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Abschied von Konya

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Am letzten Abend war die Stimmung gedrückt. Sinan bot mir zwar mehrfach an wiederzukommen – am besten, sagte er, mit der ganzen Familie und für mindestens ein halbes Jahr –, aber es war doch allen klar, dass es, wenn nicht der allerletzte, dann zumindest der letzte Abend für sehr lange Zeit sein würde.

Sinan war mittlerweile mehr als ein Freund. Er war die Türkei für mich. Durch ihn und seine Familie hatte ich die Möglichkeit erhalten, das Land zu erleben. Zehn Tage versorgte er mich mit allem, was im Rahmen seiner Verhältnisse möglich war, ohne auch nur die geringste Gegenleistung zu erwarten.

Zum Abschied gab mir Fatima Proviant für die nächsten zwei Tage mit; ich notierte mir Sinans Adresse und hoffte, ihn und seine Familie eines Tages wiederzusehen.

Der Bus nach Antakya fuhr wieder über Nacht. Es war viel zu eng und unbequem, als dass ich viel hätte schlafen können. Aber ich hatte noch genügend Reserven und war deswegen bester Laune, als ich in Antakya drei Stunden auf meinen Anschlussbus zur syrischen Grenze wartete. So schwer mir der Abschied von Konya gefallen war und so schöne Stunden ich dort verbracht hatte, genauso sehr freute ich mich, wieder unterwegs zu neuen Abenteuern zu sein.

Zwei verschiedene Busse fuhren nach Syrien: einer nach Aleppo, einer nach Damaskus. Leider gab es keine Karte von Syrien, deshalb konnte ich nicht sehen, welche der beiden Routen schneller nach Israel führte. Ohne also zu wissen, wohin die Fahrt ging, entschied ich mich für Damaskus.

Neben dem Busfahrer gab es immer eine zweite Person, so eine Art Busführer. Seine Hauptaufgabe bestand darin, an den Busbahnhöfen der Städte und Ortschaften den Zielort des Busses zu brüllen. Von so einem Busführer wurde ich beim Einsteigen gefragt, ob ich schon ein Visum für Syrien hätte.

Natürlich hatte ich keines.

»Das bekomme ich an der Grenze«, erwiderte ich viel überzeugter, als ich war. Er blickte mich irritiert an.

»Visum – Grenze«, sagte ich noch mal langsam und deutlich. Damit schien er zufrieden zu sein und ließ mich einsteigen. Ich war beunruhigt. Bekam man als Deutscher wirklich sein Visum an der Grenze, so wie bei der Einreise in die Türkei? Ich hatte bislang tatsächlich wenig darüber nachgedacht.

Nach einer Stunde erreichten wir die türkische Grenzkontrolle, alle stiegen aus, die Pässe wurden gestempelt. Dann sollte es eigentlich weitergehen. Alle saßen wieder auf ihren Plätzen, aber es rührte sich nichts. Wir warteten und warteten. Weder der Busfahrer noch der Busführer waren da. Erst nach knapp anderthalb Stunden kam einer von ihnen zurück, um uns mitzuteilen, dass der Bus aus rechtlichen Gründen nicht zur Ausreise zugelassen wurde. Zufällig kam nur fünf Minuten später ein zweiter, halb leerer Bus vorbei, der ebenfalls Richtung Damaskus unterwegs war. Dieser gehörte jedoch einem anderen Busunternehmen, was zu dem Zeitpunkt aber noch niemand wusste. Klar wurde das spätestens, als der Busführer begann, das Geld für die Fahrt zu kassieren. Da befanden wir uns bereits im Niemandsland zwischen dem türkischen und syrischen Grenzposten. Die meisten weigerten sich, ein zweites Mal für die Fahrt zu bezahlen. Bald entbrannten hitzige Wortgefechte zwischen dem Busführer und den einzelnen Fahrgästen. Der eine Teil war arabischer, der andere türkischer Abstammung, das konnte man deutlich an ihren Gesichtern und unterschiedlichen Kleidungsstilen erkennen. Der Busführer musste deshalb mal auf Arabisch, mal auf Türkisch um sein Geld kämpfen. Erst als er drohte, den Bus anzuhalten und zahlungsunwillige Passagiere aussteigen zu lassen, gaben die meisten nach. Bis zu mir kam er nicht mehr. Wir hatten den syrischen Grenzposten erreicht.

Alle stiegen aus und machten sich auf den Weg in die Schalterhalle des großen kastenförmigen Grenzgebäudes. Nur zwei der acht Schalter hatten geöffnet. Davor großes Gedränge. Während ich überlegte, an welchem ich mich anstellen sollte, kam der Busführer zu mir geeilt.

»Schnell, schnell! Bus fährt!«, rief er in gebrochenem Englisch. Natürlich hätte ich den Bus ohne mich fahren lassen können; aber ich hatte noch keine Ahnung vom Einreiseprcedere und hoffte, irgendwie über die Grenze zu kommen.

