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a) Extensivierung

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Eine denkbar weitgehende Extensivierung erfolgte zunächst durch die Ausdehnung grundrechtlicher Schutzbereiche ins nahezu Unbegrenzte, wie sie sich mit dem Elfes-Urteil[448] vollzog. Dessen zentrale grundrechtsdogmatische Weichenstellung bestand darin, das in Art. 2 Abs. 1 GG garantierte Recht der freien Entfaltung der Persönlichkeit als ein allgemeines Freiheitsrecht zu verstehen, das damit zum umfassenden Auffanggrundrecht wurde. Fällt demnach eine bestimmte Betätigung nicht unter eines der kasuistisch aufgeführten Grundrechte, bleibt immer noch die Berufung auf Art. 2 Abs. 1 GG.[449] Auch banal anmutende Tätigkeiten oder alltägliche Verhaltensweisen genießen Grundrechtsschutz; letztlich ist keine Handlung zu gering oder zu belanglos, um als grundrechtsirrelevant ausgeschieden zu werden. Die Judikatur selbst bietet für diese Ausdehnung auf Betätigungen jeder Art und Güte plastische Beispiele: das Verbot des Fütterns von Tauben im Park, des Reitens im Walde oder des Mopedfahrens ohne Helm[450] – all diese vergleichsweise marginalen Einschränkungen können nun als Grundrechtseingriffe gewertet und wegen der Einräumung der Verfassungsbeschwerdemöglichkeit einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung unterzogen werden.[451] Der Grundrechtsschutz wird lückenlos und flächendeckend.[452] Zwar sieht die Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG weitergehende Restriktionsmöglichkeiten vor als zahlreiche andere Grundrechtsbestimmungen; da aber auch hier das mehrstufige Verhältnismäßigkeitsprinzip greift, fällt das Ergebnis der Prüfung oft nicht zwingend anders aus. Eine gewisse dogmatische Verselbständigung haben einige der unter Art. 2 Abs. 1 GG fallenden Handlungsfreiheiten in den so genannten Innominatsfreiheitsrechten (wie der Freiheit von Abgaben oder vom Verbandszwang, der Ausreisefreiheit oder der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit) gefunden.

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Eine zumeist mit Art. 2 Abs. 1 GG verbundene Extensivierung besteht des Weiteren in der Kreation „neuer“ Grundrechte, als deren wichtigstes das richterrechtlich entwickelte „allgemeine Persönlichkeitsrecht“ gelten darf. Es wird vom Bundesverfassungsgericht in st. Rspr. aus „Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG“ hergeleitet und stellt neben der allgemeinen Handlungsfreiheit eine zweite, unabhängige Garantie dar.[453] Zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht zählen etwa das Recht am eigenen Bild und am eigenen Wort, der Schutz des Namens und der Ehre sowie die sexuelle Selbstbestimmung. Ein besonders prominentes und folgenreiches Beispiel bildet insofern das Volkszählungsurteil mit der Schöpfung eines „Rechts auf informationelle Selbstbestimmung“, das dem Datenschutz eine grundrechtliche Basis verleiht.[454] Es illustriert im Übrigen eindringlich, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht als ein besonders flexibles Instrument fungiert, neuen Gefährdungsquellen grundrechtlicher Freiheit zu begegnen.[455]

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Es rundet diesen Aspekt der Extensivierung ab, wenn auch die Garantien der anderen Grundrechte prinzipiell entwicklungsoffen gedeutet und vor allem der jeweilige Schutzbereich zumeist weit und ohne vorschnelle Reduktion auf bestimmte Gewährleistungsgehalte gelesen wird.[456] So fällt etwa die Pornographie nicht von vornherein aus der Kunstfreiheit heraus;[457] das Mietrecht kann verfassungsrechtlich als Form des Eigentums gelten;[458] selbst evident törichte oder rein polemische Aussagen werden von der Meinungsfreiheit geschützt;[459] auch die Rumpf- oder Patchworkfamilie fällt unter den Familienbegriff[460] – um nur einige wenige Beispiele für diese Form offener Grundrechtsinterpretation[461] zu nennen, die sich freilich nur auf die Weite des Schutzbereiches bezieht und über die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Einschränkungen und damit für die letztlich garantierte „Nettofreiheit“[462] noch nichts Endgültiges aussagt.

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Eine Extensivierung anderer Art bedeutete die Aufgabe einer aus der konstitutionellen Epoche übernommenen und lange ungebrochen fortgesetzten Judikatur zu den früher „besondere Gewaltverhältnisse“ genannten, heute häufig als „Sonderstatusverhältnisse“ apostrophierten staatsnahen Konstellationen (Schulen, Strafanstalten, Beamtenverhältnisse), in denen man die Geltung der Grundrechte als ausgeschlossen betrachtete. Solche grundrechtsexemten Sphären beseitigte der Strafgefangenen-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts.[463] Unmittelbare Konsequenz dieser Nicht-Exklusionsmöglichkeit war die später mit Hilfe der Wesentlichkeitsdoktrin (vgl. oben, Rn. 123) auch in anderen Bereichen forcierte Geltung des Gesetzesvorbehalts (etwa für die Ordnung des Strafvollzugs oder die Gestaltung der Schulpläne).

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