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Auf der Beerdigung

So, dann bin jetzt wohl ich dran. Glaubt mir, für den besten Freund ist das eine Ehre, aber auch eine Herausforderung. Aber ich bin gut vorbereitet, wird nur etwas dauern. Ich weiß, der Wirt, 15.00 Uhr, aber da müsst ihr jetzt durch. Wo ich euch schon mal alle zusammen habe. Toby, Janine. Lydia, Mina. Hans sogar extra aus Kalifornien angereist. Michaela, wobei ein paar Ex fehlen, oder ich erkenne euch zumindest nicht wieder. Sandra, irgendwo? Frau Södeck, schade dass ihr Mann das nicht mehr erleben kann, oder vielleicht auch besser, wer will schon seinen Sohn überleben. Die Geschwister mit Familien, neuen, alten. Das Kollegium vermutlich, Eltern, Schüler. Da hinten die Theatergruppe, Moni, lang nicht gesehen. Die Fußballer, Alfons, ist das lang her. Das ganze Dorf. 200 Leute, würd ich sagen, soweit ich das von hier heroben übersehe. Selbst für eure engen Verhältnisse in Mühldorf am Inn hier ist das viel. Axel war beliebt, Axel war bekannt, Axel, Axel, Axel, Axel, so ging das halt immer schon.

Und Claudia natürlich. Wer will schon seinen Ehepartner überleben. Ach Claudia. Du brauchst gar nicht wegschauen. Jetzt ist es doch egal. Ich habe immer gedacht, ich hätte dich geliebt. Seit über dreißig Jahren glaubte ich dich zu lieben. Aber heute, hier, ganz ehrlich, ich habe Axel geliebt. Och, nein, mein Gott, dieses Geschau gleich wieder, doch nicht so geliebt. Wobei das ja wohl auch nicht schlimm gewesen wäre. Nicht alle Künstler sind schwul. Ich habe ihn geliebt, wie man eben einen besten Freund liebt. Wie man sich selbst liebt. Weil er einen Pfad des eigenen Lebens betreten hat, der einem selbst verborgen geblieben ist. Axel hat eine Möglichkeit meines Lebens gelebt, und vielleicht war es das Bessere. Vielleicht aber auch nicht. Darum geht es. Genau darum. Am Fluss hocken und den Wahnsinn des Lebens vorbeitreiben lassen. Zur Ruhe finden. Zu sich finden. Ertragen. Weise sein. Oder rausgehen, leben, scheitern, neu anpacken, die Welt verändern?

Scheitern, ja, da war ich gut, das habt ihr mich auch immer spüren lassen. Der verlorene Sohn. Der Tor, der auszog, das Fürchten zu lernen und trotzdem ohne Frau heimkommt. Die große Enttäuschung des Dorfes. Der eine, der es zu was bringen hätte können. Und dann doch geendet hat wie alle hier. Als Niemand, als Gescheiterter, eine Märchenfigur mehr, die sich anmaßte, man könne auf die andere Seite des Inn, raus aus dem schattigen Forst, auf saftige Wiesen. Aber wisst ihr was, ich wenigstens hab mir ein paar Jahre die Sonne auf die Haut brennen lassen. Hier, seht ihr die Narben, das war ein Sonnenbrand in Goa. Indien, alles nur wegen Axel. Ich schlief morgens nach einer durchtanzten Nacht auf einer Hängematte ein, die zwischen zwei Hippiebusse gespannt war. Das sind Verletzungen, die will man haben.

Ja, Claudia, du kennst die Stelle gut, ich weiß. Wie oft hast du mich genau hierhin geküsst, hast deine Finger über die kleine Wulst gleiten lassen und dich weggeträumt in diesen Traum, in den dich dein blasser Axel nicht verführen konnte. Jaha, Ohnmacht und Wut, Scham und Verachtung, das sind noch Gefühle, hm? Seid dankbar. Heute stand doch zu befürchten, dass das schwarze Loch des Begräbnisses alle Emotionen, alle Wahrheit in sich aufsaugt. Stattdessen seid ihr nach fünf Minuten schon zum Leben erwacht. Alle auf 180, alle haben wieder Puls, trotz der Scheißkälte hier. Man sollte nur Frühjahr bis Herbst sterben dürfen. Ist der Arzt von Axel hier? Sie? Merken Sie sich’s für den nächsten. Sterben ja alle hier. Vergisst man auch gern. Ihr alle werdet abkratzen. Einer wird sogar der nächste sein. Einen wird es sicher in den nächsten Monaten, Wochen, Tagen erwischen. Die Frau von Silas sieht schon aus, als würde sie die nächste Stunde nicht überstehen. Herzkasperl auf der Beerdigung, ist das jetzt ein besonders paradoxer oder besonders sinniger Tod? Sorgen Sie also beim nächsten Morbiden dafür, dass es nicht wieder eine Winterbeerdigung wird, bitte.

Im Krankenhaus war Axel am Schluss nur noch Haut und Knochen. Habt aber ein schönes Sterbebildchen ausgesucht. Mann in besten Jahren. Wie alt war er da? Vierzig, Fünfundvierzig? Noch vor dem ersten Fett und den Falten. Gut sieht er aus. Blondes Haar, die kräftigen Augenbrauen, die vollen Lippen, ein verschmitztes Lächeln, ein Junge als Mann. Meine Freundinnen fanden ihn immer sofort sexy. Weckte den Mutterinstinkt. Harmlos, aber mit Potenzial. Tiefe. Und dann laberte er sie zu, und fragte, und interessierte sich, und wusste, und erzählte, Mister Charme persönlich. Hat bei Claudia schon funktioniert. Ich und eifersüchtig? Oh ja. Neidisch. Axel war mein Vorbild. Axel hatte, was ich nie bekam. Und Axel war Siddhartha. Als wir das Buch lasen, war es noch gar nicht so alt, ein Menschenleben, da konnte man noch dabei gewesen sein. Jetzt: ein Jahrhundert. Das ist schon eine andere Dimension. Axel und Hesse und Siddhartha, große unerreichbare Lieben. Und Claudia.

Siddhartha auf Tour

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