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bb) Schutzpflichten

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Bei den grundrechtlichen Schutzpflichten[479] geht es weniger um die Ausstrahlung auf die gesamte Rechtsordnung als eine grundrechtsspezifische Bewirkung staatlicher Handlungspflichten. Doch handelt es sich dabei um einen mindestens ebenso bemerkenswerten wie tiefgreifenden Vorgang. Denn ihrem dominanten Funktionsmodus zufolge wehren Grundrechte (unzulässige) staatliche Eingriffe kraft eines Unterlassungsanspruches ab. In gerader Umkehr dieser Wirkungsweise sinnt der Schutzpflichtgedanke dem Staat nunmehr an, aktiv zugunsten der Grundrechte tätig zu werden, sich einer vielzitierten Wendung gemäß „schützend und fördernd“[480] vor sie zu stellen. Vom Gefährder der Grundrechte mutiert der Staat zu ihrem Beschützer,[481] wird in seinem Handeln nicht zurückgedrängt, sondern aktiv gefordert. Denn er hat der Gefahr, die den grundrechtlichen Schutzgütern Privater durch „Übergriffe“[482] anderer Privatpersonen erwächst, durch geeignete Maßnahmen zu begegnen. Deutlich ausgesprochen und systematisch entfaltet wurde das (zu Recht als „juristischer Paukenschlag“[483] eingestufte) Schutzpflichtenargument in der (ersten) Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch.[484] Dem folgte eine mittlerweile schon fast kanonisierte Sequenz weiterer Judikate, bei denen es nicht selten um die Abwehr von Schäden für die körperliche Unversehrtheit der Bürger durch umweltbelastende Maßnahmen oder gefährliche Techniken ging.[485] Hier wie auch beim tragischen Fall des entführten (und später ermordeten) Arbeitgeberpräsidenten Schleyer im Jahre 1977[486] zeigte sich allerdings deutlich die Besonderheit der rechtsdogmatischen Struktur grundrechtlicher Schutzpflichten. Anders als bei der abwehrrechtlichen Situation, wo das gebotene staatliche Handeln schlicht und einfach in der Unterlassung des unzulässigen Eingriffs besteht, wird den staatlichen Organen bei der Wahrnehmung ihrer grundrechtlichen Schutzpflichten ein „weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsbereich“[487] zugestanden. Zumeist lässt sich nur das „Ob“, nicht aber das „Wie“ einer Schutzpflicht aus den Grundrechten deduzieren.[488] Auch bieten die Schutzpflichten allein noch keinen Eingriffstitel gegenüber den „grundrechtsgefährdenden“ Privaten (also etwa den Betreibern emittierender Anlagen), sondern sind auf gesetzliche Mediatisierung und Konkretisierung angewiesen – wie etwa seit jeher in Gestalt der Strafgesetze. Das zeigt zugleich, dass die Schutzpflicht des Staates für seine Bürger selbstverständlich auf einer langen ideengeschichtlichen und verfassungshistorischen Tradition beruht und insofern nichts Neues ist; neu ist hingegen, dass die alte „Staatsaufgabe Sicherheit“ nunmehr (auch) als Grundrechtsfrage thematisiert und ihre Erfüllung im Namen der Grundrechte eingefordert werden kann. Ob die Schutzpflichtendogmatik die älteren Konzepte der Ausstrahlungs- und Drittwirkung letztlich obsolet machen wird, ist Gegenstand anhaltender wissenschaftlicher Diskussion.[489]

§ 1 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Deutschland › III. Grundzüge des Grundgesetzes › 6. Menschenwürde

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