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1. Eine komplizierte Beziehung: Staat und Nation in Frankreich

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Am 28. Januar 1960 gab General de Gaulle vor dem Staatsrat (Conseil d’État) eine seiner tiefsten Überzeugungen kund: „Frankreich gibt es nur durch den Staat.“[1] Voraussetzung der grande nation ist demnach ein starker Staat. Das ewige Frankreich ist eine „Erfindung“,[2] und zwar großenteils eine Erfindung des Staates; das zentralisierte Frankreich bildet keine Einheit, sondern eine „Vielfalt.“[3] Der Staat hat diese Vielfalt zur Einheit gebracht und als „Nation“ geschaffen. Dies war ein langwieriger Vorgang, der seine Anfänge im ausgehenden Mittelalter findet und durch eine bewusste Politik des absolutistischen Staates weitgehend abgeschlossen wurde.[4] Alexis de Tocquevilles bekannter These zufolge führte die große Revolution einen Zentralisierungsprozess des Verwaltungsapparates zu Ende, der lange zuvor von der Monarchie in Gang gesetzt worden war.[5] Die Kapetinger fügten nicht nur Territorien und Bevölkerungen wie nach Plan zusammen, sie schufen auch die nationale Ideologie, den Mythos, der dieser zusammengesetzten Substanz die äußere Form einer Einheit gab.[6] Es war das „Wunder der Kapetinger.“[7] Hobbes’ Satz war – jenseits der Fiktion – Wirklichkeit geworden: „For it is the Unity of the Representer, not the Unity of the Represented, that maketh the Person One.“[8] Diese Einheit ist jedoch ideeller Natur, da Frankreich – konkret betrachtet – eine Vielfalt bleibt: „Weder die Staatsgewalt, noch die gesellschaftliche Ordnung und das kulturelle System können eine Einheit schaffen, die mehr als nur äußerer Schein wäre.“[9]

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„L’État c’est moi“. Dieses geflügelte Wort hat Ludwig XIV. in Wirklichkeit nie ausgesprochen.[10] Der Grundgedanke des französischen Absolutismus zielte nicht darauf, den Staat in der Person des Monarchen völlig aufgehen zu lassen, sondern darauf, Privatmann und „Krone“ radikal voneinander zu trennen.[11] Doch trifft Francis Bacons Zitat über die englische Monarchie auch hier zu: König und Krone sind „untrennbar und doch verschieden“[12]. Das Corpus mysticum rei publicae hatte den König als Haupt und die drei Stände als Glieder. Die „Nation“ war keine autonome Größe, denn „die Nation bildet in Frankreich keinen Körper. Sie liegt voll und ganz in der Person des Königs.“[13] In einer berühmten Stellungnahme vor dem Parlement de Paris prangert Ludwig XV. am 3. März 1766 den Pariser Gerichtshof an, der den Anspruch erhebt, als Vertreter der Nation agieren zu dürfen. Seine Kritik begründet Ludwig mit dem Argument, damit „wage“ man, die Nation als „einen vom Monarchen getrennten Körper“ zu errichten.[14] Diese aus dem 15. Jahrhundert tradierte Vorstellung[15] war bis zum Ende der absoluten Monarchie Bestandteil der königlichen Ideologie. État-Nation: der Bindestrich steht für Frankreichs König. Grundlage der juristischen Konstruktion des monarchischen Staatsrechts war ebendiese fingierte Montage. Unter Zugrundelegung einer besonderen Vorstellung vom mystischen Körper, und mit Hilfe juristischer Sinnsprüche, entwickelten die Légistes eine Theorie des französischen Königtums und festigten Staat und Nation zugleich.[16] Hierdurch wurde der Staat verfasst und die absolute Monarchie rechtlich begrenzt.[17]

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Die Revolution brachte einen neuen Verfassungsbegriff hervor, der mit dem alten Konzept der monarchischen „Verfassung“ nicht in Einklang zu bringen war. „Eine Gesellschaft, in der weder die Garantie der Rechte zugesichert noch die Trennung der Gewalten festgelegt ist, hat keine Verfassung“, heißt es in Art. 16 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789.[18] Der Hauptunterschied zwischen altem und neu verfasstem Staat war jedoch tiefgründiger. Da die Nation nunmehr naturrechtlich[19] die Souveränität und somit die verfassunggebende Gewalt innehatte,[20] war diese denknotwendig dem Staat und seinem Haupt vorauszusetzen. Die Nation bildete eo ipso einen Körper, koppelte sich von König und Staat ab und verfasste selbständig ihren Staat.[21] Nachdem der Staat die Nation hervorgebracht hatte, musste nun die Nation ihrerseits den Staat schaffen. In diesem dialektischen Umschlag der bisherigen Verhältnisse liegt das wesentliche Problem der Entstehung des revolutionären Staates. Die durch den Staat geformte Nation hatte größte Schwierigkeiten, den passenden Staat zu errichten. Sie lassen sich, von einem sozial-historischen Standpunkt aus, darauf zurückführen, dass die französische Gesellschaft noch lange Zeit und mindestens durch das 19. Jahrhundert hindurch den Staat benötigen sollte, um selbst geschaffen zu werden.[22] Es mangelte an gesellschaftlicher Autonomie gegenüber dem Staat. Die institutionelle Frage wurde zum beständigen Problem der französischen Verfassungsgeschichte. Lange Zeit wurde angenommen, erst die Fünfte Republik, die eine subtile Mischung monarchischer und republikanischer Elemente hervorbrachte, habe diese Frage endlich gelöst.[23] Damit übernahm man, bisweilen eher unkritisch, de Gaulles Vorstellung und Darstellung. „Ich habe keine neue Republik gegründet“, erklärte er, „sondern der Republik nur ein Fundament gegeben, das sie noch nicht hatte. [...] Ich habe versucht, Monarchie und Republik zur Synthese zu bringen.“[24] Heute wird dieser monarchisch-republikanische Ausgleich vermehrt in Frage gestellt. Frankreichs strukturelle Schwierigkeiten, sich international weiter zu behaupten und innenpolitisch passende gesellschaftliche Steuerungsmodelle zu entwerfen, werden immer häufiger auf die institutionellen Verhältnisse der Fünften Republik zurückgeführt. Demokratiedefizit, parlamentarische Schwäche, Übergewicht der Exekutive, Unzulänglichkeiten bei der Verfassungsgerichtsbarkeit und eine notwendige Globalreform der Justiz: Das sind die Grundmotive, auf die sich ein immer lauter werdender Ruf zur Gründung einer Sechsten Republik stützt.[25]

§ 2 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Frankreich › I. Ursprung und Entstehung des Verfassungssystems der Fünften Republik › 2. Die Fünfte Republik und die französische Verfassungstradition

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