Читать книгу Unplugged - Max Trommsdorff - Страница 12
Athen
ОглавлениеIn Athen angekommen, wollte ich mir als Erstes die Akropolis ansehen. Lange vor der Ankunft sah ich allerdings erst mal etwas anderes: eine riesige Dunstglocke über der Stadt. Dementsprechend war die Luftqualität, als ich am Hauptbahnhof ausstieg.
Rein in die U-Bahn und nichts wie zu den Tempelanlagen. Auf dem Weg: fünf Straßenmusiker, Hunderte von Souvenirläden und Tausende von Touristen. Der Eintritt zur Akropolis kostete zwölf Euro. Ich überlegte. Dann lief ich das Areal ab, welches man kostenlos besichtigen konnte. Auch dort gab es einige alte Säulen und Mauerreste zu sehen, die verstreut in den Parkanlagen rings um den Berg lagen. Jetzt hier ein Picknick mit griechischen Leckereien zwischen all den altertümlichen Ruinen … gedacht, getan!
Ich fragte mich durch bis zu einem riesigen Markt, wo es alles gab, was das Herz begehrte. In der Luft hing der Duft von Gewürzen und frischem Fisch. Nach den enthaltsamen Tagen in Patras wollte ich es mir gut gehen lassen.
Bei einem Händler hatte ich die Wahl zwischen fünfzehn verschiedenen Olivensorten. Ich probierte sie alle. Es gab schwarze, grüne und braune, kleine salzige und große saftige, ölige und getrocknete, pikante und milde. Von den zwei besten Sorten – einer mit Knoblauch gefüllten dicken grünen und einer kleinen milden braunen, die beinahe süß schmeckte – kaufte ich mir jeweils eine Tüte. Dazu Ziegenkäse, Walnüsse, Datteln, ein Fladenbrot, ein paar Weintrauben und ein Stück Halva als Nachspeise.
Von einem italienischen Touristen erfuhr ich, dass der Eintritt zu den Tempelanlagen sonntags kostenlos sei. Es war Freitag. So lange wollte ich also noch hierbleiben und dann weiter ziehen. Mein Plan bestand darin, erst mal bis nach Israel zu kommen. Dort würde ich sicher wieder gut Straßenmusik machen können. Das hieß, ich musste durch die Türkei und Syrien. Anhand einer Weltkarte im Schaufenster eines Reisebüros plante ich meinen weiteren Weg. Bei den vielen Inseln vor dem türkischen Festland musste es eine Schiffsverbindung dorthin geben. Im Piräus, dem Hafen von Athen, erfuhr ich mehr.
Direktverbindungen in die Türkei gab es nicht, aber eine gute Anbindung sei zum Beispiel die Insel Kos, ein Ticket der dritten Klasse koste 26 Euro. Das Visum für die Türkei bekäme man normalerweise kostenlos bei der Ankunft im Hafen.
»Normalerweise kostenlos«, dachte ich mir und musste mir wieder bewusst machen, wie einfach das Reisen in Europa geworden war. Kostenlos, ohne Visum, ohne Geldwechseln und so gut wie ohne Grenzkontrollen. Das war viel wert.
»Und 26 Euro ist das Günstigste?«, fragte ich routiniert.
»Ja«, sagte der Mann in gebrochenem Englisch. »Es gibt nur drei Klassen, und im Moment haben wir gerade Nebensaison. In drei Wochen wird es schon wieder teurer.«
Zurück ins Zentrum, Schlafplatz suchen. Als ich beim Haupteingang der Akropolis ankam, folgte ich einem kleinen Gehweg, direkt unter den hohen Felsenmauern entlang. Am Berghang drängten sich all die wunderschönen alten Häuschen mit ihren charakteristischen weißen Mauern, durch deren enge Gassen sich der schmale Weg bahnte. Mal ein paar Stufen den Berg hinaus, dann wieder eine kleine Treppe bergab – wie durch ein Labyrinth folgte ich dem Pfad, bis ich einen kleinen Park erreichte. Ich fand eine versteckte Bank, von der aus ich einen herrlichen Blick auf die Akropolis hatte.
Die folgenden zwei Tage verliefen ruhig. Ich lernte etwas Griechisch und las viel. Faust, der Tragödie erster Teil. Schwer zu sagen, was mich am Tag meines Abmarsches dazu getrieben hatte, Goethe einzupacken. Wahrscheinlich weil das Reclam-Heftchen das Kleinste und Leichteste war, das ich zum Lesen finden konnte. Vielleicht aber auch, weil ich mich an meine missratene Schulzeit erinnerte. Wie sehr hatte ich mich damals durch die Pflichtlektüren quälen müssen! Seite für Seite, im Schneckentempo. Für eine Reise also hocheffizient: lange Lesezeit bei minimalem Gewicht. Und siehe da, die meiste Zeit allein und nicht der üblichen Informationsflut ausgesetzt, hungerte ich förmlich nach geistiger Nahrung. Was mir noch vor einigen Jahren ein Graus gewesen war, wurde nun von mir verschlungen, Zeile für Zeile, Vers für Vers. Und mehr noch: Die Worte berührten mich.
