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d) Rechtssicherheit (Bestimmtheit, Vertrauensschutz)
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Der Rechtsstaatsgedanke zielt in einem ganz fundamentalen Sinne auch und vor allem auf Rechtssicherheit. Diese wird, obwohl nicht ausdrücklich normiert, zutreffend als „wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips“[421] eingestuft. Denn die Orientierungs- und Stabilisierungsfunktion des Rechts kann nur erfüllt werden, wenn die Rechtsnormen hinlänglich bestimmt (aa) und wenn sie verlässlich in der Weise sind, dass auf ihren Bestand vertraut werden kann (bb).
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aa) Rechtsstaatliche Normen müssen in dem Sinne klar und bestimmt[422] sein, dass der Bürger sein Verhalten darauf einstellen und seine Handlungen und Dispositionen verlässlich an ihnen ausrichten kann. Er muss „seine“ Rechtslage, also seine Rechte und Pflichten erkennen können. Aber auch die Verwaltung bedarf genügend bestimmter Normen, um von ihren Kompetenzen angemessenen Gebrauch zu machen; die Gerichte schließlich müssen anhand dieser Normen das Verhalten der Verwaltung kontrollieren können. Freilich hängt der zu verlangende Präzisierungsgrad stark vom jeweiligen Regelungsgegenstand ab.[423] Daher sind so genannte unbestimmte Rechtsbegriffe (wie gute Sitten, öffentliches Interesse, Wohl der Allgemeinheit, wichtiger Grund etc.) ebenso wenig ausgeschlossen wie Ermessensspielräume.[424]
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bb) Der Gedanke der Rechtssicherheit fordert über die hinreichend präzise Bestimmung des Norminhalts hinaus auch, dass die Rechtsnormen und Rechtsakte, auf die der Bürger sein Verhalten abgestimmt und eingerichtet hat, bis zu ihrer ordnungsgemäßen Aufhebung Bestand haben. Eine solche Kontinuitätsgewähr[425] impliziert keinen legislativen Immobilismus, der im regelungsintensiven Interventionsstaat ohnehin Illusion wäre. Vielmehr geht es um Vertrauensschutz[426] als Stabilisierung der Erwartungen des Einzelnen oder genauer: um Schutz vor der Enttäuschung des Vertrauens, aufgrund dessen der Einzelne Handlungen getätigt und Entscheidungen getroffen hat. Greifbare Konsequenzen hat der Vertrauensschutzgedanke also vor allem bei der Problematik der Rückwirkung von Gesetzen. Hier können angesichts einer unübersichtlichen Kasuistik nur zwei allgemeine Grundsätze in Gestalt von Regel/Ausnahmeverhältnissen benannt werden.[427] Danach ist eine (echte bzw. retroaktive) Rückwirkung, mit der Gesetze nachteilig in einen in der Vergangenheit liegenden und schon abgeschlossenen Lebenssachverhalt eingreifen, prinzipiell unzulässig;[428] es gibt allerdings einige eng begrenzte Ausnahmen.[429] Umgekehrt ist eine unechte (retrospektive) Rückwirkung, bei der auf Sachverhalte Zugriff genommen wird, die gegenwärtig noch fortdauern, prinzipiell zulässig,[430] doch gibt es auch hier wiederum Ausnahmefälle, die zur Verfassungswidrigkeit führen.[431]