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Ruha 6

Siddhartha stand neben einem nassen Felsvorsprung, von dem aus er einen weiten Blick ins Tal hatte. Neben ihm plätscherte eines der vielen Rinnsale, die sich in der Klamm zu einem von vielen Wasserfällen beschleunigten Bach vereinten und unten dann zum wieder gemächlichen Fluss verbreiterten. Du kannst nicht zweimal in denselben Fluss springen, schon wahr. Er schüttelte schwere Regentropfen von seinem Turban. Aber du kannst problemlos zweimal vom selben Regenschauer abgeduscht werden. Der Natur ist die Philosophie vollkommen egal. Die Metaphern helfen immer dem, der gute oder schlechte Laune verbreiten will. Das würde er gleich Ruha erzählen. Sie war ein verständiger Partner in lebensweisheitsentzaubernden Gesprächen. Auf dem Weg zum Berg waren sie an einer petrochemischen Produktionsanlage entlanggelaufen, ein unfassbar hässliches Gelände voller Rohre, Wellblech, Beton, Teer, Kies, Leitungen, Masten, Stangen, Container, Hallen, Schornsteine, Türme, Kabel, Waggons, Metall, Schlacken, Öl, Russ, brennende Gase. Hinter dem Stacheldrahtzaun zwei Idioten in Sicherheitswesten, die Ruha Obszönitäten hinterherschrien und ihm Schmähungen und Drohungen. Das war die Realität. Das war das Leben. Wer in den Fluss des Lebens sprang, der arbeitete Nachtschicht an einem stinkenden Fließband. Der wachte vom Heroin zerfressen neben seinem AIDS-siechenden Partner unter einer Brücke auf. Der kämpfte barfüßig im Überlebenskampf gegen die Ratten, um aus kakerlakenverseuchten Müllbergen Essbares zu graben. Diese ganze bürgerliche Romantik, die auf seinen Mythos projiziert wurde. Das Leben als Entwicklungsroman, Wandern, Stationen, Lernen, Sinnfindung. Ein sarkastisches Schmunzeln, das man dem sonst so weise wirkenden Mann nicht zugetraut hätte, verformte für einen Moment seine Lippen. Solch böse Gedanken, ausgerechnet hier, mit Blick auf den See am alten Wirkungsort seines Biographen. Es war Zeit, zurück zu Ruha zu gehen.

Sie hatten Weihnachten auf der Hütte verbracht. Er lebte lange genug im Westen, um den Brauch gut zu kennen und eine ungefähre Vorstellung davon zu haben, was von ihm erwartet würde, auch wenn die Details immer noch verwirrend, weil in jedem Land anders waren. Erntedank und Wintersonnwende waren auch in Indien ein Thema gewesen, das neuzeitliche Kommerzbrimborium der albernen monotheistischen Religionen zwischen den Jahren war ihm aber zuwider. Trotzdem hatte er rechtzeitig daran gedacht und Ruha unten im Tal eine teure Hautcreme gekauft. Die Griechen waren gerade noch so mit ihrer Ferse in der alten Tradition gestanden, Iran, Ägypten, das war noch Heimat, ab den Römern war dann alles schon nur mehr Markt und Militär. Hier am Berg war am Heiligabend der Tag der Bescherung, am Anfang der Rauhnächte. Salben und Tinkturen hatten vor Jahrtausenden auch schon funktioniert und Ruha freute sich aufrichtig. Sie schenkte ihm eine kleine lederne Tasche, die er mit zwei Riemen als Rucksack oder mit einem quer über eine Schulter tragen konnte. Sehr praktisch, wenn auch beide Varianten sehr viel schmerzhafter waren als Lasten einfach auf dem Kopf zu balancieren. Aber auch daran hatte er sich gewöhnt, geflochtene Körbe, Leinensäcke, Lederkoffer, Plastiktrolleys, Dufflebags aus recycelten Lkw-Reifen, die Moden kamen, die Moden verschwanden.

Die kurzen Tage vergingen schnell, die langen Nächte verbrachten sie mit Lesen und Lieben. Für den letzten Abend des Jahres bereiteten sie ein mehrgängiges Menü vor. Eine Suppe (keine Pilze), Kohl, dunkles Brot mit sauren Salaten, scharfer Tofu, zum Abschluss Schokolade mit Früchten und Nüssen. Unten im Tal wurde ab Einbruch der Dunkelheit geschossen. Das Krachen der Böller brach sich in den Schluchten und hallte in langem Donnergrollen nach. Um Mitternacht gingen sie warm eingepackt vor die Tür. Die Wolken hatten sich verzogen. Verstreute Raketen zischten hoch und explodierten farbensprühend unter ihnen. Aus der Ferne spielte ein Saxophon. Es klang nach Mozart.

Siddhartha auf Tour

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