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e) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

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Der nicht selten auch als Übermaßverbot bezeichnete Grundsatz der Verhältnismäßigkeit[432] ist heute von überragender Bedeutung für das Verfassungsrecht. Obwohl normtextlich im Grundgesetz nicht auffindbar und historisch nur auf dem engeren Feld des Polizeirechts verankert, hat er sich „rechtsprechungspraktisch und verfassungstheoretisch zu einer zentralen rechtsstaatlichen Maxime entwickelt“[433]. Bei der verfassungsgerichtlichen Kontrolle freiheitseinschränkender Gesetze bildet er den zentralen und oft entscheidenden Prüfstein. Mit ihm tritt neben die formelle Schutzfunktion des Gesetzesvorbehalts eine materielle Schranke, die dem grundrechtsbeschränkenden Zugriff des Gesetzgebers ihrerseits Schranken setzt[434] und somit eine vollkommene Aushöhlung der Grundrechte durch extensiven und seinerseits nicht mehr limitierten Gebrauch des Gesetzesvorbehalts verhindert. In der Erweiterung des bloß formell verstandenen Gesetzesvorbehalts um die materielle Dimension einer verhältnismäßigen Regelung besteht der entscheidende Fortschritt gegenüber der Weimarer Reichsverfassung.[435] Die Intention der Beschränkung des grundrechtsbeschränkenden Gesetzgebers liegt unverkennbar schon der Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG zugrunde, die ihrerseits ein zentrales Argument für die Anerkennung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes liefert. Doch hat dieser die Wesensgehaltgarantie praktisch marginalisiert, weil er kraft seiner feineren Dosierung und ausdifferenzierten Struktur nicht erst bei einer Beeinträchtigung des Wesensgehalts greift, sondern sich als eine weit vorher liegende Sicherungslinie erweist und den Rückgriff auf Art. 19 Abs. 2 GG regelmäßig erübrigt.[436]

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Dieser (letztlich auf eine gewisse Rationalitätsverbürgung zielenden) differenzierten Struktur gemäß müssen staatliche Eingriffe in die Freiheitssphäre des Einzelnen auf die Erreichung eines legitimen Zwecks gerichtet sowie geeignet, erforderlich und verhältnismäßig i.e.S. sein.[437] Geeignetheit bedeutet, dass das gewählte Mittel zur Zweckerreichung nicht von vornherein untauglich ist.[438] Die Erforderlichkeit verlangt im Sinne eines Interventionsminimums, dass es kein milderes Mittel gibt, welches bei zumindest annähernd gleicher Effektivität eine weniger intensive Grundrechtsbeeinträchtigung nach sich ziehen würde.[439] Die Verhältnismäßigkeit i.e.S. (auch: Angemessenheit, Zumutbarkeit) schließlich fordert eine adäquate Zweck-Mittel-Relation und zielt auf eine Abwägung zwischen der Schwere der grundrechtlichen Beeinträchtigung einerseits, dem Gewicht des mit der Maßnahme verfolgten öffentlichen Belangs andererseits:[440] Das Sprichwort, wonach man nicht „mit Kanonen auf Spatzen schießen“ soll, drückt diesen Gedanken plastisch aus. Es geht also um eine Güterabwägung, bei der letzten Endes auch subjektive Wertungen unvermeidlich eine Rolle spielen.

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Die mit diesen wenigen Stichworten auch nicht annähernd erfasste überragende Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsprinzips resultiert nicht zuletzt daraus, dass – wie die erwähnten Beispiele schon andeuten – an diesem Maßstab nicht nur das Gesetz oder die allgemeine Norm, sondern auch die einzelne staatliche Maßnahme geprüft wird, so dass es in der Praxis der Verwaltung wie als Kontrollmaßstab der Gerichte ubiquitäre Verbreitung genießt.[441] Angesichts dessen mag es verwundern, dass über die grundgesetzliche Verankerung des Prinzips keine Einigkeit herrscht: teils wird es im Rechtsstaat, teils im Wesen der Grundrechte, vereinzelt im Gleichheitssatz verortet.[442] Das Bundesverfassungsgericht spricht ohne genauere Festlegung häufig ganz allgemein vom (verfassungsrechtlichen) „Grundsatz“[443]. Letztlich gibt es aber über den Verfassungsrang keinen Streit.

§ 1 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Deutschland › III. Grundzüge des Grundgesetzes › 5. Grundrechte

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