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Österreich

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»Geh doch erst morgen, Max!«, meinte meine Mutter, als ich den Rucksack endlich gepackt und sein ganzes Gewicht das erste Mal auf den Schultern hatte.

»Auf den einen Tag hin oder her kommt’s doch wirklich net an.«

Draußen dämmerte es bereits, und an Tagen wie diesen hat man das Gefühl, es dämmere überhaupt nur. Die Berge um Mittenwald hüllen sich in schwere weiße Schneewolken, und wo die Sonne am Himmel steht, lässt sich nicht erahnen.

»Ich hab’s eh schon einen Monat nach hinten geschoben. Eigentlich wollte ich schon lang weg sein.« Ich zog Schultergurte und Hüftgurt enger und stellte mich auf die Waage. 91 Kilo, ohne Schuhe. Ich rechnete. Ich 67, grob zwei die Klamotten, macht für den Rucksack … 22 Kilo. Mehr als befürchtet.

Tatsächlich hatte ich den Aufbruch ursprünglich für den 1. Januar geplant. Hätte ja gut gepasst, Neujahr und Neubeginn. Doch der Übergabetermin war den neuen Ladenbesitzern zu früh gewesen, deswegen hatten wir uns auf den 1. Februar geeinigt. Und den hatte ich mir nun in den Kopf gesetzt.

Eine kleine Abschiedsrunde ließ ich mir trotzdem nicht nehmen. Kurz zum Laden, der seit diesem Morgen nicht mehr der meinige war – Geschmaxsachen sollte er trotzdem weiterhin heißen –, und dann weiter zur Zenzi und zum Weiser Edi, die direkt nebenan wohnten.

Wenig später stapfte ich im Riedboden durch den tiefen Neuschnee. Ununterbrochen schneite es dicke Flocken, so wie schon die ganzen letzten Tage. Bis auf das Knarzen meiner Schritte herrschte Stille. Ein letztes Mal drehte ich mich um. Zu gern hätte ich mich von der vertrauten Silhouette des Karwendels verabschiedet, doch daraus wurde nichts. Ich stand vor einer weißen Wand. Wann ich Mittenwald das nächste Mal wiedersehen würde? Und meine Familie? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass ich alle Freiheit der Welt hatte, Zeit und meinen Reisepass

Das Ziel für heute: Seefeld, sechzehn Kilometer südlich von Mittenwald. Dort wohnte Anna mit ihrer Familie. Sie hatte mir angeboten, die erste Nacht bei ihr zu verbringen. Zwar hatte ich eigentlich geplant, nichts zu planen, ganz geklappt hat das offenbar nicht. Zumindest nicht für die ersten zwei Tage. Denn auf dem Weg Richtung Süden lag nicht nur Annas Zuhause, sondern auch das meines Bruders Lugi in Innsbruck, und über beides war ich angesichts des Wetters auch heilfroh. Ansonsten stand bloß fest, dass es in den warmen Süden ging.

In Scharnitz, dem ersten Ort hinter der österreichischen Grenze, lag noch mehr Schnee. Hier kannte ich mich nicht mehr gut aus, und weil der Weg im schwächer werdenden Tageslicht immer schwerer zu erkennen war, wanderte ich auf der Langlaufloipe weiter. Ich konnte zwar auch hier nicht viel mehr sehen, doch ich erspürte die harten Langlaufspuren und konnte mich daran orientieren. Nur wenn ich in einer überraschenden Kurve vom Weg abkam, steckte ich bis zur Brust im Tiefschnee. Mit meinem großen, schweren Rucksack da rauszukommen, war Hochleistungssport. Die Gamaschen von meinem Bruder Ferdl hatten sich jetzt schon als sinnvoll erwiesen.

Müde und nass erreichte ich endlich die Straße Richtung Leutasch. Es war inzwischen stockfinster, und weil ich Bedenken hatte, allzu spät bei Anna aufzukreuzen, versuchte ich mein Glück beim Trampen. Die Voraussetzungen waren günstig: Der Grenzübergang zwischen Mittenwald und Scharnitz war wegen akuter Lawinengefahr gesperrt, der ganze Verkehr rollte hier entlang. Schon hielt das erste Auto. Ein weißer Lieferwagen mit italienischem Kennzeichen. Der Fahrer, Alessandro, sah alles andere als vertrauenerweckend aus: schulterlange Haare, Dreitagebart, Zigarette im Mundwinkel, nervöser Blick, gebrochenes Englisch. Hätte ich mir die gut gemeinten Ratschläge einiger Mittenwalder, nicht gleich jedem zu vertrauen, zu Herzen genommen, hätte ich definitiv nicht einsteigen dürfen. Sei’s drum, rein mit mir.

