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Fräuleinwunder

München, Berlin, wer will da heute schon noch leben. Der Verkehr, die Mieten, die Drogen. Obwohl, Mexico City, Kabul, Lagos, es geht schon auch schlimmer. Bis es ganz verheerend kommt: Nagold und Neckar, Murg und Enz. Wer will da schon noch leben. Töteste Kleinststädtchen im Schwärzestenwäldchen. Selbst Stuttgart, das geht alles gar nicht mehr, die Verbohrtheit, die Spießigkeit. Dreimal Heiraten? Gar nicht heiraten? Nackt über die Felder laufen? Vegan leben? Saufen gegen die Depressionen, Kunst für die manischen Momente? Das erzähl mal einem Schwaben. Ich ging natürlich doch nach Berlin. Runde Brille und Strohhut hatten mich nicht weit gebracht. Ich würde meine Maßnahmen verschärfen müssen. Der Autor zu werden war das eine. Jetzt ging es darum, die Figur zu werden. Also kaufte ich mir Dhoti, Kurta und Turban und zog an einen Fluss.

Siddhartha sah in den Fluss, und das ganze Leben zog an ihm vorbei, alle Leben, die es je gab, Geburt, Zeugung, Tod, das ewige Werden. Auch ich sehe mein ganzes Leben vor mir, wenn ich in das Publikum schaue. Eure Leben. Alle Leben. Die jungen Männer. Die jungen Frauen. Die Verliebten. Die Freunde. Die Zerstrittenen. Die Lügner. Die Wahrhaftigen. Die Gewinner des Tages. Die Verlorenen. Die Kranken. Die Sterbenden. Du kannst nicht zweimal in dasselbe Publikum schauen. Eine lacht. Einer schnäuzt sich. Der hustet. Oh Gott, der schwarze Tod! Die gähnt. Er schüttelt den Kopf. Sie nickt. Jemand macht ein Foto. Ein anderer blättert in Unterlagen. Man dreht sich um, bückt sich, zieht sich ein Sakko aus, zieht sich einen Pullover an. Zwei küssen sich. Das Publikum ist wunderschön. Das Publikum ist der traurigste, fröhlichste, wildeste, ruhigste Fluss. Das Publikum ist der See, der still unter dir glänzt. Das Publikum ist Meer, das an deine Sohlen brandet. Das Publikum ist der höchste Berg, den du bestiegen hast. Das Publikum ist das Tal, in das du hinabsegelst. Das Publikum ist jeden Abend anders. Das Publikum ist jeden Abend gleich. Das Publikum ist, was du bist. Das Publikum ist du, und du bist: das Publikum. Wir schauen uns in die Augen, und da ist: Trauer. Hass. Angst. Neid. Bewunderung. Erwartung. Sehnsucht. Mitleid. Liebe.

Calw war so tot. Ich würde mich in Casablanca oder Vancouver oder Warschau oder Singapur komplett neu erfinden müssen. Hier war ich also geboren. Die Konkurrenz ist hart geworden. Nicht wegen der Kollegen Schriftsteller. Sind auch nicht besser oder schlechter als damals. Nein, ich rede von meiner Nische. Lebenshilfeliteratur für Menschen in Sinnkrisen. 1922 schrieb ich vielleicht gegen ein paar Zeitungshoroskope an. Heute ist der Markt voll mit Yogazeitschriften und Führungsseminaren und Selbsthilfe-Onlinekursen und Prime-Serien. Niemand braucht mehr 200 Seiten Entwicklungsroman, um sich über die Identifikation mit einer Hauptfigur in der Gesellschaft zu verorten.

Kürzlich hetzte das Fräuleinwunder von vor vier Jahren mit einem Rollkoffer an mir vorbei. Ich habe Zeit für einen Kaffee im Sitzen, bis mein Auto abholfertig ist, eine kleine Reparatur am Blinker hinten, sie offensichtlich nicht. Die Vorteile des Kaffs, in dem die Tankstelle neben dem Bahnhof ist. Fitzgerald, Hemingway, was hätten sie wohl zu einer Latte mit Hafermilch gesagt. Die ehemalige Jungautorin blieb mir in Erinnerung, weil ich mit ihr mal auf einem Podium saß und mich eine Stunde lang wunderte, wie wohl so eine wuselige Hektikerin genug Zeit an einem Text verbracht hatte, um ihren Bestseller fertigzustellen. Mittlerweile ist sie Managerin in einem Medien-Start-up, recherchiere ich unschwer auf dem Handy nach. Sicher ist sie dort ganz bei sich. Beschleunigen, das ist bestimmt ihr Ding, sähen, wachsen, ausbrüten vermutlich weniger. Ich gehe mit meinem Becher rüber in die Bahnhofsbuchhandlung. Eigentlich ein Zeitschriftenladen, dazu Notizbücher und kleine Geschenke. Ihr Buch finde ich nicht, Scott und Ernest auch nicht, aber Dorothy Parker liegt auf dem Stapel. Der Titel legt nahe, dass Frauen, die schwer alkoholisiert die Kontrolle über sich verlieren und mit Fremden kopulieren sich damit schwer marktkonform verhalten und hohes Identifikationspotential haben. Michaela, der war für dich.

Siddhartha auf Tour

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