Zu meiner Verwunderung sah es anfangs gut aus. Etwa einen Kilometer nach der Grenze wurde der Bus jedoch von der Grenzpolizei kontrolliert. Schwer bewaffnet gingen die Polizisten durch die Reihen von Sitz zu Sitz. Bei mir angelangt, verglich einer mein Gesicht mit dem Passfoto. Dann blätterte er zu den Amtsvermerken.

»Wo ist Ihr Visum?«, fragte er. Es hörte sich nicht so an, als spräche er oft Englisch. Diesen Satz aber konnte er.

»Äh … ich weiß nicht, ist das nicht … « Er wartete nicht, bis ich ausgesprochen hatte, sondern rief etwas zu seinem Kollegen an der Tür.

»Aussteigen!«, befahl er. Meinen Reisepass behielt er.

Enttäuscht griff ich meine Sachen und stieg aus. Der Bus fuhr ohne mich weiter. Ich stand auf der staubigen Schotterstraße, während ein Polizist meine Personalien aufnahm.

Dann wurde ich wieder zurück zur Grenze gebracht. Sie übergaben mich dem Chef der Grenzpolizei, um für ein Visum vorzusprechen – zum Glück ohne weitere Konsequenzen. Nun musste ich allerdings zwei Stunden warten. Weil der Chef selbst nicht anwesend war, wurde ich in das Büro seines Stellvertreters gebracht, bekam ein Glas Tee angeboten und erfuhr, dass »danke« auf Arabisch »schukran« heißt.

Dann trat ein großgewachsener Mann ein und setzte sich hinter den Schreibtisch. Er hatte strenge, tiefliegende Augen und einen buschigen Schnauzer. Der junge Polizist nahm augenblicklich Haltung an, und auch ich hatte plötzlich das Gefühl, aufstehen zu müssen. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, deutete er mir mit einer Handbewegung an, wieder Platz zu nehmen, und vertiefte sich in einen Blätterstoß auf seinem Schreibtisch. Als er ihn durchgelesen und unterschrieben hatte, blickte er zu mir auf und winkte mich zu sich.

Er fing mit mir zu sprechen an, doch ich verstand nichts. Der junge Polizist unterbrach ihn, offensichtlich mit der Bemerkung, dass ich kein Arabisch verstehe, worauf sich der stellvertretende Polizeichef über den Schnurrbart strich, räusperte und nach einer kurzen Pause auf Englisch fragte: »Sprechen Sie Englisch?«

»Ja«, antwortete ich.

»Und Sie kommen aus Deutschland?«

»Richtig«

»Schön«. Er blätterte in meinem Reisepass.

»Was arbeiten Sie?«

»Also im Moment gar nichts, ich bin nur Tourist. Davor hatte ich allerdings mal ein kleines Geschäft für Obst und Gemüse und so, aber die meiste Zeit verbrachte ich eigentlich … «

»Okay, okay, okay … genug. Wieso wollen Sie nach Syrien?«

Um nach Israel zu kommen, dachte ich.

»Um mir das Land anzusehen«, sagte ich. So viel hatte ich bereits gelernt: in arabischen Ländern nichts von Israelplänen erzählen.

»Für wie lange?«

»Hm – vielleicht so ein bis zwei Wochen. Macht das denn irgendwelche Unterschiede?«

»Wie viel Geld haben Sie dabei?«

Wie viel Geld ich dabei habe? Was geht ihn das denn bitte an, fragte ich mich, und befürchtete, Bestechung zahlen zu müssen, um an ein Visum zu kommen.

»Nicht sehr viel«, antwortete ich und hoffte, er sei damit zufrieden. Stattdessen beugte er sich nach vorne über seinen Schreibtisch und sah mir eindringlich in die Augen.

»Wie viel?!«

Mir wurde mulmig. In meiner Hosentasche befanden sich in einer kleinen Plastiktüte umgerechnet knapp 35 Euro, vorwiegend in Türkischen Lire. Das meiste Geld jedoch, 150 Euro, hatte ich im Geheimfach meines Gürtels versteckt. Ich zog die Plastiktüte aus der Tasche und begann, das Geld zu zählen.

»Ich habe genau 64 Lire und 95 Kurus, sowie acht Euro und fünf Cent«, antwortete ich.

»Ist das alles?«, wollte er wissen.

»Ja«, sagte ich und versuchte, so ruhig wie möglich zu bleiben. »Das ist alles.«

Soll er mir mein Geld eben abnehmen! Die 150 Euro finden sie niemals, und das reicht locker bis nach Israel.

»Kreditkarte oder Ähnliches?«

»Nein.«

»Nein?! Travellerschecks oder sonstige Möglichkeiten, an Geld zu kommen?«

»Nein«, antwortete ich. »Gar nichts.«

Damit lehnte er sich wieder zurück in seinen Sessel. Er atmete tief durch.

»Was ist das?«, fragte er und deutete auf den Gitarrenhals, der aus dem Rucksack ragte.

»Eine Gitarre«, sagte ich.

»Können Sie spielen?«

»Geht so.«

»Spielen Sie etwas!«

»Wie – hier … und jetzt?!«

»Na klar!« Er lehnte sich zurück und verschränkte seine Hände hinter dem Kopf.

