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3. Chrysipp aus Soloi

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Chrysipp ist nach dem glaubwürdigen Zeugnis Apollodors bei Diogenes Laertius58 in der 143. Olympiade (= 208–204 vor Chr.) im Alter von 73 Jahren gestorben. Seine Geburt ist also zwischen 281 und 277 vor Chr. anzusetzen. Er entstammte wie Zenon einer Kaufmannsfamilie; sein Vater Apollonios war von Tarsus nach Soloi übergesiedelt.59 Seine Muttersprache war nicht das Griechische, sein Griechisch auch späterhin nicht perfekt.60 Dass er, wie Diogenes Laertius vermerkt,61 vor seinem Studium der Philosophie Langstreckenläufer war, ist vermutlich eine Anekdote, die seine Persönlichkeit und sein Philosophieren kennzeichnen soll und in Parallele zur Anekdote vom vormaligen Faustkämpfer Kleanthes gebildet. Im Studium scheint er zwischen den philosophisch konkurrierenden Lehrern Kleanthes und Arkesilaos bzw. Lakydes gependelt zu sein. Von Kleanthes übernahm er die stoischen Dogmen, von den Skeptikern Arkesilaos und Lakydes lernte er das logisch-dialektische Geschick, sie präzise zu formulieren, überzeugend zu begründen und gegen skeptische Einwände zu verteidigen.62 Nach Plutarch ergriff er zunächst gar Partei für die Skeptiker, schrieb ein Werk in sechs Büchern gegen die Zuverlässigkeit der Erkenntnis über die Wahrnehmung, um später in einem Werk in sieben Büchern in stoischem Sinn deren Zuverlässigkeit zu verteidigen.63 Mit der Formulierung skeptischer Argumente gegen dogmatische Annahmen suchte er Arkesilaos noch zu überbieten,64 als Stoiker gelang es ihm, die stoische Philosophie „durch sorgfältige, begriffliche und logische Durchbildung gegen die skeptischen Gründe zu verschanzen und (ihr) nicht nur für seine Zeit das Übergewicht über die übrigen athenischen Schulen zu verleihen“.65 Später hieß es in der philosophischen Szene: „Wäre da nicht Chrysipp, gäbe es keine Stoa“.66 Angesichts seiner dialektischen Kompetenz ging das Sprichwort um, dass, wenn es bei den Göttern Dialektik gäbe, es nur die des Chrysipp sein könne.67 Die bei Diogenes Laertius nur in Teilen erhaltene Liste seiner Abhandlungen enthält immerhin 118 Titel zur Logik bzw. Dialektik.68 Chrysipp hat ungemein viel, und gleichgewichtig zu allen Themen der Philosophie geschrieben; die Überlieferung weiß von 705 ‚Büchern‘. Dabei legte er allem Anschein nach wenig Wert auf schöne sprachliche Form und korrekten Stil, scheute nicht Wiederholungen und Korrekturen und sparte nicht mit ausführlichen Zitaten aus Dichtung und Philosophie.69 An philosophischem Selbstbewusstsein mangelte es ihm offensichtlich nicht.70 Sein Leben scheint indes recht bescheiden und ohne äußere Höhepunkte verlaufen zu sein; er hat seine Zeit und Energie wohl ganz der Wissenschaft und philosophischen Sache gewidmet. Nach Auskunft seiner alten Gesellschafterin, so eine Anekdote, habe er täglich 500 Zeilen geschrieben.71 Seine Schriften widmete er keinem der hellenistischen Machthaber, wohl aber einigen seiner Schüler und Verwandten. Einer Einladung an den ptolemäischen Hof in Ägypten nachzukommen, überließ er seinem Kommilitonen Sphairos.72 Das Bürgerrecht, das ihm die Stadt Athen anbot, nahm er dagegen im Unterschied zu seinen Vorgängern an.73

Chrysipp wirkte nicht nur über seine Schriften; er war auch ein höchst erfolgreicher Lehrer. Diogenes Laertius vermerkt unter Berufung auf Demetrios von Magnesia,74 er habe es als erster gewagt, auch im Lykeion unter freiem Himmel (vermutlich für ein breiteres Publikum) vorzutragen. Namentlich bekannt sind uns nicht weniger als 60 seiner Schüler.75 Spuren in der Geschichte der stoischen Philosophie haben aber nur seine Nachfolger in der Leitung der Schule, Zenon aus Tarsus und Diogenes aus Seleukeia hinterlassen.

