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Richtung Brennerpass

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Erst nachmittags verließ ich Lugi und Tina. Jetzt konnte das Abenteuer richtig losgehen. Keine Freunde und Bekannte mehr auf dem Weg, kein Bett, das abends auf mich wartete. Essen hatte ich genug für die nächsten zwei Tage – wie es danach weitergehen sollte? Keine Ahnung. Zumindest im Moment machte ich mir deswegen allerdings keine Sorgen.

»Entschuldigung, wie komm ich denn zum Brenner?«

»Ja wia, zu Fuaß? Des sen fei über dreiß’g Kilometer, des geat si heit nia und nimmer aus!«

Es fiel nicht immer leicht, eine vernünftige Antwort von den Leuten zu bekommen, ohne dass ich erklären musste, dass ich erstens nicht unbedingt heute anzukommen brauchte und zweitens der genaue Weg egal sei, solange die Richtung stimmte.

Als ich irgendwann zu einem verlassenen Gasthof kam, stand fest: Wollte ich heute Nacht ein Dach über dem Kopf haben, musste ich hier mein Glück versuchen. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen. Betteln war nicht meine Sache, doch mir blieb nichts anderes übrig.

»Ähm, guten Abend, ich hätt eine Frage.«

»Ja bitte?«

Ich hatte gleich ein ungutes Gefühl. Der groß gewachsene Mann hinter dem Tresen sah aus, als ahnte er schon, was kam.

»Ich bin auf Reisen und suche einen Platz zum Schlafen, bloß … ähm, leider hab ich kein Geld dabei.«

Er überlegte nicht lang.

»Da können wir leider nichts für Sie tun. Wir sind ein Hotel.«

Stille.

»Ich, äh … ich meine, ich brauche ja gar kein Bett, ich könnte mich auch in die Garage legen, ich hab ja alles dabei, Schlafsack, Isomatte … «

»Nein, tut mir leid. Das machen wir nicht.«

Ich gab noch nicht auf. Ich war müde, hungrig und wollte alles, nur nicht wieder zurück auf die kalte, dunkle Straße.

»Und … und wenn ich dafür etwas mithelfe? Ich könnte putzen oder abspülen … ?«

Er antwortete nichts, sondern sah mich mit einem Blick an, der unmissverständlich sagte, dass es Zeit war zu gehen. Ich hatte verstanden. Halblaut murmelte ich ein »Danke trotzdem«, dann stand ich wieder draußen. Ich atmete tief durch. Ich musste mich jetzt um eine Alternative kümmern, wenn ich bei den eisigen Temperaturen nicht unter freiem Himmel schlafen wollte.

Direkt neben dem Gasthof stand ein weiteres, älteres Gebäude, welches offenbar unbewohnt war, der Schnee um das Haus lag vollkommen unberührt. Es dort versuchen? Nein, dazu fehlte mir der Mut. Einen Steinwurf entfernt befand sich noch eine kleine, alte Scheune. Ich blickte zurück zum Gasthof. Würden sie mich von dort aus sehen? Bestimmt nicht, dafür war es inzwischen zu dunkel. Also nichts wie hin. Die Tür war nicht abgesperrt, die alten, rostigen Scharniere sträubten sich jedoch, bewegt zu werden.

Das fahle Mondlicht fiel in einen kleinen, mit Gerümpel vollgestellten Raum. Ein modriger Geruch kam mir entgegen. Ich drehte mich noch mal um, blickte in die dunkle Nacht und hielt inne. Klare Sache, etwas Besseres würde ich heute nicht mehr finden. Ich setzte meinen Rucksack ab, kramte meine Taschenlampe hervor und betrat die Hütte. Der Schein der Taschenlampe fiel auf alte Bretter, kaputte Möbel, ausgediente Elektrogeräte und allerhand Müll. Von der Decke herab hingen lange, staubige Spinnweben. Da, eine Tür! Sie musste in ein Nebenzimmer führen. Der Weg dorthin war durch das ganze Gerümpel versperrt, doch soweit man von hier aus sehen konnte, musste das Zimmer größtenteils leer sein. Mein Lichtschein fiel auf etwas Weißes am Boden. Da lag Schnee! Ich lehnte mich so weit es ging nach vorne und leuchtete an die Decke. Das Dach hatte ein Loch, es war zum Teil eingebrochen. Auch sonst befand sich dieser Raum in einem weitaus schlechteren Zustand als der andere. Es lag auf der Hand, was es zu tun gab. Nach einer Weile hatte der ganze Schrott den Platz gewechselt, der erste Raum war leer und der andere voll. Ich fand sogar einen kleinen Reisigbesen, mit dem ich die Spinnweben entfernte und den staubigen Erdboden kehrte. An den zahlreichen Nägeln, die aus den Holzwänden ragten, hing ich meine Sachen auf, in die sauberste Ecke legte ich meine große Plastiktüte – darauf Isomatte, meinen knallroten Biwaksack, Schlafsack und Innenschlafsack.

Jetzt wäre mein Nachtlager richtig gemütlich gewesen, zumindest, wenn es 25 Grad wärmer gewesen wäre. Es gab viel zu viele Löcher in den Holzwänden, als dass sich die Scheune durch meine Körperwärme hätte erwärmen können. Dick eingemummelt lag ich da, wie eine fette rote Raupe. Noch war mir warm. Im Laufe der Nacht wurde es aber bitterkalt, und trotz der vielen Schichten kroch mir die Kälte in die Knochen.

