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IV. Abschließende Notiz zur nationalen Identität

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Die Bestimmung der nationalen Identität überschreitet im Grunde die Kernkompetenz des Verfassungsrechtlers und vermutlich auch die der Vertreter anderer Wissenschaftsdisziplinen, weil insofern ein nur schwer auflösbares Konglomerat von (völker-)psychologischen, gesamtgesellschaftlichen, historischen wie kulturellen Phänomenen eine Rolle spielt.[510] Und doch kann man der Frage mit Blick auf den Europäischen Unionsvertrag (EUV) nicht einfach ausweichen. Wenn Art. 6 Abs. 3 EUV von der Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten spricht, wird diese einerseits als bereits irgendwie gegeben bzw. vorgegeben vorausgesetzt; wenn Art. 6 Abs. 1 EUV die Union selbst auf die Grundsätze der Freiheit, Demokratie, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit verpflichtet und ergänzend erklärt, dass diese allen Mitgliedstaaten gemeinsam seien, so sind andererseits schon gewichtige inhaltliche Vorgaben für sie markiert. Nun mag die nationale Identität in vielen Mitgliedstaaten an ganz andere Kristallisationspunkte anknüpfen als an die Prinzipien des Art. 6 Abs. 1 EUV oder deren Entsprechungen in den nationalen Verfassungen. In Deutschland hingegen ist es wegen der hier vorfindlichen (ebenso oft kritisierten wie positiv konnotierten) starken Fixierung von Politik und Gesellschaft auf das Grundgesetz als einem identitätsstiftenden Zentrum ganz naheliegend, in struktureller Analogie zur Homogenitätsklausel des Art. 28 Abs. 1 GG (vgl. oben, Rn. 116) die nationale Identität in den zentralen verfassungsrechtlichen Verbürgungen zu suchen – vorzugsweise in jenen, die sich durch ihren fundamentalen, grundsätzlichen Charakter ebenso auszeichnen wie durch den hohen Bestandsschutz (vgl. oben, Rn. 28), den die Verfassung selbst diesen Bestimmungen verleiht. Auf diese Weise rücken die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG und die von ihm erfassten Regelungen in das Zentrum der Betrachtung. Es kann daher nicht überraschen, dass in der deutschen Kommentarliteratur zu Art. 6 Abs. 3 EUV auf die Verfassungsprinzipien (Republik, Sozialstaat, Bundesstaat, Demokratie, Rechtsstaat) ebenso verwiesen wird wie auf die Grundrechte, die Menschenwürde und den Vorrang der Verfassung generell.[511] Und ebenso wenig überrascht es, dass der dem Thema „Die Identität der Verfassung“ im Handbuch des Staatsrechts gewidmete Beitrag in weiten Teilen im Grunde eine Kommentierung des Art. 79 Abs. 3 GG darstellt.[512] Was nun aber – die föderalen Aspekte einmal beiseitegelassen – wiederum hinter dieser zentralen Klausel und auch in manchen Aspekten des nicht minder wichtigen Konzeptes der „streitbaren Demokratie“ (vgl. oben, Rn. 29) steht, ist ein entschiedener Anti-Totalitarismus. Das Grundgesetz signalisiert damit seinen starken Geschichtsbezug und seinen dezidierten Willen, aus den schrecklichen Erfahrungen des Nationalsozialismus zu lernen (vgl. oben, Rn. 46ff.). Demgemäß hat man den Sinn des Art. 79 Abs. 3 GG darin gesehen, „einen Rückfall unseres Landes in Diktatur und Barbarei auszuschließen“[513]. Als deutsche Besonderheit und für die nationale Identität möglicherweise genauso bedeutsam dürfte schließlich der Sozialstaatsgedanke einzustufen sein.[514] Aufgrund langer Traditionen sozialer Fürsorge wäre in Deutschland eine strikt neoliberale Wirtschaftspolitik nach dem Muster der Thatcher-Ära in Großbritannien nicht nur rein tatsächlich unwahrscheinlich, sondern würde auch gegen ein weitverbreitetes Empfinden von (wie auch immer bestimmter oder bestimmbarer) sozialer Gerechtigkeit und gebotener mitmenschlicher Solidarität verstoßen.

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Manche Phänomene einer Verfassungszentrierung gehen darüber freilich noch hinaus. So hat ein ebenso scharfsichtiger wie scharfzüngiger Beobachter in einem Überblick über die Rechtsentwicklung der ersten vier Nachkriegsjahrzehnte eine „quasireligiöse Aufwertung der Verfassung“[515] diagnostiziert. In der Tat gibt es Anzeichen und im Grundgesetz selbst liegende Gründe dafür, dass es „in der geistigen Welt der Legalität [...] eine Art von säkularem Ewigkeitscharakter“[516] zu gewinnen scheint; auch lässt sich anhand des politischen Diskurses beobachten, dass das Grundgesetz oft als eine Art „Moralsubstitut“[517] fungiert. Und schließlich sei daran erinnert, dass nicht nur die Feierstunden zu den 30er, 40er oder 50er Jubiläen des Grundgesetzes zuweilen durch einen pastoral hochgestimmten Ton geprägt waren, sondern selbst die massiv antiklerikalen Protagonisten der Französischen Revolution vor mehr als 200 Jahren auf Anleihen aus dem religiösen Bildprogramm der großen monotheistischen Religionen für die Präsentation der Menschenrechtserklärung nicht verzichten mochten und sich an Moses’ Gesetzestafeln orientierten.[518]

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Gegenüber derartigen Sakralisierungstendenzen bleibt nüchtern festzuhalten, dass die Verfassung als rechtliche Grundordnung des politischen Gemeinwesens Menschenwerk und als solches fehlbar und vergänglich ist. Sie kann gerechte politische wie gesellschaftliche Verhältnisse anstreben und Vorkehrungen für deren Realisierung treffen, muss dabei aber stets die pluralistische Vielfalt der Auffassungen und Werthaltungen der Bürger in Rechnung stellen, auf deren Annahme und Akzeptanz sie mehr als auf alles andere angewiesen ist. Ohnehin kann die Verfassung immer nur vorletzte Fragen regeln, entscheiden oder einer (temporären) Lösung zuführen. Für die letzten Fragen nach dem guten, gelingenden Leben und seinem Sinn hat jeder, um Max Webers dramatische Wendung zu gebrauchen,[519] seinem eigenen Dämon zu folgen.[520]

§ 1 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Deutschland › Bibliographie

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