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Traktat von Ruha 1

Siddhartha wachte auf. Noch bevor er die Augen öffnete, hörte er den Fluss. Das vertraute, immergleiche, ewige Rauschen an der Fährstelle. Die lauten, fremden Stimmen der Gäste, die übersetzen wollten, das kräftige Lachen der Frau vom Kiosk, Techno-Musik aus den Fenstern der Anwohner, das Brummen der Automotoren, ihr Abbremsen, Anfahren, alle paar Minuten die Straßenbahn, erst vom Hügel herab, dann über die Brücke herüber und wieder hinauf. In die Soundkulisse mischten sich Erinnerungen an Geräusche aus zwei Jahrtausenden, Kuhglocken, Eseltreiber, Bänkelsänger, das Klirren von Soldatensäbeln, Schüsse aus Musketen, Maschinengewehrsalven, Gewitterdonner, die drückende Stille des Schnees in einer Winternacht. So lange saß er nun schon hier am Fluss, hatte Indisch gesprochen, dann Griechisch und Latein, hatte Arabisch gelernt und Slawisch, konnte sich mit den russischen Korbflechtern und den Straßenmalern aus Kenia unterhalten, den brasilianischen Tänzerinnen und den türkischen Wissenschaftlern. Seit einiger Zeit gewöhnte er sich an die chinesischen Touristen und die Yuppies der amerikanischen Startups. Siddhartha war hier zuhause, und bevor er die Augen öffnete, deutete nichts an diesem Morgen darauf hin, dass sein Leben sich heute mehr verändern würde als in all den zweieinhalb Jahrtausenden, seit er von dem alten Weisen Vasudeva den Job als Fährmann übernommen und seinen Freund Govinda in die Wälder entlassen hatte.

Er war damals viel rumgekommen. Im Irrglauben, dass man viel erleben müsse, um die Welt zu verstehen und zur inneren Ruhe zu kommen, war er losgezogen. Wenn einer eine Reise tut, fail forward, ein Tag ohne Geschichte zu erzählen ist ein ungelebter Tag, das war sein Lebensmotto gewesen, bis er sich in Vasudevas Fährhütte niedergelassen hatte und dort glücklich geworden war. Ein Glas Wein am Abend, ein Buch oder eine gute Serie, mittags ein Salat, abends gewürzte Kartoffeln, ab und an Schwimmen im Stadtbad, ein wenig Yoga, viel mehr brauchte er nicht. Nur Kamala vermisste er, auch nach all der Zeit noch. In einem wiederkehrenden Traum verwandelte sich eine Kerzenflamme in ihre lächelnden Augen, dann fing sein Herz Feuer und pumpte flüssige Lava in seine Lenden. Kamala war lange tot, eine Erinnerung aus einer sehr fernen Zeit, ein Eindruck, wie barfuß laufen über moosigen Waldboden, ein Instinkt nur, wie man die Liebe spürt, wenn sie einen von hinten durchdringend anschaut.

Siddhartha öffnete die Augen. Die Sonne stand schon hoch über dem Fluss, er hatte bis tief in den Vormittag hinein verschlafen. Dennoch blieb er gelassen. Zunächst widmete er sich seinem Ritual, schaltete den Wasserkocher ein, bereitete sich einen Tee, meditierte nackt zwanzig Minuten auf seinem Parkettfußboden und schob seinen muskulösen Körper durch eine Handvoll Asanas, die den jungen Frauen, die sich neuerdings in einer wachsenden Zahl Studios an einer sportlichen Variante des Yogas versuchten, wie medizinische Wunder vorgekommen wären. Danach duschte er, bürstete die bis zum Ellenbogen reichenden dunklen Haare, die sein braungebranntes Gesicht mit der Hipster-Brille umspielten, legte seine weiße Kutte an, die im bunten Allerlei des gerade mal wieder recht hippen Viertels als völlig normal durchging, und legte die paar Schritte von seiner Tür über die Ampel zur anderen Seite der viel befahrenen Straße zurück, um auf der Bank am Flussufer mit seiner Thermoskanne die laue Vormittagssonne zu genießen. Ein attraktiver Mann in den Vierzigern, komplett in sich ruhend, ein wenig eitel, ein wenig verrückt vielleicht.

