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6. Menschenwürde

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Eine Darstellung wesentlicher Grundzüge der deutschen Verfassungsordnung ohne die in Art. 1 Abs. 1 GG an ihre Spitze gestellte Garantie der Menschenwürde wäre nicht nur unvollständig, sondern würde die vielleicht gewichtigste Regelung übergehen[490] – hat das Bundesverfassungsgericht sie doch wiederholt als obersten Wert und tragendes Konstitutionsprinzip des Grundgesetzes bezeichnet[491] und wurde ihr vor dem Hintergrund ihrer Genese (vgl. oben, Rn. 9) nicht von ungefähr „das volle Gewicht einer normativen Grundlegung dieses geschichtlich-konkreten Gemeinwesens“[492] beigemessen, ja in ihr der „Sinn bundesrepublikanischer Staatlichkeit“[493] lokalisiert.

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Dieser Fundamentalcharakter ist nicht lediglich im Sinne einer bloß feierlichen Bekundung oder Proklamation zu verstehen. Vielmehr handelt es sich bei Art. 1 Abs. 1 GG um eine alle Staatsgewalten bindende Norm des objektiven Verfassungsrechts, deren hoher sachlicher Bedeutung ein besonderer normativer Rang korrespondiert. Er kommt zum einen darin zum Ausdruck, dass die Garantie der Menschenwürde in den Einzugsbereich der Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG (vgl. oben, Rn. 28) fällt und daher Maßnahmen, die als Verletzung der Menschenwürde einzustufen sind, auch durch den verfassungsändernden Gesetzgeber nicht zugelassen werden können. Zum anderen handelt es sich bei der „Unantastbarkeit“ um eine absolute Garantie, was bedeutet, dass in jeder Antastung der Menschenwürde automatisch ein Verfassungsverstoß liegt. Es greift also der von den Freiheitsgrundrechten bekannte Mechanismus nicht ein, demzufolge ein Eingriff in ein Grundrecht nicht per se eine Verletzung desselben darstellt, sondern verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann. Die Menschenwürde hingegen ist einer Güterabwägung unzugänglich und insofern nicht relativierbar.[494] Der normative Höchstrang in Verbindung mit dem Pathos des Würdebegriffs selbst lässt Art. 1 Abs. 1 GG wie ein Absolutum in einer zutiefst relativistischen Welt erscheinen, wie einen zivilreligiösen Anker im Meer der Beliebigkeit.[495]

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Versuche, an dieser Absolutheit zu partizipieren, sind im gesellschaftlichen wie verfassungspolitischen Diskurs unübersehbar, wenn nicht inflationär. Oft wird die Menschenwürde als viel zu „kleine Münze“ gehandelt.[496] Auch bei den Gerichten lassen sich mittlerweile Tendenzen einer immer stärkeren Strapazierung der Menschenwürdegarantie beobachten.[497] Vorbei sind die Zeiten, in denen man sie – wie das Bundesverfassungsgericht in einer frühen Entscheidung – vornehmlich als Schutz vor „Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung usw.“[498] begriff. Heute formuliert das Gericht mit Entschiedenheit, dass Art. 1 Abs. 1 GG darüber hinausgehe und in umfassenderer Weise die Subjektstellung und Autonomie der Person gewährleiste.[499] Da dies aber auch durch andere Freiheits- und Gleichheitsrechte geschieht, werden die Grenzen zwischen diesen und der absoluten Menschenwürdegarantie fließend. Als eher pauschal und wenig trennscharf muss man zudem jene weitgehenden Formulierungen bezeichnen, denen zufolge die Menschenwürde als „Wurzel aller Grundrechte“ und sämtliche Grundrechte als „Konkretisierungen des Prinzips der Menschenwürde“ angesprochen werden.[500] Die Literatur tut das Ihre zur Beförderung dieses Expansions- und Erosionsprozesses, wenn sie manchen, vielen oder gleich allen Grundrechten einen Menschenwürde-Kern attestiert oder ein vermeintliches „Menschenbild“ des Grundgesetzes bis zur Ununterscheidbarkeit mit der Menschenwürde verschweißt.[501] Verkoppelungen ähnlicher Art nimmt das Bundesverfassungsgericht in zunehmendem Maße in der Weise vor, dass es Art. 1 Abs. 1 GG an andere Grundgesetzbestimmungen „anseilt“ und mit diesen zu neuen Normen verschmelzen lässt. Die Kreation des aus „Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG“ hergeleiteten allgemeinen Persönlichkeitsrechts (vgl. oben, Rn. 136) ist ein prominentes, bei weitem aber nicht das einzige Beispiel.[502] Das dogmatisch nicht befriedigend zu lösende Problem dieser Normamalgamierungen besteht darin, dass sich der Anteil der unantastbaren Menschenwürde nicht präzise bestimmen lässt und sich so deren Absolutheit zugunsten einer von den anderen Grundrechten her bekannten, fallbezogenen Abwägungsprozedur verflüchtigt.