Alessandro stieg auf’s Gaspedal. Nichts rührte sich. Die Räder drehten gnadenlos durch, so, als wäre ich mit meinem Rucksack genau das Gewicht gewesen, das gefehlt hatte, um die Reibung auf den schneeglatten Straßen zu überwinden. Anstatt vorwärtszufahren, driftete der Wagen immer weiter Richtung Straßengraben ab. Ich stieg aus und versuchte anzuschieben. Hoffnungslos.

»Hast du Winterreifen drauf?«, rief ich auf Englisch nach vorne. Alessandro legte den Kopf schräg und lächelte zerquetscht.

»No, I’m sorry … this morning, there was no snow in Bologna!«

Alessandro fuhr bei diesen arktischen Verhältnissen tatsächlich mit Sommerreifen! Aber immerhin fanden wir Schneeketten im Auto, doch weder er noch ich hatte je welche montiert. Eine Beschreibung gab es auch nicht, einzig ein Foto auf der Verpackung.

Wir fuhren los. Die Ketten machten furchtbar Krach, doch Alessandro beruhigte mich und meinte, das sei schon normal. Nach ungefähr einem halben Kilometer wurde es noch mal deutlich lauter. Jetzt gab auch Alessandro zu, dass vielleicht nicht alles in Ordnung sei, und wollte bei der nächsten Gelegenheit nachsehen. Doch so weit kamen wir nicht. Mit einem Schlag war es leise. Wir hatten eine der Schneeketten verloren, und die Bastelei ging von vorne los. Diesmal unter erschwerten Bedingungen, denn einige Kettenglieder waren stark verbogen.

Alessandro musste Richtung Füssen und in der Nähe von Immenstadt ein Werk von Bosch beliefern. Sein Auslieferungstermin stand inzwischen so unmittelbar bevor, dass er eigentlich schon nicht mehr einzuhalten war. Er wurde immer hektischer. Nervös rauchte er eine Zigarette nach der anderen und fluchte unentwegt. Ich war froh, nicht alles zu verstehen. Ohne Jacke und Handschuhe versuchte er, die tiefgefrorenen Metallteile aneinander zu befestigen. Sein Körper zitterte, wohl nicht nur wegen der Eiseskälte, auch aus Verzweiflung.

Ich half, so gut es ging. In der einen Hand meine Taschenlampe, von der ich nicht gedacht hatte, sie so bald und dringend zu brauchen, mit der anderen assistierte ich. Um Alessandro vor dem vollständigen Nervenzusammenbruch zu bewahren, schlug ich vor, noch ein Auto anzuhalten. Ihm war jede Hilfe recht. Schon der erste Autofahrer fuhr rechts ran und half – ein Mittenwalder um die sechzig. Er sprach kaum Englisch, also dolmetschte ich. Als er von den Sommerreifen erfuhr, wäre er am liebsten in sein Auto gestiegen und weitergefahren.

Mit seiner Hilfe schafften wir es aber, die noch unversehrte Schneekette richtig anzulegen, die andere konnte er jedoch nicht mehr retten. Mit nur einer Schneekette kam Weiterfahren allerdings nicht in Frage, und weil wir sonst keinen Ausweg wussten, hielten wir ein weiteres Auto an. Ein Volltreffer: vier junge Bundeswehrsoldaten, zwei davon Kfz-Mechaniker. Sie schafften es, die Schneekette wieder so hinzubiegen, dass sie ihrer Meinung nach die restliche Fahrt halten müsste. Vorsichtshalber fuhren sie noch ein Stück hinter uns her und spannten die Kette nach ein paar hundert Metern noch einmal an. Erst als alles ohne Probleme lief, verabschiedeten wir uns mit einem Licht- und Hupkonzert. Jetzt sah ich Alessandro das erste Mal lächeln. Obwohl die Zeit mehr und mehr drängte, nahm er den Umweg über Seefeld in Kauf und setzte mich am Bahnhof ab. Die Uhr zeigte kurz vor elf, als ich mich von meiner ersten Reisebekanntschaft verabschiedete.

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