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Deutsche Sportler

Siddhartha on tour. Das war meine letzte Chance gewesen. Wirklich alles vorher war gescheitert. Nach Mühldorf, nur damit ihr das mal gehört habt, war ja long time no see, kam ein langer Schlaf, bis ich in Berlin wieder aufwachte. Ein Studium. Keine Vorlesungen, ein paar wenige Seminare. Keine Romantik, kein Studentenleben, keine Partys. Endlose Stunden in Bibliotheken, mit Büchern in Parks und im Bett. Berufe. Büros. Chefs. Kollegen. Mitarbeiter. Geld. Endlose Stunden an Rechnern. Chefinnen, Kolleginnen, Mitarbeiterinnen, hektische Momente in Kaffeeküchen und fremdgebliebenen Betten.

Der erste Dienstwagen. Eine Fahrt durch die Nacht. Claudia an einem abgelegenen Parkplatz. Sie schon angezogen, ich noch nackt, auf der kalten Rückbank in ihren Armen, der beruhigende Geruch fabrikneuer Fahrzeuge. Ich muss jetzt wirklich gehen. Sie öffnet die Tür. Windet sich unter mir heraus. Lacht, weil ich mich extra schwer mache. Hebt mit beiden Händen meinen Kopf, lässt ihn sanft fallen. Mein Kopf hängt aus der Tür, vom Rand des Sitzes nach unten gekippt, ich schaue in den Himmel. Ich springe auf, als sie losfährt. Stehe nackt auf dem Parkplatz, winke, winke wie ein Irrer. Die Vollendung des Kampfes gegen Windmühlen: Du bist selber eine geworden. Die Rücklichter verschwinden hinter einer Kurve, der Motor verklingt. Für einen Moment ist absolute Stille auf der Lichtung. Ich ertappe mich dabei, immer noch zu winken. Wie ein Säugling in der Wiege, der nach der Mutter greift. Mit aller Kraft zwinge ich meine Hand unter Kontrolle. Sie nähert sich meinem Gesicht, eine riesige Hand vor einem blaugrünen Sternenhimmel. Als sie wieder zurückweicht, ist der Handrücken nass. Ich muss geweint haben. Kurz überlege ich, Vollgas zu geben und Claudia nachzujagen, eine wilde Verfolgungsjagd, mit quietschenden Reifen sie ausbremsen, vor ihre Tür stürzen, das heruntergerollte Fenster, ich liebe dich, wir lieben uns, geh nicht mehr, geh nie mehr, bleib endlich, lass es uns versuchen, wir. Besser nicht. Sie würde mich in den Arm nehmen und küssen und trösten und dann heim zu Axel fahren. Unsere Liebe hat immer gehalten, weil ich dich nie in genau diese erniedrigende Geste zwang, das hat unser Gleichgewicht gehalten.

Dann wieder langer Schlaf. Unsanft geweckt, als sie mich aus dem Konzern jagten. Aufgewacht vor dem Firmentor, ohne Auto. Zu Fuß den Weg in die Stadt zum Bahnhof gelaufen. Wohin. Nach Berlin! Viel Schlafen. Begonnen, Träume aufzuschreiben. Einen Traum pro Nacht. Tagsüber Traumdeutung. Die ersten Bühnen. Allein da oben. Allein daheim. Allein da oben. Allein da draußen. Allein. Nirgends kann man unter Menschen so gut allein sein wie in Berlin. Manchmal sah ich eine Claudia in einem Cafe, lachend, mit einem Fremden, um sie herum gläserne Vitrinen voller brennender Kerzen, ein Rosenteppich, livrierte Geiger. Unter den Shoppern, die sich über den Gehsteig schoben, die da, Claudia, eine Riesin, alle Passanten kopfhoch überragend, eine blutrote Federboa, vorbei. Claudia, eine Fantasie, ab und an ein Anruf, bis Messenger und Videocalls uns wieder nahebrachten. Es gab Tage, an denen ich den Bildschirm meines Handys streichelte, als wäre er Haut.