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Andere Tendenzen der Extensivierung und Überdehnung der Menschenwürdegarantie gehen über diese eher verfassungsdogmatischen Aspekte noch weit hinaus. Insbesondere in der seit Jahren mit ungewohnter Heftigkeit geführten bioethischen Debatte wird die Menschenwürde gern als Allzweckwaffe gehandhabt, mit der Stammzellforschung, Präimplantationsdiagnostik oder therapeutisches Klonen in vermeintlich eindeutiger Weise mit dem Bannstrahl eines Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 1 GG belegt werden.[503] In der Sache dient die Menschenwürde hier als Einfallstor für bestimmte Partikularethiken und religiöse Grundüberzeugungen, die als solche Verfassungsrang nicht für sich beanspruchen können.

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Gewissermaßen noch eine Stufe höher angesiedelt wird die Norm, wenn man in ihr die „Gattungswürde“ oder sinngleich die Würde des Menschen als Gattungswesen verankert sieht.[504] Nicht mehr um den einzelnen Menschen, sondern die „Menschheit“ insgesamt soll es nun gehen. Mit der Übertragung dieser im ethisch-philosophischen Diskurs schon seit längerem verbreiteten Sichtweise auf das Verfassungsrecht hätte sich bei der Menschenwürdegarantie endgültig ihre Ablösung von einem konkreten personalen Träger vollzogen. Doch diese Wendung ins Kollektive und Überpersonale steht mit der Entstehungsgeschichte wie dem zentralen Zweck der Menschenwürde nicht in Einklang: danach bietet Art. 1 Abs. 1 GG konkreten Schutz für den konkreten Menschen, nicht für die biologische Gattung.[505]

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Gegenüber den hier nur stichwortartig genannten, im Grunde gegenläufigen Aufblähungs- und Überhöhungstendenzen erscheint es vorzugswürdig, die Menschenwürde weder dem Prozess einer „sinnverflachenden Inhaltsentleerung“[506] preiszugeben noch als „Auffangproblemlöser“[507] für hochkomplexe und epochale Entwicklungstendenzen nutzen zu wollen (und dabei doch nur den eigenen subjektiven Wertungen höhere Verfassungsweihen zu verleihen), sondern stattdessen einen engeren Kreis allgemein konsentierter Grundaussagen zu fixieren. Dieser Konsens betrifft drei fundamentale Aspekte: die Freiheit und Gleichheit der Menschen sowie ihre nackte Existenz.[508] Danach schützt die Menschenwürde als freiheitliches Prinzip erstens vor massiven Verletzungen der körperlichen und seelischen Integrität, vor Folter, Gehirnwäsche und schweren Demütigungen. Als egalitäres Prinzip schließt sie zweitens Sklaverei, Leibeigenschaft, Menschenhandel und andere Formen der Behandlung Dritter als „Untermenschen“ aus. Und drittens gewährt sie in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip ein materielles Existenzminimum (vgl. oben, Rn. 97). Man sollte diesen Konsens nicht kleinreden oder gering schätzen, sondern als keineswegs selbstverständliche zivilisatorische Errungenschaft begreifen. Wenn breitenwirksame Gefährdungen in dieser Hinsicht derzeit in unserer Rechtskultur kaum zu besorgen sind,[509] so ist dies kein triftiger Grund, sich nach anderen Einsatzfeldern für die Menschenwürde umzusehen und ihren hohen Rang durch inflationäre Entwertungstendenzen zu gefährden.

§ 1 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Deutschland › IV. Abschließende Notiz zur nationalen Identität

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