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Halbzeitpfiff

In der B-Jugend war er als neuer Torwart zu uns gestoßen. Er ging auf meine Schule, aber erst auf dem Rasen nahm ich ihn das erste Mal wahr. Bolzte traumhafte Bälle in den leeren Raum, die ein schneller Mann im Laufduell gegen zwei, drei lahme Verteidiger, einen zu offensiven Libero und einen schwachen Fliegenfänger zu so vielen Torchancen verwerten konnte, dass genug Treffer auf mein Konto gingen, um als Traumpaar der Liga bekannt zu werden. Axel verdiente sich bei einem Ferienjob in einer biologisch-dynamischen Gärtnerei paar Mark dazu. Schubkarrenfahren, Schaufeln und palettenweise Pflanztröge umwuchten hatten seinen Rücken breit gemacht. Seine Hände waren dunkel und hart, weil er weder in der Arbeit noch auf dem Platz Handschuhe trug. Seine blonden Haare hingen ihm unter dem dunkelblauen Bandana in das von Sonne, Regen und Wind gegerbte Gesicht, als wäre er ein altgedienter Seemann. Manche Mädchen zog diese Patina magisch an, manche stießen die dreckigen Fingernägel ab. Claudia gehörte dummerweise zu ersteren.

Mit dem Halbzeitpfiff begann es heftig zu schneien. Eine dichte weiße Schicht legte sich über das Spielfeld. Axel schüttete mir heißen Tee aus seiner Thermosflasche in einen Plastikbecher. Es war schon hilfreich, eine Mutter zu haben, auch wenn er das oft anders sah. Der Trainer, Dr. Schmidhuber, manche haben ihn ja noch erlebt, redete auf uns ein, aber ich fror einfach nur erbärmlich in den kurzen Hosen und dem dünnen Trikot, wärmte meine Hände am Tee und dachte an Claudia, das wärmte, trotz allem, auch. Die zweite Halbzeit verlief einseitig wie die erste, eine einzige Abwehrschlacht gegen die physisch und spielerisch überlegenen Favoriten von Wacker München, kein Spiel für einen Mittelstürmer. Axel stand wie ein Baum. Kein Freistoß, den er nicht wegfaustete, keine Flanke, die er nicht runterfing, kein Abstauber, den er nicht doch noch von der Linie kratzte. In unserer Hälfte war der Schneeflaum nun wieder weggepasst, weggelaufen, weggegrätscht. Die andere Hälfte war noch völlig unbefleckt, ein weißes Blatt Papier. Letzte Minute. Eine scharf hereingegebene Ecke, Axel hechtet nach dem Kopfball, unhaltbar senkt er sich ins Kreuzeck, das ganze Spiel, alles umsonst, aber Axel streckt sich, streckt sich, wächst wieder einmal über sich hinaus, drückt den Ball an den Pfosten, stürzt mit ihm zu Boden, wälzt sich aus dem Matsch, drei große Schritte, ein langgeschlagener, präziser Dropkick und ich starte durch, meine ersten Ballberührungen in der zweiten Hälfte, eine einzige Spur zieht sich durch den Schnee, in meinen Fußstapfen abgeschlagen mein Gegenspieler, ich laufe auf den Keeper zu, er rast mir entgegen, macht sich breit, sein Körper eine Wand, seine Handschuhe mächtige Segel, das Tor ein winziges Loch am Horizont, der Ball ein unkontrollierbarer Stein aus schwerem Eis, die nassen Zehen gefühllos im Leder, ich ziehe trotzdem ab, Claudia, für dich, denn der Appell ans Schicksal in so einer Situation muss doch belohnt werden, Claudia, denke ich, wie immer, wenn etwas aussichtslos ist, weil meine Liebe zu Claudia ist aussichtslos, in dem Moment holt mich der Verteidiger ein und säbelt mich brutal um, aber die Kugel rollt schon, sie rollt zwischen den Beinen des Goliaths hindurch auf das Tor zu, wird am Elfmeterpunkt langsamer, bremst im Fünfmeterraum ab, trudelt auf die Torlinie zu und - überschreitet sie im vollen Umfang. Der Schiedsrichter pfeift ab, wir gewinnen Eins zu Null.

Axel und ich waren ein gutes Team. Gut in die Mannschaft passten wir nicht. Sorry Jungs, aber Feuerwehr, Weiber und Whisky-Cola, das war nicht unsere Welt. Im Bus unterschieden wir uns von den Mitspielern. Während sie sich auf das erste Weißbier, einen Schweinsbraten beim Hinterecker Wirt und einen Schnaps auf Kosten eines der Spielerväter freuten, blätterten wir in Bänden der endlosen bunten Suhrkamp-Taschenbuch-Reihe, deren Inhalt wir dann an einem Katzentisch bei vegetarischen Käsespätzle und Limo diskutierten. Wir waren die zwei Gymnasiasten im Dorf. So hatte ich auch meine erste Berührung mit Siddhartha dank Axel.

Zweimal abends Training, am Wochenende das Spiel, das waren die Zeiten mit den anderen Jungs. Aber morgens bis mittags in der Schule, das waren lang die Zeiten mit Claudia gewesen. Früher, bevor Axel und Claudia ein Paar und ich das dritte Rad am Wagen wurden. In der Schulzeit sind die Rhythmen schneller. Beziehungen werden nicht in Jahren gemessen, sondern in Ferienwochen, Tagen am See, Geburtstagspartys. Ein Abend zu zweit ist noch eine ganze Erzählung wert, wenn man seine Erfahrungen und Abenteuer auflistet. So vieles ist vom Zauber des Verbotenen umgeben. Geheimhalten vor den überfürsorglichen Eltern, den regelbesessenen Lehrern, den hämischen Mitschülern. Claudia und ich kamen zudem aus unterschiedlichen Cliquen und Milieus. Sie hier aus der Stadt, fortschrittlich, wild, frühreif. Ich Fahrschüler, ahnungslos, abgeschlagen. Ein Brot-für-die-Welt-Projekt bestimmte unser Schicksal. Bald waren wir die einzigen beiden aus dem Team, die sich nachmittags noch trafen, sich über die gelesenen Materialien austauschten, stritten, zueinander fanden, Gefallen aneinander fanden, über uns redeten, über die Welt, Freundschaft, Pläne, und an einem dieser Nachmittage in diesem Projektraum des Jugendzentrums im Souterrain berührten sich zufällig (was ich minutiös vorbereitet hatte) unsere Hände, wir hielten inne, küssten uns, und von da an wanderten ein paar Wochen lang Zettelchen und Briefe und Kassetten und Bücher hin und her, stundenlange Telefonate, Eisessen in Neuötting, damit uns niemand erwischt, nachts nach dem Kino mit dem Rad zum Steg am Kanal hinten in Hölzling, ihre Hand, abgewischt am Gras, eine Szene, die mich nie mehr verließ, die Hand, ihre selbstverständliche Hand, die milchigen Finger, abgewischt am Gras. Splitter, die sich zusammenfügen zu einem Bild: ihr Zimmer, fröhliche gelbe Zitronenbettwäsche, das erste Mal. Eine heimliche, harmlose Jugendfreundschaft, unverbindliches Ausprobieren.

Siddhartha auf Tour

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