Ich hatte ein Bühnenstück geschrieben über die großen deutschen Sportler. Sie trafen sich zu Olympischen Spielen in Berlin. Die Szenen spielten in Umkleidekabinen, an Startblöcken, die Bühne verwandelte sich in ein Spielfeld. Bälle, Turnschuhe, Schläger als Requisiten. Leni Riefenstahl, Wim Wenders, Sönke Wortmann und eine TikTok-Influencerin liefen gemeinsam mit einer Kamera durch die Kulissen und drehten einen Film. Harry Valerien gab einen Sprecher aus dem Off, der sich manchmal zum Chor mit Werner Hansch und Sabine Töpperwien steigerte. Eine Handlung gab es auch. Startschuss, Hürden, Wassergraben, Nummerngirls, Zielband, Schlusspfiff. Ich hatte alles vor mir gesehen: Kanuten paddelten von links nach rechts, Radfahrer von rechts nach links, Diskusse und Dartpfeile schwirrten durch die Luft, von einer Rampe durch die Zuschauerränge hob ein Skispringer ab, landete im Telemark auf einer Empore, verwandelte sich in einen Turmspringer und plantschte zwischen die Wasserballetteusen. Plötzlich steht alles still. Kein Ton mehr, keine Bewegung, das Bild friert ein. In dem Moment wird die Champions League Hymne eingespielt, fadet über in die Eurovisionshymne, fadet über in die Olympiahymne, fadet über, als Krönung die Titelmelodie des Aktuellen Sportstudios. Zu dieser Musik liefen sie ein: Max Schmeling, Franz Beckenbauer, Erich Kühnhackl, Reinhold Messner, Bernhard Langer, Michael Schumacher, Dirk Nowitzki, Ulrike Meyfarth, Katja Seizinger, Steffi Graf, Franziska van Almsick, Katarina Witt. Sie schwenkten die Fahnen der 12 wichtigsten Bundesländer (Entscheidung des Regisseurs) und begannen mit dem Dialog. Szene für Szene, Akt für Akt entwickelte sich die Tragödie des deutschen Spitzensports. Aufstieg und Fall. Im Kern ging es mir um Doping. Um die Frage, wie das Doping der Sportler mit dem Saufen der Schriftsteller und den Drogen der Musiker und dem Vögeln der Bloggerinnen zu vergleichen war. Wo kam der Nachschub her? Warum trieb sie das an? Zu was beflügelte es sie? Wie machte es sie kaputt? Spitzensportler sind Top-Künstler, in von Massen gefeierten Ritualen holen auch sie das Göttliche vom Himmel und bereiten es für uns auf. Ihr Werk ihr Körper. Mit Schweiß bespritzt wie der Maler mit Farbe und der Schriftsteller mit Tinte. Schneller, höher, weiter als wir Normalsterbliche. Schöner, wahrer und besser. Das ist das Motto auf dem Rasen, im Ring und auf der Bühne. The show must go on. Dabeisein ist alles. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Siegertreppchen. Olymp. Nur dass es in der Kunst keinen Preis für Fair Play gibt. In der Kunst gibt es nicht mal Fairness. Ein völlig unbekannter Begriff in Museen. Ach, es wäre herrlich geworden. Aber kein Theater wollte das Stück haben. So zog ich weiter mit meiner Fantasie an einen anderen unwirklichen Ort und jetzt bin ich hier bei euch auf diesem schon vor Jahrzehnten verstorbenen Friedhof, mit seinen nicht barrierefreien Kieswegen und rutschigen Treppchen und rechtwinkligen Gassen und dem Unkraut und den Verbotsschildern und den verwitterten Inschriften und den Geistern der Toten, die einen mit eiskalten Fingern streicheln, wo die Socken aufhören und wo der Schal verrutscht ist und als hätten wir in einen dieser Eisgeister hineingefasst glühen unsere Fingerspitzen unter den Handschuhen vor Kälte.

Plötzlich, in einem Antiquariat in Mitte, ereilte mich im Sommer 2020 die Idee. Genau die blaue Suhrkamp-Ausgabe von Axel lag da auf einem 1 Euro Ramsch Stapel. Es gab Johnny Cash Musicals und Franz Kafka Comics, jetzt musste doch auch die Zeit für eine Siddhartha Tour gekommen sein. Also machte ich mich an einen Plan. Unter allgemeinem Gegrapsche nach Kopfbedeckung, Eschenstöcken, Degenscheiden, Zermatt-Alpenstöcken und was nicht sonst noch allem kaufte ich mir eine Lennon/Gandhi-Brille, einen Panamahut und setzte mich in den ICE nach Stuttgart. Auf nach Calw und Maulbronn. Es war nicht das erste Mal. Auf Tour sein war ein sehr alter Traum von mir. Ich denke, er geht bis in die früheste Kindheit zurück. Ritter, Cowboys, Piraten, Entdecker, Raumschiffkapitäne, Artisten, meine Helden waren alle immer unterwegs. Aber sie kamen nie hier in diesem gottverdammten oberbayrischen Kaff rechts vom Mare Crisium vorbei auf ihren Aventuren. Später dann die Bands, die Politiker, die Yogalehrer, die Unternehmensberater, die wirklich coolen Leute waren immer auf Tour. Jede Nacht eine andere Bühne. Tagsüber auf der Straße. Nur wer nichts aus seinem Leben gemacht hatte, der pendelte halt jeden Tag zwischen seiner Absteige und dem Arbeitsplatz. So wollte ich nie werden. Für Claudia war das jedoch genau das Lebensmodell. An einem Ort sein, zuhause, die Nachbarn kennen, die Straßen. Da war sie bei ihrem Hausgärtner gut aufgehoben. Ich wollte dagegen immer raus, los, weg, weiter.

Siddhartha auf Tour

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