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Italien
ОглавлениеBozen. Dass die Stadt unter 300 Meter lag, konnte man spüren. Hier ließ es sich sogar ohne Mütze und Handschuhe gut aushalten, und meine Gamaschen fristeten ihr Dasein ab sofort im tiefen Innersten meines Rucksacks – der einzige Schnee, den man noch sah, lag hoch oben auf den Bergen.
Alles sprach für eine erste richtige Straßenmusik-Session. Ein schöner Platz fand sich leicht. Bozen ist reich an kleinen Gassen, gut besuchten Fußgängerzonen und verkehrsberuhigten Marktplätzen. Am Waltherplatz packte ich die Gitarre aus. Das passte, denn der Platz verdankte seinen Namen nicht irgendeinem Walther, sondern Walther von der Vogelweide, der vielleicht vor 800 Jahren an ebendieser Stelle seine Weisen gezwitschert hatte.
Wie unterschiedlich doch die Menschen reagierten! Die Mimik der Leute zu lesen, wurde für mich zum Fest. Neugierig, ignorierend, manche sahen angestrengt weg, andere lächelten, und ab und zu blieb auch jemand stehen und applaudierte zwischen den Stücken. Warf jemand etwas in meinen Hut, versuchte ich mir gleich ein »Mille grazie« anzugewöhnen.
Nach einer Stunde fiel mir nichts mehr ein. Ich packte zusammen und zählte die Münzen. Knapp achtzehn Euro. Das müsste das ja schon für eine Übernachtung in einer Jugendherberge reichen. Doch das kam erst einmal nicht in Frage. So schnell es ging, wollte ich mir ein finanzielles Notpolster aufbauen, falls ich einmal in Schwierigkeiten geraten sollte. Meine Strategie für heute Nacht war eine andere.
»Entschuldigung, ich suche ein Irish Pub, gibt’s so was in Bozen?«
»Jo freilich, sel isch lei da vorn um de Eckn!« War das jetzt Italienisch oder Deutsch?
Fünf Minuten später betrat ich eine gemütliche, etwas verrauchte Kneipe, mit viel dunklem Holz und Guinness-Postern an den Wänden – wie wohl die meisten Irish Pubs auf der Welt. Ich stellte meine Sachen in eine Ecke und setzte mich an die Bar.
Neben mir saß Luigi. Er hatte hier zwei Funktionen: Barkeeper und Stammgast. Ein Wort von meiner Reise genügte, und Luigi hatte schon ein Guinness für mich bestellt. Am Nebentisch saßen zwei Jugendliche, sie fragten mich geradeheraus, ob ich ihnen etwas vorspielen könne. Ich musste nicht lange überlegen. Die Musik wurde ausgemacht, und weil es eines der wenigen Stücke war, dessen Text ich ganz konnte, spielte ich noch mal den Boxer. Gemeinsam überlegten wir anschließend, wo es irgendeine kostenlose Übernachtungsmöglichkeit für mich gäbe.
»Wie wär’s mit dem Jugendzentrum?«, fiel dem Mädchen ein, »die sind doch super nett dort!«
Das Jugendzentrum lag nur zwei Straßen weiter. Es war Freitagabend und proppenvoll. Es dauerte einige Zeit, bis wir uns zum Chef durchgefragt hatten, der auf meine Anfrage mit einem entspannten »Such dir eine Couch aus!« reagierte.
Ich hatte vor, ein paar Tage in Bozen zu verbringen. Wie ich gestern festgestellt hatte, eignete sich die Stadt ideal für meine Straßenmusik. Außerdem wollte ich ja ein paar Brocken Italienisch lernen. Und wo konnte man das besser als in einer Gegend, in der beinahe jeder fließend Deutsch und Italienisch spricht!
Noch zwei weitere Übernachtungen verbrachte ich in Bozen. Die erste im Freien vor einem Benediktinerkloster, ganz zentral in der Stadt. Nachts wurde es kühl, war aber nicht mehr frostig. Wie sich das anfühlte? Klar, in den Augen der Passanten war ich ein Penner. Und ganz frei machen konnte ich mich von dem Gefühl der Minderwertigkeit, den ihre Blicke auslösten, nicht. Noch nicht.
In der zweiten Nacht hatte ich mehr Glück. Diesmal hieß mein Wohltäter Giuseppe. Er warf mir einen Zettel in den Hut, darauf stand: »Call me, we will have a hot tea!« Dazu Adresse und Telefonnummer. Beim Tee blieb es nicht. Giuseppe wohnte zwar in nur einem Zimmer, doch das teilte er gerne. Und noch viel wichtiger: Er hatte eine Dusche. Mit warmem Wasser! Nach den Katzenwäschen am kalten Bozener Bahnhofsklo ein echter Luxus!
Als ich Bozen schließlich den Rücken kehrte, hatte ich achtzig Euro angespart, und nach drei Tagen Pause tat es gut, wieder etwas Bewegung zu haben. Ich marschierte zwanzig Kilometer bis nach Auer, südlich von Bozen. So recht wusste ich nicht, ob ich in dem kleinen Ort bleiben oder doch weitersollte, und stapfte planlos durch die Straßen. Irgendwann landete ich am Bahnhof. An der Infotafel das Streckennetz der italienischen Bahn. Wohin wollte ich eigentlich? Den ganzen Stiefel runter in den Süden? Nein, ich hatte eine bessere Idee: So schnell wie möglich ans Meer! Und dann mit dem Schiff weiter. Ich fragte am Schalter nach den Preisen. Venedig dreizehn, Genua 26 Euro. Klare Sache! Die Tragweite dieser Preisauskunft ahnte ich dabei noch nicht. Nicht weniger als die Entscheidung, ob in östliche oder in westliche Richtung um den Globus, war damit gefallen. Auf nach Venedig!
Die Berichterstattung zu meinen fünf Tagen in Venedig fällt kurz aus – weil ich meine Aufzeichnungen verloren hatte. Stattdessen will ich die entstandene Lücke nutzen, um aufzulisten, was ich tagein, tagaus so mit mir herumschleppte:
·Gitarre
·Tagebuch
·Kamera
·Rucksack
·Schlafsack
·Isomatte
·Biwaksack
·Kochgeschirr
·Besteck
·Innenschlafsack
·Wassersack
·Regenmantel
·Gamaschen
·Jacke
·Fleecejacke
·Hut
·Sonstige Klamotten
·Ein Paar Schuhe
·Körperpflegemittel
·Reiseapotheke
·Taschenmesser
·Stirnlampe
·Musikalisches
·Glücksbringer
· Goethes Faust, Der Tragödie erster Teil
·Wasseraufbereiter
·Sonstiger Kleinkram (Kerze, Nähzeug, Haushaltsgummis und Sicherheitsnadeln, Plastiktüten und natürlich ein Feuerzeug, einige Passfotos, ein paar Kopien meines Reisepasses, eine Kopie meiner Geburtsurkunde)
Eine gute Freundin meiner Eltern hatte mir noch einen Spezialgürtel mitgegeben, der ein verstecktes Geheimfach enthielt. Nicht sonderlich geräumig, aber groß genug für eine Kopie meines Ausweises und eventuell etwas Papiergeld. Sie sagte, wenn ich mal alles verlieren oder ausgeraubt werden sollte, hätte ich wenigstens das Wichtigste noch bei mir.