Am Sonntag besichtigte ich dann die Akropolis, die »hochgelegene Stadt« und erfuhr, dass in der Antike jede griechische Stadt ihre eigene Akropolis gehabt hatte.
Am Montagabend befand ich mich auf der Fähre nach Kos. Als der Morgen dämmerte, liefen wir im Hafen von Kos ein. Keine zehn Kilometer von der Insel entfernt konnte man das türkische Festland sehen. Nachdem die Fähre vertäut war und die Luken geöffnet, ging ich von Deck. Noch sehr schläfrig, kam eine ältere Dame mit Moped auf mich zu.
»Brauchen Sie ein Zimmer für nur fünfzehn Euro die Nacht?«, fragte sie ein wenig aufdringlich.
Ich war zu müde, um ein klares »Nein« zu artikulieren.
»Es hat Dusche und WC und kostet normalerweise 25 Euro, weil es ein Doppelzimmer ist. Aber für Sie … «
»Also eigentlich … «, sagte ich noch mal, »kann ich mir kein Zimmer leisten. Danke trotzdem für Ihr Angebot.«
Ich dachte, damit sei das Gespräch beendet, dabei kam sie gerade erst auf Touren.
»Aber es gibt keine billigeren Übernachtungsmöglichkeiten hier. Zwanzig Euro ist normalerweise das Minimum. Wie lange wollen Sie denn bleiben?«, fragte sie mit unerbittlichen Gesichtsausdruck.
»Also ehrlich gesagt weiß ich noch gar nicht, ob ich überhaupt bleibe. Ich will nämlich eigentlich in die Türkei.«
»In die Türkei? Das kann ich Ihnen sagen, das nächste Schiff geht am – hm, ich glaube schon nächsten Donnerstag.«
»Am Donnerstag?«, fragte ich nach. »Sind Sie sicher? Ich habe gehört, dass jeden zweiten Tag ein Schiff ausläuft.«
»Ach ja!«, stieß sie hervor und bemühte sich um ein Lächeln. »Sie haben vollkommen recht. Das nächste Schiff geht ja bereits morgen.«
Das hörte sich schon besser an.
»Und wissen Sie auch von wo?« Ihr war anzusehen, dass sie nicht gekommen war, um Reiseauskünfte zu erteilen.
»Gleich hier im Hafen – da vorne am Ende des Docks«, sagte sie und zeigte auf eine Gruppe von Booten, die im Wind schaukelten. »Aber was ist jetzt mit dem Zimmer?«
»Ich hab Ihnen doch schon gesagt … «
»Also gut, ich verstehe, dass Sie nicht viel Geld haben. Sagen wir zwölf Euro.«
Jetzt hatte sie mich schon fast. Wer weiß, wann ich in der Türkei wieder eine Dusche finden würde. Vielleicht sollte ich diese Gelegenheit doch nutzen?
»Wie weit ist es denn von hier?«
»Wenn Sie sich zu mir auf den Roller setzen, sind wir in zwei Minuten da.«
Ich willigte ein und stieg zu ihr auf das kleine Mofa, es wurde eng. Durch meinen schweren Rucksack hatte ich Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten, ich musste mich an ihrer Hüfte festklammern. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.
Noch einmal um die Kurve, und wir waren da. Sie führte mich die Treppen hinauf zu meinem Zimmer. Nichts Besonderes, aber sauber und ordentlich. Per Handschlag vereinbarten wir, dass ich bis morgen blieb, und jetzt endlich sah sie zufrieden aus. Sie empfahl mir noch ein paar Lokale, in denen man günstig essen konnte, dann ließ sie mich allein.
Nachdem ich ausgiebig geduscht hatte, wollte ich zum Hafen, um mich nach der Abfahrtszeit zu erkundigen. Seit Wochen war ich nun das erste Mal ohne die 22 Kilo unterwegs, die ich sonst auf dem Rücken trug; nur mein Tagebuch hatte ich dabei.
Aus Gewohnheit hielt ich Ausschau nach einem geeigneten Platz zum Musizieren. Mittlerweile hatte ich dafür einen Blick bekommen. Der perfekte Standort hatte in etwa folgendermaßen auszusehen: viele Leute, möglichst in ruhiger Umgebung, am besten ohne Straßenverkehr. Die Akustik war in kleinen Gassen zwischen hohen Gebäuden sehr gut, am schlechtesten auf weitläufigen Plätzen – optimal war, wenn meine Umgebung mir eine Art Resonanzraum bot.