Als ich am nächsten Morgen die Augen aufschlug, lag neben mir nicht mehr mein Wassersack, sondern ein Eisklotz. Und in meine eisigen Kleider und Schuhe zu steigen, wurde zur Überwindung des Tages.

Es dauerte lange, bis die Kälte der Nacht aus meinen Gliedern wich. Die winterliche Morgensonne war zwar schön anzuschauen, sie wärmte aber kaum. Ich wanderte wie gestern weiter die Straße entlang und hoffte, heute irgendwann den Brenner zu erreichen. Von weitem sah ich die Europabrücke, die das Wipptal in einer Höhe von 190 Metern imposant von einer Seite zur anderen überspannte. Es donnerte im ganzen Tal, wenn ein Lastwagen über die Brücke fuhr. Nach einem mageren Frühstück vor einem geschlossenen Gasthaus versuchte ich mein Glück beim Trampen. Ein junges Pärchen hielt an, sie waren gerade zum Skifahren unterwegs. Es waren nur zehn Minuten Fahrt, doch die Wärme im Auto fühlte sich an wie eine wohltuende heiße Badewanne. Ich bedankte mich bei den beiden und fand einen Fußweg durch die idyllische Winterlandschaft, der geradewegs den Berg hinaufführte. Offensichtlich nicht der schnellste Weg nach Italien, aber vielleicht der Schönste. Ich bekam Lust zu singen. Da fiel mir etwas noch Besseres ein. Ich kramte meine Mundharmonika hervor und fing an zu spielen. Ich war blutiger Anfänger, aber fest entschlossen, das zu ändern. Um meinen Lebensunterhalt in den nächsten Wochen und Monaten mit Straßenmusik zu verdienen, passte eine Mundharmonika einfach zu gut. Ein ideales Reiseinstrument: klein, handlich, pflegeleicht … und neben dem Gesang für meine Zuhörer in spe auch eine willkommene musikalische Abwechslung.

Nach einer traumhaften Wanderung erreichte ich auf über 1700 Metern die Wallfahrtskirche Maria Waldrast. Auf der Terrasse des anliegenden Gasthauses genoss ich das Panorama sowie den wärmenden Sonnenschein.

Das Gasthaus war gut besucht, klar – bei dem Wetter! Eigentlich die ideale Gelegenheit. Ich blickte mich um. Hm … sollte ich wirklich? Ich fragte den Wirt. Er hatte nichts dagegen. Damit gab es keine Ausrede mehr. Also raus mit der Gitarre, zum ersten Mal! Meine kleine, hübsche Wandergitarre, ein Geschenk von meinem Vater, auf ihr hatte er vor vielen Jahren seine ersten Akkorde gelernt. Jahrgang 1947, beide, Gitarre und Paps. Ich stimmte. Stehen oder sitzen? Die ersten Leute drehten sich um. Erstes Lied? The Boxer, Simon & Garfunkel, im Stehen.

»I’m just a poor boy Though my story’s seldom told …«

Das Eis war gebrochen. Wie oft hatte ich das Lied mit Lugi gesungen, zweistimmig, oder auch dreistimmig zusammen mit Christoph, unserem ersten Tenor von Stimmbruch. Ganz allein hatte ich es noch nie gesungen, zumindest konnte ich mich nicht mehr daran erinnern. Als die zweite Stimme nicht wie gewohnt einsetzte, fühlte ich mich das erste Mal so richtig einsam. An das Gefühl musste ich mich wohl gewöhnen. Zweite Strophe.

»When I left my home and my family I was no more than a boy …«

Erst jetzt merkte ich, wie gut der Text zur Situation passte. Der letzte Akkord verklang, Applaus. Eine Ansage musste her.

»Schönen guten Tag, ich bin der Max aus Mittenwald, das liegt in Oberbayern … da, so diese Richtung … «, dabei suchte ich Norden und wedelte in der Luft herum, »und bin grad am Anfang einer längeren Reise, die ich nur mit Musik finanziere … also, das ist zumindest der Plan.« Ich grinste. »Ich würd jetzt noch ein paar Stücke spielen, wenn’s Ihnen nix ausmacht. Wenn doch, sagen Sie einfach Bescheid, dann höre ich auf.« Verhaltener Beifall.

Ich spielte noch drei Lieder, bis mich eine ältere Dame zum Schweigen brachte, indem sie mich auf eine Gulaschsuppe einlud. Von den restlichen Gästen bekam ich 7,20 Euro – mein erstes verdientes Geld! Das hätte auf jeden Fall schon mal für die nächste Mahlzeit gereicht.

Noch sechzehn Kilometer verblieben bis zum Brenner, die ich über eine viel befahrene Straße zurücklegen musste. Den halben Weg hatte ich schon hinter mir, als ein Wagen älteren Semesters seitlich ran fuhr. Endlich! Drinnen saß ein junger und ziemlich netter Kerl aus Stuttgart, unterwegs, um seine Freundin in Bozen zu besuchen. Zehn Minuten später erreichten wir den Brenner. Das erste Land wäre geschafft!

Zeit für die Startbilanz: In Österreich gab es sehr nette und weniger nette Menschen. Schneeketten immer von hinten aufziehen. Einnahmen 7,20 Euro, Ausgaben o Euro. Außerdem gab es erste Verluste zu verzeichnen: Meine Zahnbürste und Zahnpasta lagen vermutlich noch in der Hütte, in der ich die letzte Nacht geschlafen hatte. Und – wesentlich schmerzhafter – ich musste meine Mundharmonika irgendwo auf dem Weg verloren haben. Ein sehr frühes Aus für meine Mundharmonika-Karriere!


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