Über sein Ende notiert Diogenes Laertius zwei verschiedene Versionen. Nach der einen sei er an einem Lachkrampf gestorben. Nachdem ein Esel seine Feigen weggefressen habe, habe er zur ‚Alten‘ gesagt, sie solle ihm doch unvermischten Wein zu trinken geben, damit er sie hinunterspüle, und habe sich über diesen seinen Scherz zu Tode gelacht. Diese anekdotische Version ist ersichtlich einer auf den Biographen Hermippos zurückgehenden historisch glaubwürdigeren Version nachgebildet. Diese besagt, Chrysipp sei nach einer Vorlesung im Odeion von seinen Schülern zu einer Opferfeier geladen worden, habe dort unvermischten Wein getrunken, einen Schwindelanfall erlitten und sei nach fünf Tagen verstorben.76

Sein Schüler Zenon aus Tarsus übernahm daraufhin die Leitung der Schule. Von ihm berichtet Diogenes Laertius, er habe „wenig Schriften aber sehr viele Schüler hinterlassen“;77 er war demnach stark und erfolgreich in der Lehre engagiert. Zweimal erwähnt ihn Diogenes noch im Zusammenhang der Einteilung der philosophischen Disziplinen.78 Und einem Fragment von Arius Didymus ist zu entnehmen, dass er sich in der kosmologischen Frage der periodischen Weltverbrennung (ekpyrōsis) des Urteils enthalten habe.79

Ungleich mehr ist von seinem (vermutlich wenig jüngeren) Kommilitonen, Schüler und Nachfolger Diogenes aus Seleukeia bzw. Babylon überliefert.80 Er ist bald nach 240 vor Chr. geboren und nicht lange vor 150 vor Chr. 88jährig gestorben.81 Im Jahr 156/5 nahm er, bereits hochbetagt, zusammen mit dem Akademiker Karneades und dem Peripatetiker Kritolaos an der von Athen nach Rom entsandten politischen Philosophen-Delegation teil, um dort einen Nachlass der Strafzahlung zu erreichen, die Rom Athen wegen der Plünderung von Oropos auferlegt hatte. Die drei Philosophen erregten mit ihren Reden in Rom im Senatorenkreis viel Aufsehen. Diogenes soll dort, anders als Karneades und Kritolaos, bescheiden, schmucklos und nüchtern gesprochen haben.82 Die verbliebenen Zeugnisse belegen, dass er sich intensiv mit Sprachphilosophie, Logik und Rhetorik,83 ebenso wie mit der Theorie der Wahrnehmung, sowie der Ästhetik und der psychisch-moralischen Wirkung von Musik befasst hat.84 Er argumentierte für das Herz als leitendem Zentrum der menschlichen Seele,85 räumte der astrologischen Mantik gewisse Erkenntnisse ein,86 vertrat anfangs die Lehre von der periodischen Weltverbrennung und enthielt sich später des Urteils über sie.87 Eine besondere Herausforderung stellte für ihn offensichtlich die Erklärung und Verteidigung der stoischen Ziel- und Wertlehre gegen akademische und peripatetische Angriffe und Einwände dar. Seine Bestimmung des Ziels des Lebens („Vernünftig entscheiden in der Wahl des Naturgemäßen“)88 entspricht (entgegen mancher Forschungsmeinung) durchaus stoischer ‚Orthodoxie‘. In kasuistischer Interpretation von Fragen der Versöhnung von persönlichem Nutzen und Anforderungen der Gerechtigkeit scheint er, anders als sein Nachfolger Antipater von Tarsus, nach Ciceros Darstellung eher einem Legalismus das Wort geredet zu haben.89