Hier in Kos – die Stadt hieß genau wie die Insel – mangelte es momentan vor allem an einem: den Menschen. Offensichtlich beschränkte sich der Tourismus auf die Sommermonate. Die Hotels und Restaurants hatten geschlossen oder wurden gerade renoviert, den wenigen Passanten, denen ich begegnete, war anzusehen, dass sie eine ruhige Zeit hatten. Sogar die Möwen, die auf ihren Pfählen im Wasser saßen, machten unter dem grauen Himmel einen trägen Eindruck.
Der Hafen dehnte sich recht weit am Küstenstreifen entlang aus und war für die unterschiedlichsten Schiffstypen unterteilt: Auf der einen Seite schaukelte eine Handvoll Yachten und kleine Segelboote im Wasser; außerdem etliche kleine Fischkutter, von denen manche schon so alt waren, dass sie nur noch als Ausstellungsstücke dienen konnten, und dort, wo ich heute Morgen aus Athen angekommen war, lagen zwei Fähren und ein großes, graues Kriegsschiff der griechischen Marine vor Anker.
Bei den Fähren angelangt, sprach ich einen Seemann an, der gerade damit beschäftigt war, eines der Schiffe zu beladen.
»Guten Tag, sprechen Sie Englisch?« Mein Standardspruch auf Griechisch.
Ich verstand seine Antwort nicht einmal ansatzweise, sie ließ aber den Rückschluss zu, dass er kein Englisch sprach. Weil er trotzdem einen freundlichen Eindruck machte, wollte ich dennoch den Versuch starten, mit meinen wenigen Wörtern weiterzukommen.
»Will – Schiff – Türkei«, stammelte ich.
Als Antwort kam mir wieder ein Schwall abenteuerlich klingender Silben entgegen, worauf nun der zweite Satz, den ich noch halbwegs fließend konnte, zum Zug kam: »Ich verstehe nichts.«
Der Matrose schien sich prächtig über meine Sprachkenntnisse zu amüsieren. Nun machte er Anstalten, mir pantomimisch weiterzuhelfen.
Er legte seinen Kopf mit geschlossenen Augen auf die gefalteten Hände und zeigte mit den Fingern eine Eins an. Das hieß wohl so viel wie einmal schlafen.
Ich deutete daraufhin auf mein Handgelenk und zuckte mit den Schultern. Er verstand, dass ich damit die Uhrzeit meinte.
Es war nicht das erste Mal während meiner Reise, dass ich mich mit Händen und Füßen verständigte. Aber dies war bestimmt das originellste dieser »Gespräche«.
Am Ende hatte ich alle Informationen: Abfahrtszeit, Ort, Kosten. Ich fand mich also damit ab, einen Tag länger auf Kos zu bleiben, und überlegte, was ich in dieser Zeit tun solle.
Zuallererst setzte ich mich auf eine Bank mit Blick aufs Meer und schrieb weiter an meinem Tagebuch. Wie immer fiel es mir schwer, etwas zu Papier zu bringen; erst überlegte ich Ewigkeiten, strich dann jedes dritte Wort wieder aus, um es durch ein anderes zu ersetzen, und fand das Geschriebene anschließend schlimmer als zuvor. Die einzigen Dinge, die mich anspornten weiterzuschreiben, waren das wunderschöne Tagebuch, die Befürchtung, alles bisher Erlebte bald vergessen zu können, und die Tatsache, dass sich auf den bisherigen Seiten doch eine kleine Besserung meines Schreibstils erahnen ließ.
Am späten Nachmittag machte ich mich auf, um trotz der ungünstigen Verhältnisse Straßenmusik zu machen. Ich hoffte, dass am Abend etwas mehr los sei.
Bald fand ich eine kleine, im Hinblick auf die Akustik sehr gut gelegene Straße, in der keine Autos fahren konnten. Einziges Manko: kaum Menschen. Ich packte meine Gitarre aus und platzierte wie gewohnt die zusammengefaltete grüne Hülle vor mir auf dem Boden, damit meine Kappe nicht so schnell schmutzig wurde. Das erste Geldstück legte ich selbst hinein. Keine Ahnung, ob es etwas nutzte – ich hatte damit angefangen, als es ein paarmal am Anfang so schlecht lief, dass ich dachte, die Leute wüssten nicht, dass man dort Geld hineinwerfen darf. Ich nannte dieses Geldstück immer meinen »Ködereuro«.
Ich fing mit ein paar langsamen Stücken an, die hier wunderbar zu spielen waren, weil es so schön leise war. In Athen wären solche Lieder nie möglich gewesen. Dort hatte ich laut schreien und voll in die Saiten hauen müssen, um bei dem allgegenwärtigen Lärmpegel gehört zu werden.
