich, Wohnen im Haus meiner Eltern war die absolute Hölle, selbst wenn ich den Kontakt zu ihnen vermied, ich wurde immer gereizter und wütender und gleichzeitig ratloser, denn ich sah keine Alternative. Nach einiger Zeit begegnete ich auf meinen Streifzügen dann einer Gruppe von Leuten, die sich radikalisiert hatten, keine Gewalt, aber ideologisch. Sie lebten anders, entzogen sich den gängigen Marktmechanismen, wohnten in besetzten Häusern oder WGs, für die sich kein Vermieter oder Investor interessierte, ließen die Haare wachsen, aßen vegan und rauchten selbstangebaute Drogen, als internationale Truppe sprachen sie untereinander Englisch, waren über end-to-end-verschlüsselte Messengerdienste organisiert, verabredeten sich zu Aktionen zivilen Ungehorsams, schauten kein Fernsehen, aber ab und an heimlich auf dem Smartphone eine Serie, sprachen über Polyamorie, probierten Geschlechterrollen und sexuelle Orientierungen aus. Da sie aus Umweltgründen nicht flogen, ließ ich die Idee einer Rückkehr nach Kalifornien bald fallen. Ich schloss mich ihnen nicht an, aber ich war im Umfeld geduldet, und weil mir die versengten Hautpartien über dem linken Ohr einen asymmetrischen Haarschnitt verpasst hatten und mir meine wenigen Second-Hand-Klamotten im Surferstyle zusammengestellt hatte, passte ich ganz gut dazu. Englisch konnte ich wegen Paul auch sehr gut und das laute Nachdenken über das Geschehene hatten mich wohl zu einer passablen Gesprächspartnerin gemacht. Beliebt war ich nicht, ich hatte auch keine Rolle im Gefüge, ich denke, ich war mehr ein Sozialprojekt, das sie wie junge Flüchtlinge oder missbrauchte Frauen in ihre Trauerarbeit aufnahmen. Sie nannten mich Sad Ruha. Vor einigen Wochen lernte ich bei einer Sitzblockade gegen SUVs Ann kennen, wir lagen eine Nacht aneinandergekettet auf dem kalten Teer, da kommst du dir näher, sie erzählte von ihrem Leben, ich von meinem, jemand brachte uns Tee und warf eine Decke über uns, wir löffelten, wärmten uns und dösten ein. Plötzlich wurde mir bewusst, dass meine Hand auf ihrer Brust lag, verlegen wollte ich sie vorsichtig wegziehen, doch Ann griff nach ihr und schob sie sogar unter ihren Pullover. Ich hatte seit Paul keinen Sex mehr gehabt und spürte eine heftige Erregung in mir aufsteigen, zwischen meinen Fingern wurden ihre Nippel hart, dann ihre Schamlippen nass. Ich hatte so etwas noch nie getan. Wir knutschten und fummelten heimlich bis zum Morgen, nach der Demo gingen wir zu ihr, ich blieb eine astreine Woche dort, tagsüber hingen wir rum, Freitag und Samstag abends zogen wir durch die Clubs. Doch schon schnell zeigte sich, dass Ann nicht die einfachste Person war. Die Drogen, eine Veranlagung in ihren Genen, was auch immer, in ihren manischen Phasen war sie ein Engel auf Erden, schlug die Depression zu, oder löste irgendwas einen Schub aus, war sie ein einziges pain in the ass, dann schlug sie nicht nur verbal um sich, sondern im wahrsten Sinn des Wortes, auch ich bekam Schläge ab, und von jemandem, den du liebst, und mit dem du eben noch geschmust hast, tun die Handknöchel doppelt weh. Noch ernster war vielleicht, dass sie vor sich selbst nicht Halt machte. Sie ritzte sich dann die Arme auf, riss sich an der Wand die Haut von den Ellenbogen, schlug sich die Zehen blutig, knallte die Stirn auf den Tisch, sie schrie, sie heulte, und war dabei für niemanden ansprechbar. Sie tat mir so leid, und einige Zeit hielt ich das aus, doch letztes Wochenende wurde es so übel, dass ich meine paar Sachen packte, die Tür hinter mir schloss und wusste, ich würde nicht wiederkommen. Paul, der mir in der Erinnerung wie ein Eisklotz in einer Sauna schien, gab mir die Kraft dazu. Das Leben ist so kurz, so anfällig. Ich wollte nicht vereisen. Ich ließ Ann in ihrem Blut zurück. Sie ekelte mich nur noch an. Ich ekelte mich an, weil ich nicht helfen konnte. Das Leben ekelte mich an, weil es uns Menschen so etwas antut. Ich ging mit meinem Rucksack in einen Club, in dem ich öfter bin, ließ mich volllaufen, tanzte, trieb es mit einem Typen auf der Toilette und einem anderen auf dem Parkplatz, ging wieder rein, tanzte noch mehr, trank noch mehr und verließ im Morgengrauen den Club mit zerfressenem Magen und leerem Kopf. Das nächste, an das ich mich erinnere, ist Siddhartha. Ich hab seinen Ring gestohlen, das hab ich euch ja schon erzählt, dann hat ein Schmuckhändler, bei dem ich ihn loswerden wollte, vor lauter Begeisterung seinen Geschäftssinn vergessen und mir minutiös auseinandergesetzt, dass das eine zweitausend Jahre alte archäologische Sensation sei. Von Verkaufen war keine Rede mehr, er sprach nur noch von Museen und da hab ich mir den Ring geschnappt und bin ich wieder los. Je länger ich drüber nachdachte, um so klarer wurde mir, dass keiner den ich kannte den Ring kaufen würde, jedenfalls nicht annähernd zu seinem Wert, und ich wurde auch neugierig, und so bin ich zurück zu Siddhartha und jetzt sind wir hier.

Siddhartha auf Tour

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