Mir blieb nichts anderes übrig. Blackbird, Paul McCartney – damit kann man nichts falsch machen, dachte ich. Fühlte sich ziemlich beschissen an, auf Befehl Musik zu machen. Noch während ich die ersten Töne zupfte, fing der stellvertretende Polizeichef an, mit seinem Untergebenen zu reden. Erste Strophe, ich begann zu singen, was sie offensichtlich herzlich wenig interessierte. Die beiden ließen sich in ihrem Gespräch nicht im Geringsten stören.

»Genug jetzt! Packen Sie Ihre Gitarre wieder ein.«

Ich packte sie ein und bekam meinen Reisepass zurück.

»Wir können leider nichts für Sie tun«, sagte er. »Sie müssen nach Ankara zur syrischen Botschaft und dort ein Visum beantragen.«

»Aber – das ist doch viel zu weit weg!«, platzte es aus mir heraus. Eigentlich war klar, dass ich damit nichts mehr erreichen konnte. Er ging gar nicht auf meine Bemerkung ein.

»Haben Sie noch weitere Fragen?«

Oh ja, die hatte ich! Warum ich zum Beispiel stundenlang warten musste, nur um zu erfahren, dass er nichts für mich tun könne? Oder wie viel Geld man dabeihaben müsse, um ein Visum zu bekommen? Oder ob er mehr auf Stones als auf Beatles stehe? Irgendwie musste ich eine andere Lösung finden, um den weiten Weg nach Ankara zu vermeiden.

Ich verließ die Grenze und fuhr zurück nach Antakya. Eine Gruppe türkischer und syrischer Kleinkrimineller nahm mich in ihrem Bus kostenlos mit. Sie schmuggelten hochprozentigen Alkohol und Zigaretten von Syrien über die Grenze, doch wurde mir das erst bei der Ankunft in einem düsteren, abgelegenen Viertel Antakyas klar. Mittlerweile war es dunkel geworden. Wir warteten. Keiner stieg aus. Zwei Wagen fuhren vor, um die Ware entgegenzunehmen. Als Streit in der Schmugglerbande entbrannte, stieg ich unauffällig aus und suchte das Weite.

Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Glücklicherweise fand ich irgendwie zu dem Busbahnhof zurück, an welchem ich heute Morgen gestartet war. In einer Art Kantine, in der düstere Gestalten herumlungerten, verbrachte ich die Nacht. Einer von ihnen bot an, mir kostenlos ein syrisches Visum zu besorgen. Er müsse sich nur eine halbe Stunde lang meinen Reisepass ausleihen. Ich lehnte ab.

Ich schlief nur kurz und sehr schlecht, hatte am Morgen aber einen neuen Plan gefasst: Ich wollte ein weiteres Mal zur syrischen Grenze, in der Hoffnung, diesmal mit dem richtigen Polizeichef reden zu können, und zudem würde ich die 150 Euro offenlegen. Falls sie wirklich Bestechung verlangten, überlegte ich, könne ich mir die Höhe immer noch überlegen – gewaltsam abnehmen würden sie mir das Geld wohl kaum. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass die Einreisebestimmungen in dieser Region stark von der Willkür der Beamten abhängen, was es auszutesten galt.

Fairerweise hatte mir das Busunternehmen, welchem gestern die Ausreise an der türkischen Grenze verweigert worden war, auf meine Anfrage hin kostenlos ein zweites Ticket für die Fahrt nach Damaskus ausgestellt. Bald befand ich mich also wieder an der syrischen Grenze. Und diesmal ging mein Plan auf.

Ich musste beim richtigen Polizeichef vorsprechen, gab zu, knappe 185 Euro bei mir zu haben, und bekam ein Visum, ganz ohne Gitarre spielen zu müssen. Bestechung wurde nicht verlangt, nur die übliche Gebühr von dreißig Euro. Einziger Haken: Die Formalitäten dauerten beinahe 24 Stunden. Ich übernachtete in der Schalterhalle, wobei ich Bekanntschaft mit Monika aus Schweden machte. Sie wartete ebenfalls auf ihr Visum. Die erste Reisende, die ich traf, welche ähnlich wie ich unterwegs war. Einen Monat lang hatte sie in der Türkei verbracht, nun wollte sie die arabische Welt erkunden. Ich bewunderte ihren Mut, und wir holten das Beste aus der langen Wartezeit heraus.

Am nächsten Morgen war wieder der stellvertretende Polizeichef zugange. Ich bekam einen gehörigen Schrecken, als er mich von weitem erblickte, und zog meine Mütze tief ins Gesicht. Erst als ich wenig später meinen Reisepass mit allen erforderlichen Stempeln und Unterschriften in der Hand hielt, atmete ich auf.

Monika musste noch länger auf ihr Visum warten. Ich hingegen hatte das Glück, bei dem mir mittlerweile allzu gut bekannten Busunternehmen endgültig mein Ticket für die Fahrt in die syrische Hauptstadt einzulösen. Wir tauschten unsere E-Mail-Adressen und wünschten uns viel Glück.

Dann stieg ich ein.

Unplugged

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