Nach vier Liedern lag der Ködereuro immer noch ganz allein in meiner Mütze. Bislang waren erst zehn oder fünfzehn Menschen vorübergegangen, allerdings merkte ich dabei wieder, dass wenige Zuhörer einen entscheidenden Vorteil haben: Der Einzelne fühlt sich viel mehr angesprochen.
In solchen Situationen war es so gut wie ausgeschlossen, dass jemand stehen blieb, um zuzuhören – dazu mussten viel mehr Menschen unterwegs sein oder bereits andere dastehen und zuhören. Der Erste zu sein, ist schwer. Welche Kraft es war, die die Menschen daran hindert, wusste ich nicht; vielleicht Angst, Respekt oder Scheu – jedoch sollte ich bald feststellen, dass es solche Berührungsängste in anderen Kulturen nicht gab.
Erst beim sechsten Lied bekam ich fünfzig Cent. Damit war ich erlöst. Denn prinzipiell gab ich nie einen Platz auf, ohne die erste Spende erhalten zu haben – auch wenn es manchmal sehr lange dauern konnte. Also nahm ich die fünfzig Cent plus Ködereuro aus meinem Hut und packte meine Sachen. So schlecht wie heute war es nur selten gewesen. Fünfzig Cent in einer knappen halben Stunde! Lust zum Weiterspielen hatte ich trotzdem noch, ich musste nur einen besseren Platz finden …
Hundert Meter weiter fand ich ihn. Auf den ersten Blick sah er gar nicht so viel besser aus, aber schon nach dem ersten Stück – Mrs. Robinson, von Simon & Garfunkel – war klar, dass ich die richtige Wahl getroffen hatte. Drei Leute waren stehengeblieben, ich bekam sogar Applaus. Und es ging weiter bergauf. Nach und nach kamen die Inhaber der Geschäfte auf die Straße und hörten zu, dreimal bekam ich sogar einen Fünf-Euro-Schein. Ich spielte, bis ich mit meinem Repertoire wieder von vorne beginnen musste. Eine freundliche Dame brachte mir etwas zum Trinken, und als meine Stimme nach zwei Stunden allmählich am Ende war, wurde ich von ein paar älteren Männern auf ein Glas Ouzo eingeladen.
Schon wurde ich ausgefragt. Warum ich das hier mache und wo ich sonst noch überallhin reisen wolle. Sie meinten, es sei schön, dass hier auf Kos auch um diese Jahreszeit einmal etwas los sei – normalerweise seien die Wintermonate todlangweilig. Als ich ihnen jedoch erzählte, dass ich morgen in die Türkei weiterreisen wollte, zeigten sie sich wenig erfreut.
»Warum ausgerechnet in die Türkei?«, fragten sie mich in ihrem gebrochenen Englisch.
»Ich will nach Israel. Da muss ich wohl durch die Türkei … «
Besorgte Mienen.
»Ist das denn so schlimm?«, wollte ich wissen.
»Ja«, sagte einer. »Die Türken sind schlechte Menschen.«
»Nein«, widersprach ein anderer. »Sie sind keine schlechten Menschen, aber unfreundlich und ungehobelt.«
»Und außerdem kann es gefährlich werden für einen Alleinreisenden wie dich«, fiel der Dritte ein. Er neigte sich nach vorne. Ernst sah er mir in die Augen und sagte mit gedämpfter Stimme: »Sie klauen dort wie die Raben.«
Dass sie übertrieben, lag auf der Hand. Doch wie sehr, konnte ich schlecht einschätzen.
»Gibt’s denn wenigstens Landesteile, wo es etwas sicherer ist zum Reisen?«
»Keine Ahnung«, sagte der Erste, »ich glaube, es ist überall ziemlich ähnlich. Du müsstest es doch eigentlich wissen«, meinte er zu dem Dritten. »Du warst doch schon mal dort, oder nicht?«
»Nein«, antwortete er kopfschüttelnd. »Aber mein Bruder, und was der erzählte, reicht.«
»Ihr seid noch nie in der Türkei gewesen? Das ist doch nur eine halbe Stunde von hier.«
»Und wenn’s nur eine Minute wär!«
»Woher wisst ihr dann so genau, wie es dort ist?«
»Ich weiß nicht, wie es dort ist«, sagte der Zweite von ihnen. »Aber ich weiß, was ich höre. Und das ist immer das Gleiche und nie etwas Gutes.«
Nach dem dritten Glas Ouzo verabschiedete ich mich von den Männern und machte mich auf den Weg zu meiner Unterkunft.
Allen Erzählungen zum Trotz befand ich mich am nächsten Morgen auf dem Schiff in die Türkei.