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Seefeld
ОглавлениеAnna und ihre Familie erwarteten mich ungeduldig. Sie wohnten in einem großen, alten Bauernhaus mit so niedrigen Türen, dass ich mich bücken musste, um hindurchschlüpfen zu können. Annas Eltern und ihre kleine Schwester waren noch wach, nur der jüngste Bruder schlief schon. Die Kinder mussten morgen alle in die Schule, nur wegen meiner späten Ankunft durften sie noch ein wenig wach bleiben. Ich hing meine nassen Sachen zum Trocknen in den Heizungskeller, bekam zu essen und durfte in der Sauna mein Nachtlager aufschlagen.
Am nächsten Morgen wurde ich in aller Frühe geweckt. Anna bestand darauf, dass ich sie noch zur Schule begleitete, denn mittags, wenn sie zurückkam, würde ich schon lange unterwegs sein. Mir stand ein langer und anstrengender Weg bevor. Knapp 25 Kilometer waren es bis nach Innsbruck, und es hatte die ganze Nacht weiter geschneit. Annas Mutter packte mir eine Brotzeit ein, denn unterwegs würde es kaum Gelegenheit geben, etwas zu besorgen. Und Einkaufen ging ja sowieso nicht ohne Geld. Denn das war der Deal für die Reise: kein Geld. Nur eine Gitarre.
Obwohl mir die Schultern vom gestrigen Marsch noch schmerzten, wanderte ich quietschvergnügt durch die malerische Winterlandschaft. Zum ersten Mal zeigte sich jetzt sogar die Sonne am Himmel. Wie Mauern zogen sich die Schneemassen neben den geräumten Wegen nach oben. Ich kam gut voran, nur an die neugierigen Blicke musste ich mich gewöhnen: Die Leute sahen mich an wie einen Außerirdischen, was weniger an mir, sondern an dem 22-Kilo-Monstrum auf meinen Schultern lag. Vor allem wegen der Gitarre, deren Hals oben weit herausragte und den ich vorsichtshalber in eine hellgrüne Mülltüte eingepackt hatte, erinnerte das Ganze doch irgendwie an moderne Kunst.
Ich blinzelte in die Sonne. So ganz hatte ich immer noch nicht begriffen, was ich da eigentlich vorhatte: Max Trommsdorff, 24 Jahre alt, gebürtiger Mittenwalder, ehemaliger Regensburger Domspatz, Träumer, Schulabbrecher, Musiker und Sänger, Bioladenbesitzer und Kreisrat, legt sein Amt nieder, verkauft seinen Laden, steigt aus allen Musikgruppen aus, verlässt seine Freundin und geht allein auf Weltreise. Einfach so. Egal wohin, Hauptsache weg. Wieso tut man sich das an, sich und seinen Liebsten daheim? Irgendetwas in mir wusste, dass ich die Antwort auf diese Frage finden würde.
Nach zweistündigem Marsch erreichte ich den Zirler Berg. Auch dort lief es sich besser als gedacht, die Wege waren entweder geräumt oder der Schnee so festgetrampelt, dass ich nicht mehr einsank. Außer mir keine Menschenseele. Dann der Abstieg ins Inntal: Faszinierend, wie rasant sich das Klima in nur wenigen hundert Höhenmetern ändern kann! Türmte sich der Schnee gerade noch mannshoch, wurde die Schneedecke nun immer dünner, und obwohl ich dadurch deutlich schneller vorankam, begann jetzt der anstrengendste Teil. Es war inzwischen später Nachmittag, und bis auf eine zehnminütige Brotzeit war ich durchmarschiert. Meine Schultern schmerzten mit jedem Schritt mehr. Als ich mich unter einem Baum ausruhen wollte, wäre ich beinahe eingeschlafen. Nur mühsam konnte ich mich aufraffen, meinen Weg fortzusetzen. Ich begann, die Schritte zu zählen. Bei hundert sattelte ich meinen Rucksack um, damit sich die Belastung verteilte. Mal trug ich ihn vor dem Bauch, mal stellte ich die Riemen anders ein. Irgendwann balancierte ich ihn, was für meinen Rücken das Angenehmste war, sogar auf dem Kopf. Es fühlte sich an wie eine halbe Ewigkeit. Ich kämpfte.
Endlich in Innsbruck. Doch auch jetzt ging es noch einmal quer durch die Stadt. Straßenbahn zu fahren schied aus, aufgrund des mangelnden Geldes und wegen der Ehre. Irgendwann erreichte ich die Wohnung meines Bruders Lugi. Ich schleppte mich ins Schlafzimmer und knickte auf dem Fußboden zusammen. Ins Bett schaffte ich es nicht mehr. Mann, war ich fertig!
Lugi hatte ein Konzert mit Stimmbruch und kam erst am nächsten Morgen heim. Stimmbruch, so hieß eine der Musikgruppen, die ich zu Hause zurückgelassen hatte, ein sechsköpfiges A-cappella-Ensemble, das fortan ohne meine Bassstimme sang.
Während seiner Abwesenheit kümmerte sich Lugis Freundin Tina um mich. Sie kochte etwas Leckeres – ich hatte einen Bärenhunger – und backte mir sogar extra einen Laib Brot, der mir drei Tage als Proviant dienen sollte. Ich ahnte noch nicht, wie wichtig das sein sollte, schlief wie ein Stein und ließ mir am nächsten Morgen viel Zeit, um mich von dem gestrigen Gewaltmarsch zu erholen. Lugi kam heim und hatte mir etwas mitgebracht, etwas, das ich zu Hause in Mittenwald vergessen hatte: mein Tagebuch. Ein hübsches, rotbraunes, gebundenes, handliches Schreibbuch. Ich hatte sein Fehlen noch gar nicht bemerkt, wäre für es aber auch den Weg nach Mittenwald zurückgelaufen! Ein Geschenk von Doris, einer meiner treuesten Kundinnen. Als Hobbykalligrafin hatte sie mir auf die erste Seite des Tagebuchs einen Abschiedssegen geschrieben:
Gott unser Herr über Anfang und Ende Gestern, heute und morgen Möge dir auf deiner großen Reise in die Zukunft stets nahe sein Sosehr wir dich vermissen werden Genauso wissen wir aber auch Dass in den neuen Gegenden Gottes In denen du nun leben und arbeiten wirst Deine Güte, dein Humor und deine Sprache willkommen sein werden Möge der Herr Krankheit und Gewalt von dir fernhalten Deine Gabe, Feinde in Freunde zu verwandeln, weiterhin segnen Und dich in deiner Sanftmut bestärken Möge er uns noch oft an deine Freundlichkeit Und deine Geduld erinnern Und uns allen ein fröhliches Wiedersehen bescheren.