Diogenes hatte viele Schüler, unter ihnen, neben dem namhaften Mathematiker Dionysios von Kyrene die Philosophen Archedem aus Tarsus, Apollodor aus Seleukeia und Boethos aus Sidon. Sie zeichneten sich vor allem als Interpreten der Philosophie Chrysipps aus, die sie über Einführungen, zusammenfassende Handbücher und Spezialtraktate zu vermitteln suchten. Archedem hat in Babylon eine stoische Schule gegründet90 und besonderen Wert auf Sprachphilosophie und Dialektik gelegt. An den wenigen Testimonien zu den Schriften Apollodors91 zeigt sich am deutlichsten eine Verschulungstendenz des Philosophierens in der Nachfolge Chrysipps. Boethos von Sidon scheint sich auf erkenntnistheoretische und naturphilosophische Fragen konzentriert und in der Kosmologie durchaus eigenständig gedacht zu haben. Er verwarf die Ekpyrosislehre und lehrte die Ewigkeit des Kosmos, bezeichnete den Äther als Gott und lehnte es ab, den Kosmos selbst als belebt anzusehen.92

Nachfolger des Diogenes von Babylon in der Leitung der Stoa in Athen (um 150 vor Chr.) wurde Antipater von Tarsus. Er war der entscheidende Gegenspieler des Skeptikers Karneades und zeichnete sich dementsprechend vor allem als Dialektiker, aber auch als Ethiker aus. Cicero nennt Archedem und Antipater die principes dialecticorum.93 Mündlich war Antipater dem Karneades der Überlieferung nach nicht gewachsen; dafür bot er ihm in schriftlichen Erwiderungen und Angriffen scharfsinnig Paroli.94 Beide haben sich bei aller philosophischen Gegnerschaft geschätzt. Der alte Karneades jedenfalls war, als er vom gelassenen Suizid des hochbetagten Antipater (129 vor Chr.) erfuhr, von dessen mutiger Konsequenz tief bewegt.95 Als Dialektiker befasste Antipater sich nachweislich mit den Wortarten, mit der Definition, mit Kettenschlüssen, mit Schlüssen aus nur einer Prämisse und mit dem Wahrheitskriterium.96 Als Ethiker beschäftigte ihn vor allem die Begründung und Verhältnisbestimmung von Lebensziel, außermoralisch Wertvollem und naturgemäßer Wahl.97 Seine Formel des Lebensziels („alles in seiner Macht Liegende tun, stetig und unabweichlich, um das naturgemäß Vorgezogene zu erreichen“)98 kommt Karneades’ Einwänden zweifellos geschmeidig entgegen, vermag aber gleichwohl das stoische Kerndogma („nur das sittlich Gute ist gut“)99 zu wahren. In einen merklichen Dissens zu seinem Lehrer und Vorgänger Diogenes scheint er in individual- und sozialethischer Hinsicht getreten zu sein: Der legal mögliche persönliche Vorteil habe dem Anspruch des moralisch Rechten zu weichen; der Einzelne finde im Einsatz für die Gemeinschaft seine Erfüllung.100 Nach Julia Annas101 war Antipater dabei an den moralischen Pflichten eines vir bonus interessiert, während Diogenes die (erzwingbaren) gesetzlichen Verpflichtungen und entsprechenden Rechte verteidigte. Andrew Dyck102 scheint es allerdings durchaus zweifelhaft, ob Ciceros literarische Darstellung der Kontroverse, auf die wir uns heute stützen, überhaupt auf systematisch konträren Positionen der historischen Dialogpartner fußt. Antipater schrieb auch über die Ehe und die Wahl der Ehefrau: Man solle in der Entscheidung für einen Lebenspartner nicht auf Reichtum, auf edle Abstammung oder leibliche Schönheit bedacht sein, sondern sich auf die sittliche Qualität der Person konzentrieren.103

Sein Nachfolger in der Leitung der Schule wurde (129 vor Chr.) Panaitios, der noch bei seinem Vorgänger Diogenes und dann bei ihm studiert und ihn im Alter in vielem unterstützt hatte. Mit ihm lässt man gemeinhin die mittlere, stark nach Rom orientierte Phase der Schulgeschichte beginnen.

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