Noch keine zwei Schiffe waren vorbeigekommen, als er eine schwankende, vielleicht auch humpelnde, Gestalt mit einer leuchtorangefarbigen Botentasche bemerkte, die über die Brücke eilte und dabei recht rücksichtslos Passanten anrempelte. Kurz hinter dem mächtigen Betonpfeiler, der in der Mitte des Flusses das ansonsten recht fragile Gebilde trug, blieb die Gestalt plötzlich stehen und schwang sich ohne weiteres Zögern auf das Brückengeländer, die Beine baumelten schon über dem Abgrund. Siddhartha war kurz davor aufzuspringen, aber er wusste, weder würde jemand seine Rufe hören, noch könnte er schnell genug dort sein, er wäre hier nur Zeuge, und so beobachtete er in höchster Anspannung, wie die Gestalt die Hände vom Geländer löste, für eine Sekunde nach vorn kippte, um sich in allerletzter Sekunde in einer willensstarken Drehung doch noch wieder festzuhalten, zurück auf den Gehsteig zu schwingen und den Weg Richtung Stadtmitte fortzusetzen. Siddhartha erkannte nun, dass es sich um eine Frau handelte, den kurzen, blonden Haaren und dem jungenhaften Gesicht nach noch ein Mädchen, den flächigen Tattoos auf den Armen und den ausgewachsenen Brüsten nach eine erwachsene Frau.

Am Brückenkopf wendete sie nach links und eierte in der weiter schlingernden Bewegung, die Siddhartha nun deutlich als betrunkenes Torkeln identifizierte, erst auf dem Bürgersteig am Fluss entlang, um dann über die Wiese auf das Wasser zuzustürzen, in die Knie zu sinken und sich in einem hohen Bogen zu übergeben. Wie von sich selbst angeekelt wich sie ebenso plötzlich von der Stelle des Unheils zurück, drehte sich mit suchendem Blick, kam unsicher wankend auf den verblüfften Mann auf der Parkbank zu, drückte ihm ihren Messengerbag auf den Schoß, legte sich quer auf die Bank, den Kopf auf die Tasche, und schlief sofort ein.

Ruha wachte auf. Plötzlich hatte ihr Bewusstsein die Steuerung dessen übernommen, was in ihrem Kopf vorging. Die ständig wiederholte wirre Traumsequenz von einer verzweifelten Suche durch ein Schiffsinneres nach dem Deck mit einem Blick aufs Meer beiseitegeschoben und als dringendes Bedürfnis, die Blase zu entleeren, übersetzt. Der Druck, eben noch nur eine Idee hinter verschlossenen Augen, breitete sich rasend schnell durch ihren ganzen Körper aus, Füße und Hände kribbelten, und in ihrem Becken verdichtet sich eine explosive Energie, die sich jetzt, jetzt sofort entladen musste. Ruha öffnete panisch die Augen, stürzte, ihren Bag zu Boden reißend, zum nächsten Baum und pinkelte.

Der stechende Geruch rief ihr die letzte Nacht in Erinnerung, Schnipsel lauter Musik, Lichtgewitter, die schmierige Tanzfläche des Clubs, die im Einklang wogende Masse, Flaschen, Tabletten, Küsse, Haut, Scherben, aufregend Schönes und ein abstoßender Ekel kämpften um die Deutungshoheit, die letzterer für sich entschied, als Ruha beim Aufstehen schwarz vor den Augen wurde, sich zusammengekrümmt an den Baum lehnen musste, um nicht umzukippen, und heftig herauswürgte, was noch in ihrem Magen war, bis nur noch scharfe Galle kam.

Die beiden Gestalten unter den Bäumen am Fluss hätten unterschiedlicher nicht sein können. Eine junge Frau ganz in schwarz, ein hoch gewachsener Mann mit einem weißen Turban, in der einen Hand eine orange Tasche, in der anderen eine violette Flasche. Er half ihr auf, reichte ihr die Tasche, die sie sich nach einem misstrauischen Blick ins Innere quer über die Schulter hängte, schraubte den Becher von der Kanne, schenkte ein und bot ihr das Getränk mit einer erst einladenden, dann aufmunternden, schließlich bezwingenden Geste solange an, bis sie trank und sich sogar dankbar nachgießen ließ. Nach einem kurzen Gespräch setzten sie sich auf eine Bank in der Nähe, wo die Frau nach kurzem Schweigen in ein unkontrolliertes Schluchzen ausbrach, auf- und abgeworfen von Heulkrämpfen, kaum in der Lage, sich zwischendurch den nassen Film von den Wangen zu wischen, und wer nahe genug vorbeikam wunderte sich vielleicht, warum der Mann, der sie liebevoll beschützend in den Armen hielt, ebenfalls Tränen in den Augen hatte.

Siddhartha auf Tour

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